(Basler Zeitung – Thema. – Dienstag, 2. Januar 2018)
Von Erik Ebneter und Hansjörg Müller
Es ist uns erst aufgefallen, als wir die Texte bereits geschrieben hatten: Obschon wir hier die 15 wichtigsten Schweizer Intellektuellen des vergangenen Jahres würdigen, kommen wir in den Mini-Porträts immer wieder auf ein Ereignis zu sprechen, das erst im März stattfinden wird. Gemeint ist die Abstimmung über die «No-Billag»-Initiative, die seit Herbst das Land elektrisiert. Die klingendsten, schillerndsten Begriffe werden herumgeboten, um das Anliegen zu preisen oder zu verdammen: Demokratie, Freiheit, Kohäsion. Und wo lustvoll bis verbissen diskutiert wird, sind Intellektuelle, diese Ideenhändler der arbeitsteiligen Gesellschaft, selten sehr weit.
Wir haben wiederum – nun schon zum sechsten Mal – 15 Denker ausgewählt, die uns vergangenes Jahr besonders aufgefallen sind. Dabei haben wir uns an die Regeln gehalten, die sich, wie wir finden, bewährt haben. Das heisst zunächst und vor allem: Die Liste ist so objektiv wie nötig und so subjektiv wie möglich. Wir zählen keine Zitate und gewichten keine Publikationen, sondern präsentieren ein Ensemble kluger Köpfe, von denen jeder 2017 auf seine Art prägend war.
Das ist, wenn man so will, ein qualitativer Ansatz, wie er eher in den Geistes- und teils Sozialwissenschaften gepflegt wird – und uns vertrauter ist. Die quantitative Arbeit der Naturwissenschaften bleibt uns leider ein Buch mit sieben Siegeln, weshalb wir ihre Vertreter wiederum nicht berücksichtigen können (Regel Nummer zwei). Dass es in der Schweiz brillante Naturwissenschaftler gibt, steht dabei ausser Frage. Einer von ihnen, Jacques Dubochet, wurde im Herbst sogar mit dem Nobelpreis für Chemie ausgezeichnet.
Die dritte Regel, die wir uns auferlegt haben: Keine aktiven Politiker, denn sie beugen sich mitunter stark der Parteiräson. Das ist zwar verständlich, aber intellektuell nicht immer redlich.
Hier nun also die Auswahl: 15 Geistesmenschen, die uns 2017 begleitet haben. Sind es die richtigen? Widerspruch ist willkommen!
Oliver Zimmer
Nennt man Oliver Zimmer (54) den «erfolgreichsten Schweizer Historiker», kann es einem als Journalist passieren, dass man eine E-Mail aus einem historischen Seminar des Landes erhält: Ob Erfolg denn überhaupt messbar sei, wird dann gefragt, und überhaupt, sei dieser Zimmer nicht ein Konservativer? Gegen ebendiese Politisierung der Geschichtswissenschaft hat sich Zimmer, der seit 2005 in Oxford lehrt, in einem grossen Interview mit dieser Zeitung gewandt. Öffentliche Reaktionen von Kollegen blieben aus. Lieber schreiben sie E-Mails.
Eric Gujer
Dass ein NZZ-Chefredaktor letztmals eine solche Kontroverse ausgelöst hat, dürfte lang her sein: Als Eric Gujer (55) im Dezember über die No-Billag- Initiative geschrieben hatte, brach ein Sturm der Entrüstung los: Er habe sich mit den SRG-Abschaffern gemein gemacht, hiess es, dabei hatte er genau dies nicht getan. Eher ging es ihm um überkommene Strukturen in den Medien. Als Modernisierer tritt er auch im eigenen Haus auf: Kaum irgendwo wird intensiver darüber nachgedacht, wie Journalismus im Internet funktionieren könnte, als bei der NZZ.
Philipp Sarasin
Philipp Sarasin (61) ist der auffälligste Feuilletonist des Landes, dabei arbeitet er nicht für die NZZ oder die Weltwoche, sondern ist Geschichtsprofessor an der Universität Zürich. Seit bald zwei Jahren betreibt er mit Kollegen ein politisches Onlinemagazin (Geschichte der Gegenwart), wo er regelmässig eigene Beiträge veröffentlicht. Die Konkurrenz beäugt ihn argwöhnisch; NZZ und Weltwoche widmeten ihm längere Artikel. Für das neue Jahr wünscht man Sarasin etwas mehr Gelassenheit: Nicht jede Kritik seiner Arbeit ist Ausdruck einer rechten Verschwörung.
