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Zaccaria Giacometti und Friedrich August von Hayek. Wie kompatibel ist der klassische Liberalismus mit der Demokratie?

Lesedauer: 22 Minuten

LIBERALE DEMOKRATIEKRITIK

Demokratie, die auf dem Mehrheitsprinzip beruht, ist mit liberaler Privatautonomie, die auf dem Freiheitsprinzip beruht, theoretisch nicht kompatibel. Aber die beiden Prinzipien lassen sich in der politischen Praxis kombinieren. Im besten Fall korrigieren sie mögliche Fehlentwicklungen des andern Prinzips. Im schlechtesten Fall zerstören sie sich gegenseitig. Entscheidend für den Erfolg einer Kombination ist eine Beschränkung der Politik als solcher und ein institutioneller Schutz von Minderheiten. Und die wichtigste Minderheit ist das kreativ dissidente Individuum.

Mein persönliches Bekenntnis, das diesem Beitrag als Vorverständnis zugrunde liegt, lässt sich auf folgenden Grundsatz reduzieren: Selbstbestimmung geht vor Mitbestimmung, denn Mitbestimmung bedeutet für die jeweiligen Minderheiten Fremdbestimmung. Das klassische Mehrheitsprinzip zählt die Stimmen pro Kopf, bzw. pro Person, und nimmt in Kauf, dass dabei auch Fehlentscheide zustande kommen und dass sich schlimmstenfalls beinahe die Hälfte der Beteiligten mit Fremdbestimmung abfinden muss, oft auch «die bessere Hälfte».
Friedrich Schiller hat in seinem Wilhelm Tell in der Szene mit dem Rütlischwur den demokratischen Konsens als ideelle Basis der politischen Gemeinschaft in genialer Weise zum Ausdruck gebracht:

Wir wollen sein ein einzig Volk von Brüdern
In keiner Not uns trennen und Gefahr.
Wir wollen frei sein wie die Väter waren,
Eher den Tod, als in der Knechtschaft leben.
Wir wollen trauen auf den höchsten Gott
Und uns nicht fürchten vor der Macht der Menschen.1

Dass das Mehrheitsprinzip auch seine Schattenseiten hat, vor allem wenn es zunehmend und ungebremst zur Rechtfertigung von Verteilung und Umverteilung im Sozialstaat eingesetzt wird, kann mit folgender eigener satirischer Umdichtung gezeigt werden:

Wir wollen sein ein einzig Volk von Rentnern
uns zwangsversichern gegen alle Not.
Wir wollen Wohlfahrt, selbst auf Kosten unserer Kinder,
eher Taktieren, als eigenständig sich behaupten.
Wir wollen trauen auf den Staat da oben
und uns stets beugen vor der Macht der andern.

Dieser satirisch aktualisierte Rütlischwur ist das, was an Freiheit noch übrig bleibt, wenn das Mehrheitsprinzip lange genug, und mit zu wenig Einschränkungen und in Kombination mit dem Repräsentationsprinzip sowie mit progressiver Besteuerung praktiziert wird.

Das Repräsentationsprinzip, das heisst die indirekte Demokratie, hat sich weltweit als politisches Entscheidungsverfahren durchgesetzt, während die direkte Demokratie wegen ihrer Anfälligkeit für populistische Tendenzen heute vor allem dann in Frage gestellt wird, wenn das Resultat einer Volksabstimmung für unbefriedigend oder «irrational» gehalten wird. Dass Parlamentsentscheide aber tatsächlich stets reflektierter und rationaler als Volksentscheide sind und dem öffentlichen Interesse besser entsprechen, ist eine Hypothese, die sich aufgrund der Erfahrungen in der Schweiz nicht verifizieren lässt. Die in Anknüpfung an Rousseaus Kritik an der Repräsentation2 von den Basisdemokraten der 68er Jahre vorgebrachten Bedenken über die Verfälschung des Mehrheitswillens durch komplexe Wahl-, Partei- und Koalitionssysteme sind meines Erachtens auch von der Politikwissenschaft und von der Entscheidungstheorie generell zu wenig ernst genommen worden. Rationale Demokratiekritik ist eine heikle Angelegenheit, denn kaum ein Wissenschaftler möchte sich dem Vorwurf aussetzen, ein Feind der Demokratie zu sein. Alle Vorbehalte, die gegenüber der Anfälligkeit der direkten Demokratie für Stimmungsschwankungen und für linke und rechte Populismen vorgebracht werden, sollten auch gegenüber der indirekten Demokratie sorgfältiger unter die Lupe genommen werden.

«Demokratie» ist nicht gleichbedeutend mit «Mehrheitsprinzip». Vor allem im amerikanischen Sprachgebrauch ist der Begriff Demokratie als Gegenbegriff zur Willkürherrschaft und zum Totalitarismus ausschliesslich positiv aufgeladen. Democracy, das ist der mythisch überhöhte amerikanische Traum von einer besseren Welt. Democracy meint in den USA eigentlich nichts anderes als das Gegenteil von Tyrannei, Totalitarismus, Willkür- und Gewaltherrschaft.

Auch das, was wir in Europa differenziert als liberalen gewaltenteilenden Rechtsstaat bezeichnen, wird in den USA in einer ideengeschichtlichen Vereinfachung und Verkürzung Democracy genannt. Das erschwert die wissenschaftliche Demokratiediskussion im heute dominierenden englischen Sprachraum.

