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Zentralismus: Nicht der Euro, die Sozialunion ist das Problem

Lesedauer: 4 Minuten

(Eigentümlich frei)

Über Einwanderung, Wohlfahrtsstaat und immer weniger Meinungsfreiheit

Das Paradox eines europäischen Binnenmarktes kommt in der EU-Migrationspolitik klar zum Ausdruck. Die migrationsfreundliche Öffnung der Binnengrenzen ruft nach einer migrationsfeindlichen Abwehr an den Außengrenzen, was in der EU zur Vollzugskrise bei der Durchsetzung des Dubliner Abkommens geführt hat.

Einwanderung und Binnenwanderung sind eine Frage des Maßes. Je offener die Arbeitsmärkte sind, desto besser gelingt schon in der zweiten Generation die Integration. Viel schwerer wiegt das ungelöste Problem der „auf Pump“ bei der nächsten Generation prekär abgestützten staatlichen Altersvorsorge in Kombination mit einer zunehmend auf Verschuldung basierenden staatlichen Gesundheits- und Bildungspolitik, die ohne Rationierung zum „Fass ohne Boden“ werden. Viele nationale Staatschefs Europas sind nur darum so dezidiert „pro EU“, weil sie damit von den immer weniger lösbaren Problemen ihrer nationalen Umverteilungspolitik ablenken können. Politik ist oft das Hinausschieben von Problemen auf die politischen Nachfolger oder auf eine übergeordnete zentralere Instanz. Je größer und unübersichtlicher der territoriale Rahmen, desto leichter ist die Verwischung und Vertuschung von politischen Verantwortlichkeiten.

Das müsste eigentlich auch den heute vorherrschenden EU-Sozialdemokraten aller Parteien klar sein: Nicht das „Projekt Euro“, sondern das Projekt „EU-Wohlfahrtsstaat“ ist die entscheidende Fehlkonstruktion. Mit den Mängeln einer Währungsunion hat dies nur indirekt zu tun. Man schlägt den „Sack“ Euro und meint den „Esel“ Daseinsvorsorgestaat. Umverteilungspolitik ist nur möglich, wenn die Gebietskörperschaften, die sie praktizieren, relativ klein sind, in einem Wettbewerb stehen und über Zutrittsschranken und Austrittsoptionen verfügen. Dann können sie gar nicht in jenen „sozialistischen Himmel“ wachsen, der wegen mangelnder Produktivität ökonomisch ohnehin früher oder später zusammenbricht.

Politische Umverteilungssysteme werden durch das Mehrheitsprinzip korrumpiert, sobald eine Mehrheit zulasten von Minderheiten lebt. Es sei denn, es gelänge, jenen politischen Konsens zu finden, der die zwangsweise Umverteilung auf ein ökonomisch allerseits nachhaltig tragbares Maß reduziert. Dieses Maß ist, zu schweigen von Deutschland, selbst in der Schweiz bereits überschritten, aber es gibt zu wenige Politiker und auch zu wenige Wissenschaftler und Publizisten, die auf diese durchaus unpopuläre Tatsache aufmerksam machen.

Personenfreizügigkeit ist keine Voraussetzung für offene Märkte. Dies war die Quintessenz einer Studie des Thinktanks Bruegel zum Thema „Europe after Brexit“, an der auch der CDU-Politiker Norbert Röttgen, Vorsitzender des Auswärtigen Ausschusses des Deutschen Bundestages, mitgewirkt hat. Die Studie machte schon vor dem Brexit den konstruktiven Vorschlag, England und der Schweiz freien Zugang zum EU-Binnenmarkt zu gewähren – ohne die volle Personenfreizügigkeit zu verlangen. Für Röttgen ist die Personenfreizügigkeit ein politisches Projekt, das mit dem ökonomischen Projekt eines Binnenmarktes nicht direkt verknüpft werden sollte.

Interessant ist, dass der 1848 gegründete Bundesstaat Schweiz in den ersten 100 Jahren seines Bestehens auch nur eine beschränkte Personenfreizügigkeit kannte. „Armengenössige“ (heute: Sozialhilfebezieher) wurden in ihre Heimatgemeinde zurückgeschickt, und niemand sah darin eine Verletzung von Bürgerrechten oder gar von Menschenrechten. Dass die Freiheitsrechte keinen verfassungsrechtlichen Anspruch auf staatliche Leistungen begründen, war damals noch unbestritten. Diese Beschränkung des Freizügigkeitsprinzips wäre auch für die ersten 100 Jahre eines europäischen Staatenverbundes ein sehr empfehlenswertes Konzept.

Die Schweiz von 1848 war ähnlich heterogen wie heute ganz Europa. Die Unterschiede bei den Löhnen, beim Lebensstandard und bei den Lebenskosten waren enorm. Warum hat die nationale bundesstaatliche Integration in der Schweiz trotz dieser großen wirtschaftlichen, sozialen und kulturellen Vielfalt und trotz der Mehrsprachigkeit funktioniert? Ein relativ freier Arbeitsmarkt und ein intakter Steuerwettbewerb bestärkten gleichzeitig zentralisierende und dezentralisierende Tendenzen und durchmischten die Schweiz ohne überstürzte Identitätsverluste und Entwurzelungen. Zudem hat natürlich der massive Druck von außen, dem die Schweiz während der Weltkriege ausgesetzt war, den für einen Integrationsprozess wichtigen inneren Zusammenhalt gefördert.