Thomas Hürlimann
Jahrelang kämpfte er gegen den EUBeitritt («mein Rütlischwur»), nun scheint ihn das Thema zu langweilen: «Die EU wird sich von selbst erledigen», sagte Thomas Hürlimann (67) im Frühjahr in der NZZ am Sonntag. Anderes beschäftigt ihn, etwa das christliche Erbe des Landes. Als er im Oktober im Schweizer Fernsehen auftrat, sprach er über einen Regenschirm, den er mitgebracht hatte – also über den Verlust der Vertikalen in unserer Zeit. Es war auch ein Plädoyer für Gipfelkreuze. Der gebildetste Schweizer Literat seit Dürrenmatt. Und der interessanteste.
Iris Bohnet
Iris Bohnet (51) ist Wirtschaftsprofessorin an der Harvard-Universität und Verwaltungsrätin der Credit Suisse, aber 2017, als mit #MeToo so viel über Frauenanliegen gesprochen wurde wie lange nicht mehr, war sie vor allem als Buchautorin gefragt. «What works. Wie Verhaltensdesign die Gleichstellung revolutionieren kann», heisst ihr aktuelles Werk. Lange war Bohnet nur in Fachkreisen bekannt, inzwischen gilt sie fast schon als Role Model. In der Annabelle erschien jüngst ein grosser Artikel über sie. Titel: «Die zehn Gebote der Iris Bohnet».
Milo Rau
Milo Rau (40) macht Theater. 2017 brachte er ein Stück über Lenin auf die Bühne und versuchte den Reichstag zu stürmen, was an die Erstürmung des Winterpalastes von 1917 erinnern sollte. Diesem Mann geht es um alles: «Entweder wir retten die Welt oder nicht», sagte er jüngst in der Zeit, die ihn zum «einflussreichsten Regisseur des Kontinents» adelte. Rau träumt von einem Weltparlament. Bis es so weit ist, rezensiert er unter anderem Bücher im «Literaturclub» auf SRF. Wir müssen uns Rau als einen beschäftigten Menschen vorstellen.
Frank A.Meyer
Im Frühjahr entscheiden die Schweizer, ob sie weiterhin Radio- und Fernsehgebühren zahlen wollen. Zumindest, was seine eigene Stellung angeht, kann Frank A. Meyer (73) der Abstimmung gelassen entgegensehen: Seine SRF-Sendung «Vis-à-vis», in der er prominente Gäste empfing, hat er bereits letztes Jahr aufgegeben. Nun lässt er sich selbst befragen: «Frank und frei» heisst das Format, das der Blick auf seiner Website verbreitet. Wie Meyer sich dort ins Feuer redet, ist höchst unterhaltsam und zeigt: Den freien Markt muss dieser Journalist nicht fürchten.
Carl Baudenbacher
In der Schweiz dürfte sein Name allenfalls in Juristenkreisen geläufig sein. Dennoch sollte man den Einfluss von Carl Baudenbacher (70) nicht unterschätzen, und das, obwohl der Schweizer sein Amt als Präsident des Efta-Gerichtshofs im Frühjahr niederlegen wird. Nach dem Brexit, so Baudenbacher, solle Grossbritannien als Efta- Mitglied Teil des Europäischen Wirtschaftsraums bleiben – wie Norwegen. In London hört man ihm zu: Kürzlich veröffentlichte er einen grossen Gastbeitrag im Daily Telegraph; die Times widmete ihm gar einen Leitartikel.
Philipp Ruch
Auffällig zu sein ist der Job von Philipp Ruch (36): Der Sohn eines Schweizers und einer Deutschen ist schliesslich Aktionskünstler. 2016 wollten der Gründer des Zentrums für Politische Schönheit und seine Mitstreiter vor dem Wohnhaus von SVP-Nationalrat Roger Köppel aufmarschieren, 2017 errichteten sie eine Replik des Berliner Holocaust-Mahnmals vor dem Haus von AfD-Rechtsaussen Björn Höcke. Nicht alle waren begeistert: «Spassgesellschaft trifft auf schwarze Pädagogik», lästerte der Autor Gideon Böss im Blog Salonkolumnisten über die Aktion.