Der Franzose Ernest Renan hat in einem 1882 an der Sorbonne gehaltenen Vortrag die Nation als «Le plébiscite de tous les jours» bezeichnet.3 Ludwig von Mises, einer der führenden Köpfe der liberalen Austrian economy bezeichnete den Markt als Entscheidungsprozess, der Millionen von persönlichen Einzelentscheidung zwischen jeweils Beteiligten und Betroffenen so koordiniert, dass daraus ein Höchstmass an selbst gewählter Willensübereinstimmung resultiert.4 Nach Ludwig von Mises wäre nicht die Nation, sondern der offene Markt «le plébiscite de tous les jours». Demokratie in diesem Sinn wäre also mit einem liberalen Staatsverständnis nicht nur voll kompatibel, sie wäre sogar die Voraussetzung einer nicht fremdherrschaftsbestimmten Ordnung.

Demokratie kann auch auf das komplexe Mitbestimmungsprinzip «Je betroffener desto beteiligter» zurückgeführt werden. Nonzentral und föderativ aufgebaute politische Systeme und Entscheidungsverfahren in Kapitalgesellschaften versuchen sich dem anzunähern.

Demokratie im engeren Sinn, beruht auf der Kombination der beiden Prinzipien «eine Person, eine Stimme», und «die Mehrheit entscheidet, die Minderheit fügt sich».

Für Aristoteles war die Demokratie eine Zerfallsform jener «Herrschaft der Vielen», die er Politie nannte. Die Ideengeschichtliche Karriere des heute weitgehend positiv aufgeladenen Begriffs «Demokratie» begann also mit einer radikalen und immer noch ernst zu nehmenden Kritik. Das Mehrheitsprinzip kann auch zur Abschaffung der individuellen Freiheit führen, wenn es nicht durch zusätzliche Institutionen und Prinzipen daran gehindert wird.5

Das Spannungsfeld zwischen Freiheit und Demokratie wirft folgende Grundfragen auf: Ist das Mehrheitsprinzip als Verfahren kollektiver Entscheidungsfindung mit der Idee der Freiheit nachhaltig vereinbar? Ist es möglich, das Mehrheitsprinzip mit einer dauerhaften Freiheitsgarantie zu verbinden? Unter welchen Bedingungen könnte die zunächst für unmöglich gehaltene Kombination, doch noch eine Chance haben? Kurz: Sind Mehrheiten zuverlässig und auf die Dauer dafür zu gewinnen, eine Ordnung aufrecht zu erhalten, welche Leben, Eigentum und Freiheit wirksam schützt und den Wettbewerb um die individuell zusagenden Lebensformen und Lebensinhalte für alle offen hält? Oder werden sich Mehrheiten früher oder später zusammentun, um auf Kosten der kreativeren und produktiveren Minderheiten mehr Sicherheit zu haben, indem die Freiheit aller und das Eigentum einer reicheren Minderheit eingeschränkt werden?

Das wäre weiter nicht total verheerend, wenn diese Einschränkung ihrerseits begrenzbar wäre und nicht in einen Teufelskreis von zusätzlichen Einschränkungen münden würde, mit denen man die Mängel, die bei den Folgen der Einschränkungen auftreten, durch weitere kollektive Einschränkungen zu beseitigen hofft. Das ist der berühmte Teufelskreis des Interventionismus. Er führt zum sogenannten Gesetz der wachsenden Staatsaufgaben, das von Adolph Wagner 1863 formuliert worden ist und das leider immer noch der theoretischen und empirischen Widerlegung harrt.6

Oder haben jene Anarchokapitalisten Recht, die als einzige taugliche Alternative zur Eskalation und zum Missbrauch der Staatsmacht die Abschaffung des herkömmlichen Staates fordern?7

Mehrheiten tendieren dazu auf Kosten produktiver Minderheiten leben zu wollen und dies auf der Basis des Mehrheitsprinzips durchzusetzen. Dies hat zur Folge, dass die Produktivität sinkt, weil Umverteilung weniger produktiv ist als die Investition in den technologischen und ökonomischen Fortschritt, die stets auch auf Risikokapital beruht. Bei sinkender Produktivität sinkt auch die Wettbewerbsfähigkeit, was sich seinerseits durch einen allgemeinen Rückgang des Wohltandes bemerkbar macht.

ZACCARIA GIACOMETTI UND DIE DIREKTE DEMOKRATIE

Das Leben und das Werk von Zaccaria Giacometti, des 1970 verstorbenen aus dem Bergell stammenden Zürcher Staatsrechtslehrers, ist durch eine Publikation von Andreas Kley in verdienstvoller Weise in Erinnerung gerufen worden.8 Giacometti ist in den Dreissiger- und Vierzigerjahren in Deutschland aus politischen Gründen (und im übrigen Europa aus sprachlichen Gründen) kaum zur Kenntnis genommen worden. Sein gegenüber der Staatsmacht und dem Zentralismus skeptischer Ansatz steht auch im Gegensatz zu dem auch in der Schweiz ziemlich staatsgläubigen Zeitgeist des ausgehenden 20. Jahrhunderts, der bis heute die universitäre, die mediale und die politische Szene beherrscht. Die gegenwärtige juristische und politikwissenschaftliche Fachwelt interessiert sich leider kaum mehr für ihn, und häufig wird er lediglich noch als Vetter des weltberühmten Künstlers Alberto Giacometti in Erinnerung gerufen.

