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Regieren als Dialog

Lesedauer: 4 Minuten

(Finanz und Wirtschaft – Meinungen)

Das politische System der Schweiz beruht auf einem fortwährenden Austausch zwischen Regierung und Volk. Dies stösst bei europäischen Spitzenpolitikern auf Argwohn. Ein Kommentar von Robert Nef.

«Macht braucht Schranken, auch zentrale Regierungsmacht.»

Die Regierungsfunktion ist zweigeteilt in Ausführung und Führung. Primär hat die Regierung in einem Rechtsstaat dafür zu sorgen, dass die in Verfassung und Gesetzen vorgegebenen Ziele möglichst gut erreicht werden. Darum wird sie als Exekutive bezeichnet, als ausführende Gewalt. Innerhalb dieser Vorgaben gibt es aber Spielräume und unvorhersehbare Herausforderungen, die politische Entscheidungen notwendig machen. In der halbdirekten Demokratie hat die Regierung auch das Recht, ihre innerhalb der Regierung durch Mehrheitsentscheid gefällten Beschlüsse und Empfehlungen öffentlich zu begründen und zu verteidigen. Eine eigentliche Regierungspropaganda widerspricht aber der verfassungsmässig beschränkten Exekutivgewalt.

Wenn heute in vielen Medien erwartet wird, dass der Bundesrat in der Frage des Rahmenvertrags mit der EU eine aktiv führende aussenpolitische Rolle spielen solle, wird übersehen, dass nach der Bundesverfassung auch die Grundentscheidungen der Aussenpolitik an der Urne gefällt werden. Bei politischen Grundfragen, die als Weichenstellung für die Zukunft des Landes gelten, hat nicht die Regierung den Regierten vorzuschreiben, was und wie sie zu entscheiden haben, sondern umgekehrt.

Eine breit abgestützte Vernehmlassung in Grundsatzfragen entspricht also unserem System, das sich von anderen europäischen Systemen unterscheidet. In der parlamentarischen Demokratie nimmt die Regierung ihre Richtlinienkompetenz wahr, und sie hat dazu freie Hand, es sei denn, sie werde durch Misstrauensvoten im Parlament oder durch Neuwahlen abberufen. Anders in der Schweiz. Die Konkordanzregierung, in der alle grösseren Parteien vertreten sind, geniesst die Mischung von Vertrauen und Misstrauen, die mit jeder Handhabung politischer Macht verknüpft ist. Regieren ist aus freiheitlicher Sicht ein politischer Prozess, in dem die Regierenden dauernd mit der politischen Anklage des Machtmissbrauchs konfrontiert sind.

«Schuldvermutung»

Ausgangspunkt ist das Verbot der Willkür in der Amtsausübung und zugleich das Eingeständnis, dass auch bei jeder Auslegung und Anwendung von Normen und Vereinbarungen eine gewisse Willkür unvermeidlich ist. Es gilt diesbezüglich so etwas wie eine generelle «Schuldvermutung». Die Regierenden tragen aus dieser Sicht bei all ihren Entscheidungen, Massnahmen und Unterlassungen die Beweislast, dass sie rechtmässig handeln. Bei den Regierten, den Bürgerinnen und Bürgern, ist dies genau umgekehrt: Dort gilt eine grundsätzliche Unschuldsvermutung bzw. eine Vermutung zugunsten der Freiheit. Sie dürfen in allen Bereichen, die nicht ausdrücklich verboten sind, irren und Fehler machen.

Auch Regierende sind irrtums- und fehleranfällige Menschen, die gegen geltendes Recht verstossen und ihr Amt willkürlich ausüben können, in der Exekutiven wie auch in anderen Gewalten, die Regierungsgewalt ausüben oder legitimieren. Sie stehen aber als Amtsträger in einer besonderen Verantwortung, die sowohl die liberal-rechtsstaatliche Freiheitsvermutung als auch die Unschuldsvermutung zu ihren Ungunsten umkehrt. Die Beweislast ist daher im politischen Prozess für Regierte und Regierende unterschiedlich verteilt. Inwiefern man als Regierter zur sozialen Genossenschaft mit andern oder zur politischen Gefolgschaft gegenüber einer Obrigkeit gezwungen werden kann, bedarf einer ausdrücklichen verfassungsrechtlichen Grundlage. In einem Rechtsstaat stehen nicht die Verwalteten als Staatsklienten und -konsumenten in einem «besonderen Gewaltverhältnis», sondern die Regierenden.

