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Ohne Haben kein Geben

Lesedauer: 5 Minuten

(NZZ – FEUILLETON – Montag, 2. Juli 2018, Seite 28)

Vom glücksstiftenden Wert des Eigentums: Ein Nachwort zum Marx-Jubiläum

ROBERT NEF

Die Frage nach dem Privateigentum und seiner Verknüpfung mit Familie und Erbe ist die politische Grundfrage schlechthin. Man kann das Eigentum – mit John Locke – als tragende Säule einer zivilisierten und arbeitsteiligen Gesellschaft und Wirtschaft verstehen. Ohne Eigentum weder Frieden noch Wohlstand. Oder man kann in ihm – mit Jean-Jacques Rousseau – die «Erbsünde» sehen, d. h. den Ursprung allen Übels für das friedliche Zusammenleben unter Menschen.

An der Lektüre von Karl Marx kommt man als Befürworter von Privateigentum und offenen Märkten nicht vorbei. Zahlreiche politische Postulate der Sozialisten sind heute im Rahmen der real existierenden, gemischt marktwirtschaftlich-wohlfahrtsstaatlichen Politordnungen mit einer Staatsquote von 50 Prozent erfüllt – das treffende Wort hierfür stammt von Ludwig von Mises und heisst «Halbsozialismus». Marx jedoch sah den auf Umverteilung basierenden Sozialismus lediglich als Zwischenstation zum Kommunismus in einer klassenlosen Gesellschaft, in der alle nach ihren Bedürfnissen ohne staatliche Herrschaft zusammenleben.

Tugend des Gebens

Je nach Vorverständnis geht es beim Thema Privateigentum um eine Art Beweislastverteilung im verfassungspolitischen Prozess. Die einen betrachten es als Fluch, den es in politisch gesetzten Schranken allenfalls gerade noch zu dulden gilt (frei nach dem deutschen Grundgesetz: «Eigentum verpflichtet. Sein Gebrauch soll zugleich dem Wohle der Allgemeinheit dienen»). Die andern erkennen darin eine freiheitliche Schranke jeder Politik und eine Chance und Ausgangsbasis jenes Friedens, der durch Tausch unter Fremden und Vererbung in Familien immer wieder mobilisiert und stabilisiert wird. Aus dieser Sicht trägt derjenige die philosophische und politische Beweislast, der das Privateigentum ganz generell einschränken will und es lediglich als Ausnahme von der Regel in Einzelfällen gerade noch duldet.

Im heutigen Bodenrecht und Steuerrecht herrscht längst ein Primat des Staates gegenüber dem Privateigentum. Anstelle der Baufreiheit gilt heute de facto eine Konzessionierung des Bauens, und im Steuerrecht entspricht eine durchschnittliche Besteuerung von gegen 50 Prozent der Einkünfte auch in der Schweiz dem Status quo. Wie etatistisch die Gesellschaft tickt, zeigt sich mitunter im Sprachgebrauch: Mittlerweile wird jede Steuerreduktion als «Geschenk» des Fiskus charakterisiert, als gehörte ihm im Ursprung das gesamte Erwirtschaftete, und kaum jemand widerspricht.

Der Autor dieses Artikels gehört zu den Befürwortern des Privateigentums, Marx zweifellos zu den radikalen Kritikern. Allerdings machte Marx in seinen Werken – auch im «Manifest» – gegenüber der politischen «Ursünde» des «Besitzindividualismus» bei Gebrauchsgütern durchaus einige Konzessionen. Was einer mit seinen eigenen Händen verdiente, sollte er behalten dürfen.

Dennoch hat Marx zu kurz gedacht. Das Privateigentum ist aus der Sicht seiner grundsätzlichen Befürworter nicht in erster Linie die Basis eines egozentrischen Individualismus, sondern die Basis des Tauschs, der etwas sehr Soziales, aber eben Selbstbestimmtes ist. Beim Tauschen gibt und nimmt man, und Geben ist (und macht) seliger denn Nehmen.

Das ist eine sehr tiefe und realistische anthropologische Erfahrung. Es gibt auch den immateriellen Tausch von Ideen und Gefühlen, und jeder Mensch kann grundsätzlich etwas geben. Der Gebende hat mehr Einfluss, Anerkennung und Befriedigung und damit – auf die Dauer – auch mehr Macht. Darum sollte die Macht der Gebenden grundsätzlich nicht zentralisiert und verstaatlicht sein, und das vielfältige, oft auch immaterielle Geben muss als Basis jeder Kommunikation allen offenstehen. Schon Kinder realisieren schnell einmal, dass sie in der Rolle der ausschliesslich Empfangenden dauerhaft abhängig werden. Darum wollen sie sich schon früh auch in der Rolle der Gebenden und Schenkenden profilieren. Die Römer nannten die erbberechtigten Kinder «liberi», und die «liberi» waren nicht nur passiv Empfangende, sondern in der Generationenfolge auch wieder zum Weitergeben Verpflichtete. Freiheit wird aus dieser Sicht zur anvertrauten und freiwillig übernommenen Verpflichtung gegenüber dem jeweils Eigenen, kurz: zu «Erb und Eigen».