Unter Staatsrechtlern gibt es heute eine wenig ergiebige Kontroverse über das Primat des Rechtsstaates bzw. der Demokratie und über die verschiedenen Generationen von Grundrechten und Menschenrechten, die, weil sie kein widerspruchfreies System bilden, anhand von allgemeinen Grundsätzen wie «Verhältnismässigkeit» und «Interessenabwägung» grenzenlos ausgelegt werden. Grundrechte werden fast unisono als positive Ansprüche an den immer mächtigeren und zentraleren Leistungs- und Lenkungsstaat und nicht als Schranke der Staatsmacht gedeutet.

Giacometti steht in diesem Umfeld mit seiner Befürwortung der negativen Freiheitsrechte, mit seiner aus dem positivistischen Verfassungsverständnis abgeleiteten Skepsis gegenüber dem zentralen Interventionsstaat und mit seiner Vorliebe für kantonale und kommunale Autonomie als erratischer Block zwischen allen Fronten. Er wird bei jenen, die ihn überhaupt noch zur Kenntnis nehmen, meistens als jener Theoretiker bezeichnet, der es in der Nachkriegszeit noch einmal geschafft hat, Freiheit und Demokratie staatsrechtlich zu einem kohärenten Ganzen zu verbinden. Giacometti ist heute für die Libertären zu demokratiefreundlich, für die Basisdemokraten zu minimalstaatlich und für die Internationalisten zu lokalistisch und zu eidgenössisch.

Seine erste Rektoratsrede aus dem Jahr 1954 trug den Titel «Die Demokratie als Hüterin der Menschenrechte». In seiner zweiten Zürcher Rektoratsrede hat er 1955 unter dem Titel «Die Freiheitsrechtskataloge als Kodifikation der Freiheit» die Freiheitsrechte als den Staatsethos der Schweiz bezeichnet:

Die Freiheitsrechte sind also der Ausdruck eines freiheitlichen politischen Wertesystems, dahingehend, dass der Staat um des Einzelnen willen da ist und nicht der Einzelne um des Staates willen. Der Sinn des Staates soll mit andern Worten darin bestehen, die Entfaltung des Individuums als des Schöpfers der geistigen, kulturellen, wirtschaftlichen Werte in der Staatsgemeinschaft zu ermöglichen und den Einzelnen zu fördern. Restlos verwirklicht erscheint dieses durch den Katalog der Freiheitsrechte konstituierte freiheitliche Wertesystem jedoch erst dann, wenn die Freiheitsrechte nicht nur nach Maßgabe der Gesetze garantiert, sondern auch für den Gesetzgeber absolut verbindlich sind und wenn überdies der Menschenrechtskatalog durch die Legislative unabänderbar ist.9

Giacometti verwendet den im Zusammenhang mit der Freiheitsidee nicht gerade begeisternden Begriff «Katalog». Freiheit als offen formulierter verfassungsrechtlicher Katalog? Das ist für viele Freiheitsfreunde und speziell für die Befürworter spontaner Ordnungen ein Horror. Giacometti erweitert und vertieft dann aber diesen Gedanken in einer bemerkenswerten Weise. Für ihn beschränkt nicht die Verfassung die Freiheit, sondern die Freiheit den Verfassungsgeber. Leider ist ihm dabei in der Schweiz weder die total revidierte Bundesverfassung, noch die heute vorherrschende Lehre gefolgt und die Gerichtspraxis tendiert eher zu einer Einengung als zum konsequenten Schutz der individuellen Freiheit.

Hayek hat in seiner «Verfassung der Freiheit»10 ausdrücklich auf Giacometti verwiesen und das liberale Standardwerk stand auch in Giacomettis Bibliothek. Auch in der Schweiz ist die negative Freiheit (die Freiheit von etwas) heute relativ schutzlos dem Gesetzgeber und dem Richter ausgeliefert, der stets eine Abwägung der sogenannten öffentlichen und privaten Interessen vornimmt, wenn er das zulässige Mass an individueller Freiheit von etwas definiert. Man findet aber praktisch immer einen Vorwand für neue Einschränkungen durch Interventionen zugunsten einer staatlich vermittelten positiven Freiheit zu etwas.

Die aus strikt liberaler Sicht grundlegende Erkenntnis, dass es aus ökonomischen Gründen ein eminentes öffentliches Interesse an der Existenz und am Schutz privater Interessen gibt, ist leider nur bei einer kleinen Minderheit vorhanden.

Giacomettis Idee ist trotz der unheroischen juristischen Terminologie bestechend: Freiheit als Negation von Zwang, geschützt durch Schranken des zulässigen Zwangs. Der Staat als Zwangsmonopolist und gleichzeitig als der institutionell beschränkte Freiheitsbeschränker: der gezwungene Zwang.

Der Begriff «gezwungener Zwang» stammt aus dem dichterischen Werk des heute zu Unrecht vergessenen Schweizer Dichters und Literaturnobelpreisträgers Carl Spitteler (1845–1924), der nicht nur Versepen und Romane verfasst hat, sondern auch als liberaler Journalist und Publizist wirkte und sich vor und nach der Katastrophe des Ersten Weltkriegs klar sowohl gegen den konservativen und bellizistischen Nationalismus als auch gegen den schon damals unter Intellektuellen modischen gesinnungsethischen Sozialismus abgegrenzt hat. In seinem Epos «Der olympische Frühling» spielt der Kampf um die Rangordnung der Götter und schliesslich die Entmachtung der Götter (bzw. die Entlarvung ihrer angemassten Macht) eine zentrale Rolle. Die Frage des Todesgottes Hades, welche Macht denn über allen Göttern stehe, wird durch ein gemeinsames Murmeln beantwortet: «Ananke, der gezwungene Zwang». Carl Spitteler kann als typischer Schweizer gar nicht unpolitisch dichten, und der liberale Hintergrund der Entmachtungsidee, bzw. der Entgiftung der Macht, wäre wieder neu zu entdecken.11

Für Giacometti geniesst sinnvollerweise jede individuelle Freiheit, die durch noch unbekannte Formen der Bedrohung gefährdet ist, den Schutz der Verfassung.