Daniel Binswanger
Zuletzt war es um Daniel Binswanger (48) ein wenig still geworden: Im Magazin verrichtete er Woche für Woche seinen Dienst als Kolumnist, bewundert von seiner Gemeinde, angefeindet von seinen Gegnern. Vielleicht war es die Routine, die ihn nach Veränderung Ausschau halten liess, ganz sicher aber der Sparkurs bei Tamedia. Dieses Jahr fängt Binswanger bei der Republik an, dem neuen Online-Medium, von dem sich vor allem Journalisten nicht weniger als die Rettung des Journalismus versprechen. Eine grosse Aufgabe.
Jonas Lüscher
Preise sind ein zuverlässiger Gradmesser für den Einfluss eines Intellektuellen. Je mehr einer davon erhält, desto besser ist er vernetzt. Für Jonas Lüscher (41) lief es zuletzt gut: Für seinen Roman «Kraft» bekam er den Schweizer Buchpreis. Das akademische Milieu, in dem die Geschichte spielt, kennt er bestens: 2011 begann er eine Dissertation «über die Bedeutung von Narrationen für die Beschreibung sozialer Komplexität vor dem Hintergrund von Richard Rortys Neo-Pragmatismus». Das Werk blieb bisher unvollendet. Die Literatur geht vor.
Barbara Bleisch
Es gibt wenige Leute, die über Plato so klug reden können wie über Pornografie. Barbara Bleisch (44) gehört zu ihnen. Seit 2011 moderiert sie die «Sternstunde Philosophie» im Schweizer Fernsehen. Ihre Gäste sind Spezialisten aus allen erdenklichen Wissensgebieten, aber Bleisch bleibt stets Gesprächspartnerin: Nie muss sie auf die Rolle der blossen Abfragerin ausweichen. Aufmerksam und geistreich führt sie durch die Sendungen, die regelmässig auch als Stammtisch inszeniert werden. Über ihre Arbeit berichtet inzwischen sogar der Blick.
Robert Nef
Wenn nichts mächtiger ist als eine Idee, deren Zeit gekommen ist, dann war Robert Nef (75) wohl nie einflussreicher als heute. Jedenfalls zittert fast der gesamte politisch-mediale Komplex vor der Abstimmung über die No-Billag-Initiative, obschon das Anliegen eigentlich nur von ein paar jungen, unbekannten Liberalen getragen wird. Sie kommen aus dem Umfeld des Liberalen Instituts, das Nef über Jahrzehnte geleitet hat. Ein Arbeitsleben lang kämpfte er für mehr Freiheit und weniger Zwang. Jetzt, als Rentner, könnte seine Zeit gekommen sein.
Kacem El Ghazzali
Kacem El Ghazzali (27) lebte als Atheist in Marokko, ehe er in die Schweiz flüchtete, weil Atheisten in muslimischen Ländern nicht immer pfleglich behandelt werden. Als Autor kritisiert er den Islam und provoziert mitunter kuriose Reaktionen. Jacqueline Fehr (SP), Regierungsrätin des Kantons Zürich, schrieb im Sommer über ihn: «Reicht es heute einfach, als Muslim gegen den Islam zu wettern, um als Experte zu gelten?» Dass El Ghazzali kein Muslim ist, sondern eben Atheist, war ihr entgangen. Der Mann mischt das Land auf, neuerdings als Schweizer.
Martin Ebel
Dass Kritiker keine grossen, öffentlichen Figuren mehr sind, hat wohl mehr mit dem Strukturwandel der Medienbranche zu tun als mit ihnen selbst. In der Schweiz fällt noch am ehesten Martin Ebel (62) auf, der Literaturchef des Tages-Anzeigers: Als im November der Schweizer Buchpreis verliehen wurde, zitierte die Moderatorin eine scharfe Kritik Ebels an Urs Faes, woraufhin dieser den Saal verliess. Ebel selbst scheint sein Einfluss eher unangenehm zu sein: Je weniger Kritiker es gebe, desto grösser werde die Verantwortung des Einzelnen. Eine Stellung als Bürde.