Die Kritik am Euro ist in Deutschland „politisch korrekter“ als die grundsätzliche Kritik an der EU, die schnell einmal als Ausdruck der Rückschrittlichkeit oder gar des Nationalismus abgetan wird. Allein schon die Vermutung, dass auch die EU ein veraltetes, freiheitsfeindliches und dem kollektivistischen Ungeist des 20. Jahrhunderts verhaftet gebliebenes Projekt sein könnte, weckt tiefes Misstrauen.

Die „Europa-Idee“ ist unmittelbar nach dem Zweiten Weltkrieg und mitten im Kalten Krieg lanciert und propagiert worden. Sie beruht historisch gesehen auf einem antiglobalistischen, europäischen Kartell der Kohle- und Stahlproduzenten. Für die Gründerväter der Europäischen Gemeinschaft stand nicht die liberale Idee einer weltweiten handelspolitischen Öffnung im Vordergrund, sondern eine eigenständige Wirtschaftsmacht zwischen den USA und dem damals von der Sowjetunion dominierten Ostblock und jenen Ländern, die man „Dritte Welt“ nannte. Es bestand damals das Bedürfnis, die im Krieg gegenseitig zerstörte korporatistische und merkantilistische nationale Wirtschaftspolitik auf einer kontinentalen Ebene neu aufzubauen und die durch den Krieg notwendig gewordene, auf massiver progressiver Besteuerung beruhende Sozialpolitik weiterzuführen. Wirtschafts- und sozialpolitisch peilte man einen „dritten Weg“ an, der die angeblichen Vorteile des Sozialismus mit einer „politisch gezähmten“ Marktwirtschaft verknüpfte.

Dieses Projekt ist im Kern veraltet. Die Geopolitik und die globalen Märkte stehen heute in einem veränderten Kräftefeld, das die Idee einer kontinentalen Abschottung und eines wirtschafts- und sozialpolitischen Sonderweges grundsätzlich in Frage stellt. Die Herausforderungen der Globalisierung sind auch in Europa von Nationalstaat zu Nationalstaat verschieden. Sie sind so komplex, dass sie nicht zentral gesteuert und koordiniert werden können.

Zahlreiche Probleme, die mit der „Fehlkonstruktion EU“ zusammenhängen, werden in Deutschland auf die überstürzte Einführung einer gemeinsamen Währung zurückgeführt. Man hofft, eine Rückkehr zu nationalen Währungen könnte notfalls jene Spannungen lösen, die mit einer überrissenen Zentralisierung und zwangsweisen Harmonisierung sämtlicher Lebensverhältnisse zusammenhängen. Das ist nicht ganz falsch, aber doch unzulässig vereinfacht. Möglicherweise sind es gar nicht die unterschiedlichen ökonomischen Voraussetzungen und strukturellen Ungleichheiten, die den Euro gefährden und in Frage stellen, sondern die unterschiedlich fehlorganisierten und zentralisierten Wohlfahrts- und Umverteilungssysteme, die mit der gleichzeitig postulierten Freizügigkeit letztlich inkompatibel sind.

Schon Milton Friedman hat auf die Unvereinbarkeit von freier Immigration und Wohlfahrtsstaat aufmerksam gemacht, weil sie falsche Anreize für Migranten schafft, die einseitig zulasten der Einheimischen gehen. Es ist nicht nur innenpolitisch, sondern auch finanzpolitisch unmöglich, gleichzeitig eine internationale Willkommenskultur zu pflegen und großzügige Sozialleistungen als allgemeinen menschenrechtlichen Anspruch in Aussicht zu stellen. Eine kombinierte Konsens- und Finanzkrise ist aus dieser Sicht unausweichlich, und es ist nur zu hoffen, dass sie nicht überall gleichzeitig ausbricht.

Das Ausweichen vor dem langfristig Unausweichlichen ist eine tagespolitische Taktik, die politisch bei allen Parteien, aber vor allem bei jenen, die Mehrheitskoalitionen bilden, sehr beliebt ist. Man nennt dann diejenigen, die unbequeme Fragen stellen, „Populisten“ und bezeichnet sich selbst als „Koalition der Vernunft“. Es gibt aber auch einen Populismus des gezielten Ausweichens und Verschweigens langfristiger Probleme. Er basiert auf dem Opportunismus einer permanenten Anpassung an die „vorherrschende Meinung“, an das, was in den massendemokratischen Medien als „politisch korrekt“ kommuniziert wird. Dies führt dazu, dass jene Individuen und Gruppierungen, die unbequeme Fragen stellen und schmerzhafte Antworten geben und damit auch jene Impulse vermitteln, die gemeinsame Lernprozesse ermöglichen und vorantreiben, als Außenseiter und Abweichler ausgegrenzt werden.

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