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Allgemeine Wehrpflicht und Demokratie

Lesedauer: 5 Minuten


(ASMZ : Sicherheit Schweiz : Allgemeine schweizerische Armeezeitschrift – Heft 3, 2019 – Seite 12-13)

Sicherheitspolitik

Militärdienst verlangt die Bereitschaft zu gehorchen, die Bereitschaft, sein Leben für das Gemeinwesen zu opfern und die Bereitschaft zu töten. Eine reine Verteidigungsarmee dient zwar dem Frieden, aber sie ist und bleibt ein Instrument der Gewaltanwendung. Diese Tatsachen sollten weder verharmlost noch beschönigt werden. Sie werfen viele grundlegende ethische und politische Fragen auf. Eine der schwierigsten Entscheidungen betrifft die Einstellung zum Obligatorium im Rahmen einer Allgemeinen Wehrpflicht.

Robert Nef

Die Allgemeine Wehrpflicht (englisch «conscription») wird nicht nur von Pazifisten, sondern auch von Staats- und zwangsskeptischen Libertären grundsätzlich infrage gestellt. Sie ist in den USA aufgrund dieser Koalition abgeschafft worden. Aus libertärer Sicht ist «conscription» die einschneidendste und grausamste Form der Besteuerung, weil der Staat effektiv nicht nur aufEinkommen und Vermögen, sondern auf die eigene Lebenszeit und — im Kriegsfall – aufdas eigene Blut zwangsweise zugreift. Der Staat verlangt vom Wehrmann die grundsätzliche Bereitschaft zu töten und getötet zu werden und sich diesbezüglich einer Befehlsmaschinerie unterzuordnen. Die grösstmögliche Zumutung ist das Töten müssen, weil es gegen das fundamentale Gebot «Du sollst nicht töten» verstösst und auch einer natürlichen und sozio-kulturellen Aggressionshemmung entgegensteht. Sterben müssen im Krieg auch Zivilpersonen, und möglicherweise ist es in einem modernen Krieg sogar riskanter, Zivilist zu sein als Soldat. Dass eine diesbezügliche Zwangsverpflichtung schwer wiegt, ist nicht zu bestreiten. Aber, so lautet die entscheidende Gegenfrage: Wenn diese Zumutung des Gemeinwesens gegenüber dem Individuum derart einschneidend ist, darf sie dann wirklich freiwillig sein?

Freiwilligkeit?

Daraus folgt eine ganze Kaskade von Grundsatzfragen: Kann man die Zumutung, andere im Auftrag des Gemeinwesens töten zu müssen, tragen, wenn sie nicht gleichmässig auf alle (mit begründeten Ausnahmen, z.B. für Frauen) verteilt ist? Darfman sich freiwillig dazu melden, und wären jene, die sich dazu freiwillig melden, wirklich geeignet, die anspruchsvolle Aufgabe verantwortungsbewusst zu erfüllen? Sollen nur jene, denen das «Töten müssen gegen Geld» nichts ausmacht, in eine Armee einberufen werden? Wird eine solche Armee nicht auch innenpolitisch zum gefährlichen Instrument?

Landsgemeinde: der Säbel als Stimmrechtsausweis. Bild: hd.fiickr

Es ist wichtig, dass das letzte Machtinstrument des Staates auch jene einbezieht, die gegenüber dieser Macht kritisch sind. Ich wurde als Hauptmann von einem kritischen Soldaten darauf aufmerksam gemacht, dass man ja im Krieg auch einmal auf eigene Vorgesetzte schiessen könnte. Nur müsse man den richtigen Moment erwischen und dann treffen. Das ist die faktische Grenze der Befehlsmacht. Es geht hier um das Pendant zum Notrecht des Vorgesetzten, seine Befehlsgewalt mit der Waffe durchzusetzen. Waffen sind polyvalent einsetzbar und der dezentralisierte Waffenbesitz ist eine wesentliche, grundsätzliche Komponente der politischen Machtkontrolle, die man heute leider vielerorts unterschätzt.

Wehrpflicht

Im Zusammenhang mit der Wehrpflicht gibt es auch für Befürworter ethische Gesichtspunkte. Es geht um eine Ethik des gegenseitig Zumutbaren, die irgendwo an die Grenze der Freiwilligkeit (die ein hoher Wert ist) stösst, sowie um eine Ethik der kollektiven Schuld- und Verantwortungsteilung.

