(Weltwoche / Geschichte)
Das Erfolgsgeheimnis der Bundesverfassung von 1848 liegt in ihrer Bescheidenheit. Die Geburt der neuen Schweiz wurde durch einen kleinbürgerlich-kleinbäuerlichen Geist getragen, der alle Revolutionen, ideologischen und religiösen Rechthabereien satt hatte.
Die Verfassung von 1848 ist ein Kompromiss zwischen radikalen Katholikenhassern, egalitären Demokraten, zentralistischen Liberalen, aufgeklärten Patrioten, gemässigten Traditionalisten und liberalen Katholiken, ein «Treffpunkt», der damals weder die kompromisslosen Fortschrittsfreunde noch die Bewahrer eidgenössischer Tugenden zu begeistern vermochte. Es ist eigentlich ein Wunder, dass sie dank der von Pirmin Meier in seinem Beitrag «Schweiz 1848: Demokratie für den Werktag» (Weltwoche Nr. 32/18) genannten Unregelmässigkeiten – gewissermassen als politisch «kleinster gemeinsamer Nenner» – knapp angenommen wurde. Sie verdient weder politisch noch verfassungsrechtlich einen Schönheitspreis. Der Vorschlag, das Datum ihrer Annahme anstelle des seit 1891 traditionellen 1. August zum Nationalfeiertag zu erklären, ist eine schlechte Idee.
Die bis heute in den Grundzügen geltende 1848er Verfassung ist kein «Siegerdiktat» der Anti-Sonderbunds-Koalition. Sie ist auf dem komplexen ideologischen «Kompost» der politischen Lern-, Experimentier- und Entscheidungsjahre 1798–1847 gewachsen: Helvetik, Mediation, konservative Restauration, liberal-demokratische Regeneration, Sonderbundskrieg. In dieser Phase entstand – neben den kämpferischen Ideologen – auf beiden Seiten eine neue, breitere Schicht von wertkonservativen «bürgerlich Vernünftigen», die vor allem ein friedliches Leben anstrebten und «das Recht, in Ruhe gelassen zu werden» forderten, ein durchaus unheroisches, biedermeierliches Ideal, das aber eine freiheitsfreundliche Komponente hat: Die Geburt der neuen Schweiz wurde durch einen kleinbürgerlich-kleinbäuerlichen Geist getragen, der alle Revolutionen, ideologischen und religiösen Rechthabereien satt hatte.
«Lob des Non-Zentralismus»
Friedrich Dürrenmatt hat das in seinem letzten, oft missverstandenen Vortrag treffend charakterisiert: Dieser gipfelt in der kurzen Geschichte, dass Odysseus, der exemplarisch vielgeprüfte antike Held, bei der Wahl eines neuen, zweiten Lebens für dasjenige eines unbekannten Durchschnittsmenschen in einem friedlichen Land optierte. Dürrenmatt denkt dabei an die Schweiz. Sie wird zwar von ihm zuvor satirisch, wie jedes andere Land, als «Gefängnis» (der jeweiligen Notwendigkeiten) gedeutet, zeichnet sich aber dadurch aus, dass jeder Insasse in seiner Rolle als Aktivbürger einen Schlüssel hat.
Der Autor dieses Artikels hat das relativ erfolgreiche «Experiment Schweiz» (man sollte es nicht «Modell» nennen) in einer kleinen Schrift mit dem Titel «Lob des Non-Zentralismus» beschrieben. Sie ist 2002 in Deutschland publiziert und dort vor allem von den (relativ dünn gesäten) Liberalen gern gelesen worden. Es gibt eine englische und sogar eine russische Übersetzung. In der Schweiz wurde die Schrift mehr oder weniger ignoriert. Die Schlussfolgerungen des vorliegenden Artikels basieren auf diesem immer noch aktuellen Text.
Zu den Gründervätern der 1848er Schweiz gehört sicher auch General Henri Dufour, der Oberbefehlshaber der eidgenössischen Truppen, die den Sonderbund zu bekämpfen hatten. Sein Tagesbefehl vor dem Angriff auf Luzern ist ein humanitäres, militärisch-politisches Meisterwerk, das in der blutigen Weltgeschichte der Kriege und Bürgerkriege seinesgleichen sucht. Hier ein Ausschnitt aus dem bemerkenswerten Dokument: «Zerstört nichts ohne Not, verschleudert nichts; mit einem Worte betragt euch so, dass ihr euch stets Achtung erwerbet und euch stets des Namens, den ihr traget, würdig zeiget» (Armeebefehl vom 22. November 1847). Eigentlich war er ja als liberal-konservativer Genfer ein Föderalist (im schweizerischen Sinn) und hatte auch darum jene Sympathien für «die andere Seite», die für das friedliche politische Zusammenleben (vor allem nach einem Bürgerkrieg) konstitutiv sind.