Dazu wörtlich:

Die Zerlegung der individuellen Freiheit in einzelne Freiheitsrechte durch die Freiheitsrechtskataloge der geltenden Verfassungen kann daher keine endgültige sein. Wenn neue Seiten der individuellen Freiheit aktuell werden, so müssen sich aus den Freiheitsrechtskatalogen die entsprechenden neuen Freiheitsrechte ableiten lassen. […] Diese Kataloge bilden mit anderen Worten ein geschlossenes, lückenloses System der Freiheitsrechte. Die Aufzählung einzelner Freiheitsrechte im Katalog kann nur als eine exemplifikatorische angesehen werden. Dies liegt in der Logik des liberalen Staates.12

In seiner ersten Rektoratsrede mit dem Titel «Die Demokratie als Hüterin der Menschenrechte» bringt er zum Ausdruck, dass der Sinn des Staates darin bestehe, die Entfaltung des Individuums als des Schöpfers der geistigen, kulturellen, wirtschaftlichen Werte in der Staatsgemeinschaft zu ermöglichen und den Einzelnen zu fördern. Restlos verwirklicht erscheint dieses durch den Katalog der Freiheitsrechte konstituierte freiheitliche Wertesystem jedoch erst dann, wenn die Freiheitsrechte nicht nur nach Massgabe der Gesetze garantiert, sondern auch für den Gesetzgeber absolut verbindlich sind und wenn überdies der Menschenrechtskatalog durch die Legislative unabänderbar ist. Unter dem Menschenrechtskatalog verstand Giacometti damals nicht den heute in internationalen Dokumenten mit unterschiedlicher Autorität deklarierten Mix von negativen Freiheitsansprüchen gegen den Staat als Hort des Rechts und von positiven, sozialen und letztlich materiellen Ansprüchen an den Daseinsvorsorgestaat. Die Sozialrechte, die auch als «zweite Generation» der Menschenrechte bezeichnet werden, sind nur auf Kosten der Freiheitsrechte der ersten Generation, d.h. durch Eingriffe in die persönliche Freiheit und in das Privateigentum durchsetzbar.

Giacometti ist als Rechtspositivist gegenüber der Naturrechtslehre skeptisch. Seine Theorie vom offenen Katalog der Freiheitsrechte ist so etwas wie eine Schranke der Zuständigkeit der politischen Gemeinschaft, überhaupt in die individuelle Freiheit einzugreifen. Freiheit ist für ihn als menschenrechtliches Postulat, d.h. als universeller und allgemeingültiger Massstab immer schon da.

Ob von Gott geschenkt oder auferlegt, ob von der Natur angelegt, ob von den Menschen gegenseitig zugemutet oder ob einfach angemasst, sie ist präexistent und muss nicht zuerst vereinbart oder angeordnet werden. In der Formulierung von Schiller werden die Freiheitsrechte «von den Sternen heruntergeholt», im Mythos von Prometheus wird das Feuer der Freiheit von den Göttern geraubt. Wer die Freiheit, auch die Freiheit abzustimmen und zu wählen, als Gabe Gottes deutet, hat allerdings Mühe mit der Formel «Vox populi, vox Dei», Volkes Stimme ist Gottes Stimme, denn sie erscheint aus dieser Sicht als arrogant oder sogar als blasphemisch.

Doch nun zur Frage nach dem tauglichen Hüter bzw. der Hüterin der Freiheit, die Giacometti in seiner ersten Zürcher Rektoratsrede 1954 beantwortet hat.13 Welche Instanz ist dafür geeignet und zuständig? Giacometti ging es darum, diese letzte Instanz zu definieren, die in der Lage ist, diese Freiheit gegen Eingriffe wirksam zu schützen. Er kommt dabei zu Schluss, dass eine Freiheit, die nicht vom mehrheitlichen Volkswillen getragen ist, letztlich nicht zu halten sei.

Giacometti ist aber nicht nur wegen seinem Freiheits- und Demokratieverständnis, sondern wegen seinem methodisch wissenschaftlichen Selbstverständnis aktuell und interessant. Er hat den rechtspositivistischen Ansatz, der vom Wiener Hans Kelsen am konsequentesten vertreten worden ist, auf den Schweizer Rechtsstaat angewendet. Man hat den Rechtspositivisten Kelsen, der sich selbst politisch zur Sozialdemokratie bekannte, in den Dreissiger- und Vierzigerjahren und vor allem nach dem Zweiten Weltkrieg zu Unrecht als verantwortungslosen Relativisten diffamiert. Dass der Rechtspositivismus wegen seiner parteipolitischen Neutralität und seiner Gleichsetzung von Recht und Staat als Wegbereiter des Nationalsozialismus gewirkt habe, hält einer sorgfältigen historischen Überprüfung nicht stand.