Das ist der Unterschied zwischen freiheitlichen und totalitären Regimes: In freiheitlichen Gemeinwesen misstrauen die Regierten legitimerweise den Regierenden und kontrollieren und kritisieren sie beharrlich. Es besteht, mindestens periodisch, die Möglichkeit einer mehrheitsgestützten Abwahl als Zeichen ultimativen Misstrauens.

Machterhalt durch Popularität war bisher stets nur «auf Zeit» möglich

In totalitären Regimes ist dies umgekehrt. Dort misstrauen die Regierenden den Regierten und stabilisieren ihre Macht durch Regierungsmedien, durch ein immer dichteres Netz von Verboten und Kontrollen und durch das mehr oder weniger sanfte Abhängigmachen im gleichzeitig umverteilenden, überwachenden und bevormundenden Daseinsvorsorgestaat. Politik wird dann zum permanenten Ringen der Regierenden um den Machterhalt. Sie geniessen nicht nur Macht und Ansehen, sondern sind auch ökonomisch vom Staat abhängig und kämpfen damit um ihre Pfründen.

Mit einer subtilen und populären Mischung von Eingriffen und Leistungsangeboten wollen sie als Regierende das Vertrauen der Mehrheit der Regierten erhalten und stabilisieren. Politik, so wird behauptet, hat sich früher am Gemeinwohl orientiert und tendiert heute immer mehr dazu, eine jeweils mehrheitsfähige Koalition von Sonderbedürfnissen zu bedienen. Der heute fast regelmässig von allen Seiten erhobene Vorwurf, die Politik werde immer populistischer, ist berechtigt. Man sollte dabei lediglich gegenüber den gegenwärtig Regierenden keine Ausnahme machen. Jede Machterhaltungspolitik ist auf eine gewisse Portion an Populismus angewiesen, aber das, was staatsgestützte Medien an Meinungen verbreiten, gilt eben als objektive Information und nicht als populistische Regierungspropaganda.

Machterhalt durch Popularität war bisher stets nur «auf Zeit» möglich. Der totalitäre Daseinsvorsorgestaat hat sich weltweit noch nicht durchgesetzt, und er hat – längerfristig gesehen – auch schlechte Chancen. In jedem Neugeborenen steckt eine individuelle Genkombination, die sowohl auf Anpassung als auch auf Widerstand angelegt ist. Keine Familie bzw. keine Familienkonstellation gleicht der andern. Dies gilt weltweit und kulturübergreifend. Die restlos befriedigende und harmonische Kleingruppe gibt es nicht, und es gab sie auch nie, wie dies viele innerfamiliäre, und allgemein historische Überlieferungen bestätigen. Auch viele Mythen und Märchen bezeugen die Dialektik von Anpassung und Widerstand zwischen Generationen und innerhalb von Generationen.

Staatsmacht braucht Schranken

Ein politisch totalitärer Staatskapitalismus nach chinesischem Modell kann vielleicht das nach Jahrtausenden des Feudalismus und nach Jahrzehnten des Kommunismus immer noch niedrige Wohlstandsniveau aller Chinesen noch deutlich anheben und damit seine Macht temporär intern legitimieren und extern stabilisieren und ausbauen. Sobald sich aber ein gewisser materieller Wohlstand einmal etabliert hat, wird die Differenziertheit der materiellen und der immateriellen und individuellen Bedürfnisse innenpolitisch zunehmen und zu mehr Diversität und zu mehr Kritik gegenüber jeder etatistischen und egalitären Totalkontrolle ermutigen.

Das «Grundgefühl» der Regierten gegenüber den Regierenden beruht nicht auf einem blinden Vertrauensvorschuss, sondern auf der kritischen Beobachtung im Hinblick auf den Missbrauch anvertrauter oder angemasster Macht. Macht braucht Schranken, auch zentrale Regierungsmacht. Dies ist die Frucht jahrtausendealter menschheitsgeschichtlicher Erfahrungen im Umgang mit Macht. Der britische Philosoph Lord Acton hat dies treffend zum Ausdruck gebracht mit seiner Feststellung, dass Macht korrumpiert und absolute Macht absolut korrumpiert. Die Schweiz ist mit ihrem institutionalisierten Misstrauen gegenüber der politischen Macht nicht rückständig. Ihr Regierungssystem, das einen permanenten Dialog der Regierung mit den Regierten voraussetzt, wird aber europaweit von allen politischen und wirtschaftspolitischen Machthabern mit grossem Argwohn beobachtet und beurteilt. Das sollte uns nicht irritieren.

Zum Autor
Robert Nef ist Stiftungsratsmitglied des Liberalen Instituts Zürich.

Quelle: https://www.fuw.ch/article/regieren-als-dialog/

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