Amerika fehlte der Mut
Die Bundesverfassung von 1848 hat das Zweikammersystem von der amerikanischen Verfassung übernommen. Ein historisch fundierter Vergleich der beiden Verfassungen der Sister Republics USA und Schweiz ginge wohl zugunsten der komplexeren und anpassungsfähigeren schweizerischen Bundesverfassung aus. Die USA sind heute de facto zentralstaatlicher als die Schweiz, wahrscheinlich wegen der in den Weltkriegen gestärkten Vormachtstellung des Präsidenten und wegen des Supreme Court. Nach der Amerikanischen Revolution fehlte der Mut, auf ein Staatsoberhaupt ganz zu verzichten und die Regierungsfunktion einem von Parlament und Volk kontrollierten Kollegium anzuvertrauen. So funktioniert der amerikanische Präsident als ein vom Volk gewählter «Monarch auf Zeit», der oft mehr in seine Wiederwahl investiert als in das Wohl des Landes.
Demokratische Verfassungen, das hat schon Aristoteles festgestellt, tendieren zu einer Erosion ihrer freiheitlichen Grundgedanken und unterliegen einem «historischen Verfallsprozess», der allerdings mehrere Generationen dauern kann. In den USA manifestiert sich dies heute bei der grössten verfassungsrechtlichen Schwachstelle: beim grundsätzlich fragwürdigen Verfahren der Präsidentenwahl. Diese war schon immer ein riskantes Experiment mit verschiedenen Spielarten des Populismus. Das Mehrheitsprinzip tendiert dazu, das Freiheitsprinzip auszuhöhlen, und führt schrittweise zu einem auf nationaler Ebene zentralisierten korporatistischen Begünstigungsregime. Eine Umkehr dieses Trends ist nur möglich, wenn es zu grundlegenden Reformen kommt, die umso friedlicher stattfinden können, je non-zentraler und kleinräumiger sie erfolgen.
Mit dem schweizerischen Bundesstaat von 1848 wurde ein Kompromiss zwischen Zentralismus und Partikularismus geschlossen. Das zentralistische Element, das von den liberalen Siegerparteien verfochten wurde, war institutionell schwach, aber politisch bei der Parlamentsmehrheit populär. Faktisch bestand die Schweiz jedoch aus relativ gut funktionierenden non-zentralen und äusserst dürftigen zentralen Strukturen. Das Bundesbudget und die Bundesverwaltung waren – im europäischen Vergleich – sehr klein, machtlos. Der schweizerische Bundesstaat startete mit extrem leichtem Gepäck, das heisst mit einem minimalen Apparat von weniger als einem Dutzend professionellen Beamten, ohne direkte und indirekte Bundessteuern und mit einem Minimalbudget, das sich nur auf Zölle stützte.
Erfolgreiches Laisser-faire
Das Erfolgsgeheimnis des jungen Bundesstaates bestand in der Chance, tatsächlich als Minimalstaat anzufangen, auf der Basis einer hohen kantonalen und lokalen Autonomie und mit funktionierenden politischen Mikrostrukturen, die allerdings gerade auf lokaler Ebene mehr paternalistisch als demokratisch waren. Diese Strukturen entsprangen nicht einem gemeinsamen Willen zum «lean government» sondern der Tatsache, dass für alles andere schlicht und einfach die Mittel fehlten: kein Geld in der öffentlichen Kasse, keine Beamten, keine zentrale Bürokratie. Das Richtige wurde getan, weil die finanziellen und personellen Mittel nicht vorhanden waren, um das Falsche zu tun. In der schwachentwickelten bundesstaatlichen Zentrale herrschte aufgrund des nicht professionalisierten Milizprinzips eine Mischung aus Improvisation und Konfusion, ein Laisser-faire, bei dem beispielsweise der zentrale Zolltarif mangels entsprechender Fachleute nicht von Beamten, sondern von der Wirtschaft selbst formuliert werden musste (und darum wohl auch entsprechend wirtschaftsfreundlich ausgestattet war).
Die Schweiz des 19. Jahrhunderts war fortschrittlich, weil ihr politisches System – gemessen an den damaligen Kriterien – besonders rückschrittlich war. Das Subsidiaritätsprinzip funktionierte, weil private, lokale und kantonale Strukturen tatsächlich personell und finanziell besser in der Lage waren, öffentliche Aufgaben wahrzunehmen, als die chronisch unterdotierte Zentralverwaltung. Dies war der Hauptgrund für die Absenz jener Wirtschaftspolitik, die mit nationalökonomischen Vorwänden zugunsten der Einflussreichen und Mächtigen interveniert und damit Strukturen konserviert und die spontanen Kräfte eines Aufschwungs hemmt und lahmlegt. Staatliche Neugründungen bieten offensichtlich auch der Wirtschaft gute Startchancen, aber weniger wegen der Qualität ihrer Strukturen, sondern wegen des rudimentären zentralen Staatsapparats und wegen der in einer Startphase limitierten Möglichkeit fiskalischer Ausbeutung.
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Robert Nef ist Publizist und Mitglied des Stiftungsrates des Liberalen Instituts. Er lebt in St. Gallen.