Implizit ist die erste Rektoratsrede eine Auseinandersetzung mit Hans Kelsens Plädoyer für das Mehrheitsprinzip.14 Giacometti versucht, die egalitäre Demokratietheorie des von ihm verehrten Kelsen mit seinem eigenen radikalliberalen Ansatz auszusöhnen. Kann das gelingen? Es braucht dazu viel Optimismus. Bei Giacometti gründet dieser in erster Linie auf seinem Verständnis von einer vor-verfassungsrechtlichen Verankerung der Freiheitsrechte. Wenn diese Säule herausgebrochen wird (und man hat sie herausgebrochen, bzw. nicht akzeptiert!), so verliert auch seine These von der Demokratie als Hüterin der Freiheitsrechte ihre wichtigste Stütze.

Giacometti ist gegenüber der freiheitsstützenden Funktion des Mehrheitsprinzips noch aus einem andern Grund optimistisch – obwohl er als von Natur aus misstrauischer und knorriger Bergler eher depressiv veranlagt war. Er hatte als Schweizer Staatsrechtslehrer im Jahre 1954 tatsächlich gute Gründe zum Vertrauen in das Mehrheitsprinzip. Es war ihm nämlich als Rechtsberater der Landesregierung etwas gelungen, das in vielen Biographien bedeutender Rechtslehrer weltweit vergeblich gesucht wird. Er hat tatsächlich einen bemerkenswerten Schub an Deregulierung bewirkt. Es gelang ihm, die politisch Verantwortlichen dazu zu bewegen, den kriegswirtschaftlich bedingten Interventionismus, das sogenannte Vollmachtenregime (bestehend aus insgesamt 148 dringlichen Bundesbeschlüssen mit Gesetzeswirkung), grösstenteils aufzuheben, und eine Volksmehrheit hat ihn dabei gegen die Meinung vieler Experten und Funktionäre unterstützt. Sein Optimismus, dass demokratische Mehrheiten freiheitlicher gesinnt seien als zentralstaatliche Bürokratien ist daher empirisch biographisch und nicht theoretisch untermauert. Wörtlich führt er dazu Folgendes aus, und man beachte die fast beiläufig zum Ausdruck gebrachte pessimistische Beurteilung der «letzten Folgerungen» des «demokratischen Dogmas»:

Die Frage nach der Demokratie als Hüterin der Freiheit ist nicht dogmatischer, sondern empirischer Art. Sie geht lediglich dahin, ob Volk und Volksvertretung als Gesetzgeber die Menschenrechte in der Rechtswirklichkeit, also tatsächlich gefährden oder vernichten, und nicht, ob das demokratische Dogma in seinen letzten Folgerungen, in der Idee, zur Vernichtung der Freiheitsidee führe. Das letztere wird zutreffen, damit ist aber noch nichts darüber ausgesagt, ob Volk und Parlament als empirische Gesetzgeber es dazu kommen lassen werden.15

Die Brisanz, der in einem Nebensatz geäusserten Vermutung, die, so Giacometti, wohl zutreffe, nämlich, dass «das demokratische Dogma […] zur Vernichtung der Freiheitsidee führe» haben wohl in der damaligen Zuhörerschaft die meisten überhört. Die Rede wird jedenfalls bis heute als Schweizer «Lob der Demokratie» zitiert. Giacomettis auf damalige Erfahrungen abgestützter Optimismus hat die demokratiekritische Aussage übertönt. Er stützte sich auf eine politische Empirie, die von einem «historisch tief verankerten Freiheitsgeist» (als Schweizer Staatsethos) ausgeht. Leider hat dieser Optimismus des Bergellers in der medial stark beeinflussten wohlfahrtsstaatlich ausgerichteten Massendemokratie des 21. Jahrhunderts einige Risse bekommen. Angesichts der Tatsache, dass heute eine Mehrheit von der staatlichen Umverteilung profitiert, ist Giacomettis kritischer und hellsichtiger Vorbehalt gegenüber dem Mehrheitsprinzip, vor allem wenn es um den Ausbau des Sozialstaats geht, viel aktueller als 1954. Eine Mehrheit von Begünstigten kann heute eine Minderheit von betroffenen Zahlenden überstimmen. Das ist politisch nicht nachhaltig praktizierbar und führt ohne Gegenmassnahmen zu Vollzugs-, Legitimitäts- und Finanzkrisen.

Freiheitsfreunde tun daher gut daran, sich heute nicht mehr blind auf diesen «Freiheitsgeist» zu verlassen. Sie wissen zwar, dass die Freiheit (die man aus liberaler Sicht, wie Giacometti, konsequent als «negative Freiheit» vom Staat definieren sollte) im Effekt als Positivum allen zugutekommt. Alles in allem liegt individuelle Freiheit durchaus auch im «öffentlichen Interesse» aller, und sie wirkt sich auf die Dauer keineswegs asozial aus. Dies ist vor allem gegenüber einer Gerichtspraxis, die bei der «Interessenabwägung» das überwiegende öffentliche Interesse meist beim Staat verortet, von zunehmender Bedeutung. Freiheit, die auf Privatautonomie und garantiertem Privateigentum basiert, ist wichtiger als der Anschluss von Mehrheiten an staatliche Umverteilungsströme.

Giacometti hat den Versuch gewagt, Kelsens Rechtspositivismus mit einem liberalen Staatsverständnis in Einklang zu bringen. Er berief sich dabei auf die Rechtsphilosophie von Immanuel Kant.16 Freiheit ist aus dieser Sicht nicht natur- oder gottgegeben, sondern entsteht unter vernünftigen Menschen (nicht nur unter Bürgern) auf dem Weg der gegenseitigen praktisch vernünftigen Zumutung als Voraussetzung des Rechts. Sie wurzelt in einer vor-, über- (oder eventuell auch) nach- nationalstaatlichen Sittenordnung kultivierter und zivilisierter Menschen: Aus der Sicht der optimistischen Aufklärer ist dies eine weltweit wachsende Gruppe.