Darauf lässt sich folgender Entscheid abstützen: Ja, ich mache den potenziell blutigen Job als «Wehrmann» und auch als Offizier im Dienst des Gemeinwesens, aber ich will dazu gezwungen sein, und es soll sich niemand ohne gute Gründe davor «drücken» können. Diese Grundhaltung ist wahrscheinlich kommunitaristisch, aber sie macht auch für jene Freunde der individuellen Freiheit Sinn, die jede Art von Trittbrettfahren ablehnen. Die Wehrpflicht schafft eine Gemeinschaft von potenziell Schuldigen (das heisst der Tötungsbereiten und zumTöten Ausgebildeten), die aber im Interesse aller und im Hinblick auf höhere gemeinsame Ziele die potenzielle Schuld gegebenenfalls auf sich nehmen. Darum soll diese Schuld mit allen andern (die eine gleiche Ausgangsposition haben) zwingend geteilt werden. Gemildert wird die Zumutung durch die Formel «Kämpfen können, um nicht kämpfen zu müssen». Wirksame Verteidigungsbereitschaft garantiert zwar keine Vermeidung von gewaltsamen Besetzungen, sie hat aber doch auch eine präventive Komponente.

Interessant ist die Geschichte der allgemeinen Wehrpflicht, die nicht erst mit der Französischen Revolution und mit der Demokratisierung der Sicherheitsproduktion begonnen hat. Im Altertum gab es bei den Griechen und bei den Römern eine Allgemeine Wehrpflicht, die allerdings viele Ausnahmen zuliess und schliesslich durch Söldnerheere abgelöst wurde. Dieses Abschieben der Verantwortung für die Selbstverteidigung hat einiges zum Untergang Westroms beigetragen. Man kann Eindringlinge nicht wirksam mit Söldnern und Freiwilligen abwehren. Aristoteles war bekanntlich gegenüber der Demokratie grundsätzlich skeptisch eingestellt. In einem Fall, nämlich beim Recht auf Kriegserklärung, fand er es aber sinnvoll, jene zu befragen, die als wehrpflichtige Bewaffnete die Hauptlast des Krieges zu tragen hatten. Die politische Praxis hat diese Idee leider nirgends klar umgesetzt. Wie viele Kriege durch diese weise Politikempfehlung hätten vermieden werden können, bleibt offen. Sicher nicht alle, aber doch eine grössere Zahl.

Wehrpflicht und Wahlrecht

Die Allgemeine Wehrpflicht hat auch eine innere Symmetrie zum allgemeinen Wahlrecht, das heisst zu einer Verteilung von Rechten und Pflichten, und eine wei¬ tere, vielleicht noch fundamentalere, mit dem Recht auf Selbstbewaffnung. Das Recht, an der Beteiligung zur kollektiven Willensbildung hängt mit der Pflicht zusammen, im Bedrohungsfall für dieses Recht zu kämpfen. Der «Ausweis für die Stimmberechtigung» war an den Landsgemeinden während Jahrhunderten die persönliche Waffe. Wer nicht bereit war zu kämpfen, sollte auch nicht mitbestimmen dürfen. Das Recht auf Waffenbesitz und das Recht auf Mitbestimmung war und ist mit der Wehrpflicht untrennbar verknüpft.

Aus dieser Sicht macht es Sinn, dass der «Clubbeitrag» in einem Club, der sich kollektiv für höchste Güter wie Leib und Leben wehrt, auch auf denselben höchsten persönlichen und unbezahlbaren Gütern basiert.

Das Argument einer Symmetrie von fundamentalen Rechten und Pflichten gilt auch nach der Einführung des Erwachsenstimmrechts, denn es gibt rationale Gründe, bestimmte Bevölkerungsgruppen vom Waffendienst generell zu dispensieren. Ob und inwiefern es angesichts des allgemeinen Stimm- und Wahlrechts auch so etwas wie eine Erwachsenenwehrpflicht geben sollte, die auch Frauen einbezieht, bleibt eine offene Frage. Es gibt aber gute, nicht ausschliesslich auftraditionellen Werten beruhende Gründe, die Frauen generell vom obligatorischen Dienst mit der Waffe zu dispensieren.

Die hier nur skizzierten Überlegungen zur Allgemeinen Wehrpflicht sind eher eine Traktandenliste im Hinblick auf eine Grundsatzdiskussion als ein Katalog für definitive Lösungen. Sie zeigen aber, dass es hier tatsächlich um ethische Grundfragen geht, die weit über die Tagespolitik hinausreichen. Der Zusammenhang zwischen einer demokratisch selbstbestimmten Sicherheitspolitik mit der Allgemeinen Wehrpflicht und dem allgemeinen Recht auf freien Waffenbesitz ist fundamentaler als es auf den ersten Blick erscheint.


Oberstlt
Robert Nef
lic. iur.
9000 St.Gallen

ASMZ – Heft 3, 2019 – Seite 12-13

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