Da jeder Mensch normalerweise eine Balance sucht zwischen Geben und Haben, hat das Geben natürliche Schranken, und es existiert bei gesunden Menschen keine «Gier nach immer mehr Geben-Wollen». Beim Nehmen jedoch ist das «Immer-mehr-Wollen», d. h. das tiefe Unbefriedigtsein angesichts dieser als «Schuld anderer» gedeuteten Knappheit, der Normalfall. Wer von einem Kollektiveigentum ausgeht, bei dem das individuelle Nehmen «gerecht geregelt» sein muss, schafft damit unweigerlich eine Spirale des Unbefriedigtseins.

Man kann tatsächlich nur vom Eigenen wirklich geben. Wer zuerst andern etwas wegnimmt, um es Dritten zu geben, bleibt ihnen hingegen etwas «schuldig» und gehört daher zu den Nehmenden und nicht zu den Gebenden. Dass der Gebende nur über Eigenes und nicht etwa über gewaltsam Dritten Weggenommenes verfügt, ist die sowohl anthropologische als auch die moralisch-philosophische Basis des Privateigentums als Friedensordnung. Jeder beidseitig selbstbestimmte Tausch beruht auf einem mindestens temporären Friedensschluss ausserhalb von Zwang und Fremdherrschaft.

Die Frage ist zentral: Wem haben besitzergreifende und nachher besitzende Menschen ihr Eigentum «weggenommen»? Privateigentum ist aus dieser durchaus realistischen Sicht tatsächlich das irgendwo und irgendwem «Weggenommene». Die Frage ist nur: andern Menschen mit Gewalt oder einvernehmlich durch Tausch oder durch Okkupation der freien Natur und deren «Vermischung» mit eigener Arbeit?

Die Natur selbst kennt kein Eigentum als rechtlich umfassend geschützte Sachherrschaft, sondern nur Besitz. Tiere und Pflanzen nehmen sich, was sie benötigen, und stossen an die Grenzen der natürlichen Knappheit. Ihr Gedeihen, Überleben oder Vergehen wird durch Engpässe und Sackgassen und durch sich wandelnde Okkupationen spontan und insgesamt unberechenbar gesteuert. Die Evolution wird in der Natur durch die jeweils ausschlaggebende Knappheit bestimmt. Auf die Dauer überleben nur die örtlich und zeitlich Adaptierten. Das sind nicht etwa die Grössten, Stärksten und Brutalsten, sondern die im Gesamtrahmen am besten Angepassten. In der Natur gibt es also kein rechtlich geschütztes und tradiertes Eigentum. Sie beruht auf der Inbesitznahme, die kein dauerhaftes Haben kennt, sondern nur ein Nehmen und Genommen-Werden.

Das Bild vom «Kampf aller gegen alle», das man oft unzulässigerweise auch auf den wirtschaftlichen Wettbewerb überträgt, ist unzutreffend. Entscheidend ist dort nicht ein Kampf aller gegen alle, und auch nicht der Besitzenden gegen die Besitzlosen, sondern ein offener Entwicklungsprozess mit offenem Ausgang, für den wir als Menschen ein Stück Verantwortung (aber nicht die ganze Verantwortung) tragen. Darum ist es verständlich, dass sowohl aus kapitalistischer als auch aus jüdisch-christlicher Sicht das Eigentum mehr bedeutet als Besitz.

Nach biblischer Auffassung ist Eigentum von Gott verliehen («Macht Euch die Erde untertan»), also ein Segen und kein Fluch, aber es ist «anvertraut» und muss in einer Kombination von Gottesliebe und Nächstenliebe gehandhabt und verwaltet werden, wenn es dauerhaft funktionieren soll. Und Liebe lässt sich nun einmal nicht erzwingen. Da ist auch das staatliche Zwangsmonopol machtlos bzw. kontraproduktiv. Der Staat ist aus dieser Sicht höchstens ein notwendiges Übel, das sich möglichst wenig in die moralische Frage der Güterverteilung einmischen sollte.

Die letzte Fiktion

Marx schwebte als Utopie eine Gesellschaft basierend auf freiwilligem Tausch (jenseits allen Zwangs) vor. Er verlegte das Paradies in die Zukunft und gewann daraus das politisch attraktive Pathos des fortschrittlichen «Aufbruchs» anstelle der Nostalgie, der Rückkehr zu einem goldenen Zeitalter, in dem es keine Rache gab und in dem jeder aus eigenem Antrieb Treue und Gerechtigkeit übte (wie Ovid das in seinen «Metamorphosen» schildert).

Es gibt aber keine Rückkehr ins Paradies der Aufhebung jeder Knappheit und der Etablierung einer unendlichen Fülle, die Tausch und Privateigentum überflüssig machen würde. Dieser Illusion sind weltweit Millionen von Marx-Gläubigen erlegen. Natur und Kultur beruhen auf Tausch. Aber wie soll man tauschen, wenn man nicht weiss, was wem gehört? An die judeo-christliche Liebe mochte Marx als säkularisierter Mensch des 19. Jahrhunderts und Feuerbach-Anhänger nicht mehr glauben. Er hat zwar Gott vielleicht nicht direkt durch den Staat ersetzt, aber durch eine Fiktion namens «Gesellschaft», die wohl existiert, aber unendlich vielfältig deutbar und wissenschaftlich nicht abschliessend aufzuschlüsseln ist. Das ist das nicht immer saubere Geschäft der Politik und jener staatsgläubigen Sozialwissenschaft, die dazu eine angeblich objektive Rechtfertigung zu liefern versucht.

NZZ 2. Juli 2018, Seite 28

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