Giacometti argumentiert wie folgt: Es gibt kein der Verfassung übergeordnetes Recht, da das positive Recht durch die Verfassung festgelegt wird. Die Verfassung selbst darf und soll aber als eine Verfahrensordnung des politischen Prozesses Beweisregeln und Beweislastregeln und Regeln für die Spielräume der Änderung und der Interpretation aufstellen.

Die wichtigste verfassungsrechtliche Regel des politischen Prozesses ist die Freiheitsvermutung, welche in einem offenen Katalog der Freiheitsrechte (d.h. durch keine abschliessende Kodifikation der Freiheit) zum Ausdruck kommt. Da die künftigen Bedrohungen der Freiheit nicht alle voraussehbar sind, kann, so Giacometti, auch die Aufzählung der garantierten Freiheiten nicht abschliessend sein. Die Schweizerische Bundesverfassung selbst legt explizit und implizit sowohl ein Bekenntnis zur Freiheit als auch ein Bekenntnis zur Subsidiarität ab und ist aus diesem Geist heraus anzuwenden und zu interpretieren. Dies gilt auch für jene, die diese Bekenntnisse persönlich nicht teilen. Es gilt demnach nicht nur der Auslegungsgrundsatz «in dubio pro libertate» (im Zweifel für die Freiheit), sondern «in principio pro libertate» (im Prinzip für die Freiheit). Auch die Einschränkung gliedstaatlicher Souveränität darf nicht auf dem Verordnungsweg erfolgen, sondern nur ausdrücklich durch Gesetzgebung.

Giacomettis Ansatz ist zumindest mit dem liberalen Naturrecht kompatibel. Das Bekenntnis zur Freiheit als Basis des Verfassungsstaates «infiziert» letztlich die an sich wertfreie erkenntnistheoretische Basis der «Reinen Rechtslehre»17 – ein Kniefall, ein Sündenfall oder ein tapferes Eingeständnis eines bekennenden Eidgenossen?

Immerhin steht seit Giacometti so viel fest: Man muss nicht unbedingt an die Freiheit als Naturrecht glauben, um liberal zu sein. Im Gegenteil. Rechtspositivismus (als wissenschaftliche Methode) und Liberalismus (als politisches Bekenntnis) sind kompatibel. Das ist für die ohnehin nicht so kohärente liberale Grossfamilie ein eminenter Vorteil.

Seit der Antike ist bekannt, dass gerade in der Rechts- und Staatsphilosophie nicht alles Neue gut und auch nicht alles Gute neu ist. Eine Rückbesinnung auf den zentralen Wert der individuellen Freiheit, die eben nicht nur dem Individuum nützt, sondern in ihren Konsequenzen die Basis einer freien und prosperierenden Gesellschaft bildet, ist darum nicht das rückwärtsgewandte Anliegen einer klassisch liberalen Minderheit, sondern ein staatspolitisches Anliegen ersten Ranges. In diesem Sinn kann und soll, in Anknüpfung an Giacometti, in der Schweiz eine föderativ aufgebaute Demokratie auch in Zukunft als Hüterin der Menschenrechte funktionieren.

Die Hinterlassenschaft von Giacometti ist in ihrer ganzen Tragweite noch nicht ausgeschöpft. Gerade weil sich das Verfassungsrecht und die Gerichtspraxis in eine andere Richtung entwickelt haben, und die liberale «Zürcher Schule» nur noch als Anmerkung in den Lehrbüchern figuriert, könnte ein unvoreingenommenes Studium dieses Ansatzes auch bei der notwendigen Korrektur von heute überwiegend etatistischen und internationalistischen Entwicklungstendenzen hilfreich sein.

Naturrecht ist nicht per se liberal, und das, was wir philosophisch als Freiheit definieren ist in der Natur nicht nachweisbar. Die Liberalen können philosophisch kein Definitionsmonopol für die «wahre Natur des Menschen» für sich beanspruchen und liberale Naturrechtler bezahlen mit einem Bekenntnis zur «Naturgegebenheit» von Werten im erkenntnistheoretischen Diskurs einen hohen – und vielleicht auch zu hohen – Preis. Es gibt in der Ideengeschichte kaum eine Tugend und kaum ein Laster, das man nicht auch schon «aus der Natur des Menschen» abgeleitet hätte.

Ergänzend sei hier (als These) Folgendes zur Diskussion gestellt: Man kann liberal sein, ohne an ein Naturrecht auf Freiheit zu glauben und man kann auch liberal sein, ohne christlich religiös zu sein. Aber: Wer christlich religiös ist und wer an ein Naturrecht auf Freiheit glaubt, gelangt durch konsequentes Nach- und Weiterdenken zu einem strikten Liberalismus. Für alle Einschränkungen zugunsten anderer Wertvorstellungen, insbesondere zu einer Abstützung auf staatlichen Zwang im Hinblick auf mehr Gleichheit und Umverteilung braucht es den Rückgriff auf ein von einem liberal-naturrechtlichen und von einem christlichen Freiheitsverständnis abweichendes Gedankengut.

VOX POPULI VOX DEI?

Das Mehrheitsprinzip ist fast grenzenlos populär, weil es angeblich mindestens der Hälfte der Beteiligten und Betroffenen das vermittelt, was sie sich wünschen und weil man davon ausgeht, dass Mehrheiten am ehesten in der Lage seien, zu bestimmen, was für alle gut sei. Vox populi, vox Dei. Die Formulierung geht angeblich auf Alkuin zurück, der sie in einem Brief an Karl den Grossen – allerdings kritisch – anmerkte.18 Lichtenberg hat in seinen Sudelbüchern die Formel gelobt und gesagt, es sei selten in vier Worten so viel Weisheit verpackt worden.19

Ist nun das Glas des Mehrheitsprinzips halb voll oder ist es halb leer? In einer Diktatur werden schlimmstenfalls alle permanent wider ihren Willen gezwungen. Das kann aber auch beim Mehrheitsprinzip der Fall sein. Wenn dieses nämlich als Ausscheidungsverfahren gegenüber einer Vielfalt von Wahlmöglichkeiten benützt wird, steigt der Anteil an Fremdbestimmung von Wahlgang zu Wahlgang an, und es ist sogar wahrscheinlich, dass in einer pluralistisch zusammengesetzten Gruppe in einem Ausscheidungsverfahren nach Mehrheitsprinzip letztlich überhaupt niemand mehr jene Lösung erhält, die er oder sie selbst spontan für die beste hält.

Das ist die zentrale demokratiekritische Aussage des polnischen Fürsten Leo Sapieha in Schillers unvollendetem Drama «Demetrius»:

Die Mehrheit?
Was ist die Mehrheit? Mehrheit ist der Unsinn,
Verstand ist stets bei wen’gen nur gewesen.
Bekümmert sich ums Ganze, wer nichts hat?
Hat der Bettler eine Freiheit, eine Wahl?
Er muss den Mächtigen, der ihn bezahlt.
Um Brot und Stiefel seine Stimm verkaufen.
Man soll die Stimmen wägen, und nicht zählen;
Der Staat muss untergehn, früh oder spät,
Wo Mehrheit siegt und Unverstand entscheidet.20

Sein Votum stösst allerdings im Reichstag zu Krakau auf empörten Widerspruch. Die Vermutung, dass Schiller im Demetrius sein im «Tell» abgelegtes kommunitaristisches Bekenntnis zur Demokratie wieder relativieren wollte, ist allerdings aus der Luft gegriffen. Im Tell erkennt das Kollektiv auf dem Rütli den richtigen Moment zur Befreiung und spielt als Genossenschaft mit dem starken Individuum Tell freiheitsstiftend zusammen. Demetrius ist hingegen im aristokratischen Umfeld des Zarenreiches angesiedelt. Soweit es die Fragmente erkennen lassen, handelt es sich nicht um ein politisches Stück und somit auch nicht um die aristokratische Antwort auf den demokratischen Tell. Es geht im Wesentlichen um Psychologie, um das Thema «Sein und Schein», um Wahrheit im Spannungsfeld von Eigenwahrnehmung und Fremdwahrnehmung. Das kann man wohl als Hinweis dafür deuten, dass für den Dichter und Historiker in der Weltgeschichte letztlich nicht die Politik, sondern die Psychologie die entscheidende Rolle spielt.

HAYEKS BEDINGUNGEN FÜR EINE KOMPATIBILITÄT VON FREIHEIT UND DEMOKRATIE

Das Mehrheitsprinzip (one person, one vote) ist bezüglich Freiheit zunächst einmal ambivalent und birgt ein beachtliches Gefährdungspotential für die Freiheit. Unter folgenden Bedingungen können sich aber, so lässt sich Hayeks konstruktive Demokratiekritik zusammenfassen, auch Freiheitsfreunde mit dem Mehrheitsprinzip abfinden:

Erstens: Das Mehrheitsprinzip darf ausdrücklich nicht für Verteilungs- und Umverteilungsprozesse verwendet werden.

Zweitens: Das Mehrheitsprinzip ist zunächst auf die Vereinbarung von Regeln über die Wahl und Abwahl der für gemeinsame Angelegenheiten Beauftragten zu beschränken. Dieser Auftrag ist seinem Wesen nach zeitlich und inhaltlich zu beschränken.

Drittens: Das Mehrheitsprinzip eignet sich zusätzlich als Grundlage eines Vetos gegen neue Lasten und Regulierungen. Es ermöglicht eine oft paradoxe, aber gegen «Mehr Staat» wirksame Koalition der Nein-Stimmenden. Es gibt zwar keine psychologischen aber doch entscheidungslogische Gründe, dass eine Ablehnung immer konsensfähiger und mehrheitsfähiger ist als eine Befürwortung, da die Gründe einer Ablehnung immer breiter abgestützt sind als die einer Zustimmung. Deshalb hat das Mehrheitsprinzip oft eine konservative Komponente (selbstverständlich können politische Fragen in Referenden immer so formuliert werden, dass man als Gegner Ja stimmen muss und als Befürworter Nein, das ändert aber nichts an der Tatsache, dass es oft mehr Gründe gibt, etwas Neues gemeinsam abzulehnen als anzunehmen).

Viertens: Das Mehrheitsprinzip ermöglicht eine Einigung über die gemeinsame Abwehr von Gefahren, die man als gemeinsame Bedrohung wahrnimmt. Was für alle schlecht ist, ist konsensfähiger als was für alle gut ist.

Wilhelm Busch hat es in «Die fromme Helene» auf den Punkt gebracht: «Das Gute – dieser Satz steht fest – Ist stets das Böse was man lässt».21 Darum ist das, was man gemeinsam unterlassen soll konsensfähiger als das, was gemeinsam zu tun ist. Die in der Bundesverfassung der Schweiz verankerte Institution des Referendums im Sinne eines stets mobilisierbaren Volksvetos ist aus dieser Sicht freiheitsfreundlicher als die Institution der Volksinitiative, welche die Verfassung immer wieder zur Disposition von Mehrheiten stellt.22

Hayek hat mit den zwei ersterwähnten wesentlichen Einschränkungen seine Befürwortung des demokratischen Verfassungsstaates unterstrichen.

Giacomettis Vorbehalte betreffen die historisch-psychologischen Voraussetzungen der direkten Demokratie.23

Die traditionelle und institutionelle Vernetzung mit einer Art von präexistenter Freiheitsliebe bewirkt eine instinktmässige «Beisshemmung» der Mehrheit gegenüber Minderheiten. Es scheint in funktionierenden Gemeinschaften so etwas zu geben wie eine kollektive Erinnerung an den hohen Wert der kreativen Dissidenz. Die Gemeinschaft braucht das Individuum als die schutzwürdigste aller schutzwürdigen Minderheiten. Das letztlich einstimmige Kollektiv auf dem Rütli braucht und respektiert den Einzelgänger Tell, der sich nicht in die Eidgenossen auf dem Rütli integrieren wollte. Solche politpsychologischen Instinkte sind für das Überleben von Gemeinschaften, die sich auf das Mehrheitsprinzip stützen, essentiell. Sie werden durch das Mehrheitsprinzip nicht geschaffen, sondern haben leider die Tendenz, von Generation zu Generation zu erodieren. Ohne den Instinkt der Skepsis gegen jede Art von Macht läuft das Mehrheitsprinzip Gefahr, jene kreative Dissidenz zum Verschwinden zu bringen, auf die längerfristig auch Mehrheiten angewiesen sind.

Der Minderheitenschutz schützt letztlich die Mehrheit vor dem kollektiven Verdummen, aber mit dem Minderheitenschutz wird auch viel Unfug getrieben. Er dient oft als Einfallstor für Gruppenprivilegien aller Art. Für die aus Russland stammende und in die USA ausgewanderte Libertäre Ayn Rand ist «die wichtigste Minderheit […] das Individuum».24 Mitbestimmung gemäss Mehrheitsprinzip ist kein Selbstzweck. Sie hat gegenüber den individuellen Selbstbestimmungen lediglich einen subsidiären Stellenwert.

FREIHEIT HAT VORRANG

Jede funktionierende Gemeinschaft unter autonomen Individuen beruht auf einer Beweislast zugunsten der individuellen Freiheit. Im Zweifel für die Freiheit. Da Macht, und vor allem politische Macht, generell zu wenig angezweifelt wird, braucht es die Ergänzung: Im Prinzip für die Freiheit. Diese Maxime ist nicht einfach das Credo gemeinschaftsfeindlicher Staatsskeptiker, sie hat auch eine durchaus gemeinschaftsstiftende Komponente. Wer Gemeinschaft positiv bewertet, darf sie nicht auf Zwang aufbauen und die Nachfrage nach Zwang entsteht dann, wenn es immer wieder wechselnde und erhebliche Minderheiten gibt, die andere Ziele und Werte bevorzugen und die von einer Mehrheit daran gehindert werden, diese umzusetzen, und sei es auch nur dadurch, dass man die dazu notwendigen finanziellen Mittel wegsteuert.

Der Zwang, und vor allem der Zwang zum Guten, oder zu dem, was eine Mehrheit für gut hält, macht Vielfalt zur Einfalt und hat insgesamt eine auch für die Gemeinschaft destruktive Wirkung.

Jede kreative Gemeinschaft beruht auf dem friedlichen Wettbewerb, und wenn das Mehrheitsprinzip dazu missbraucht wird, unliebsame Lösungsvarianten auszuschalten, degeneriert es zur Herrschaft der jeweils tonangebenden Populisten.

Was ist nun aber nicht nur mehrheitsfähig, sondern sogar umfassend und dauerhaft konsensfähig? Das ist nichts anderes als die gemeinsame Abwehr einer gemeinsam nichtgewollten Entwicklung und niemals die Herstellung eines gemeinsam gewollten künftigen Zustandes.

Der sogenannte Wirtschaftsliberalismus, fälschlicherweise auch Neoliberalismus genannt, sitzt heute auf der Anklagebank. Er wird weltweit nur von Minderheiten verfochten und verteidigt. Aber ausgerechnet dieses von den Intellektuellen und Etatisten aller Parteien bekämpfte Prinzip ist das – nachweisbar – nachhaltige Erfolgsrezept prosperierender Länder.

Soll man tatsächlich «Mehr Demokratie wagen?»25 Die Demokratie kann sich nur als beschränkte Demokratie erhalten. Die «Geglückte Demokratie», wie ein neueres Buch von Edgar Wolfrum Deutschland zu bezeichnen beliebt26, erhält sich nicht dadurch, dass man in allen Bereichen «mehr Demokratie wagt».

Im Gegenteil: Man muss es wagen, das Mehrheitsprinzip in jene engen Schranken zu weisen, die weder die ökonomische noch die kulturelle Entwicklung einer spontanen Ordnung hemmen. Es braucht dazu das, was Hayek in einem Vortrag im Jahre 1978 postulierte: «Die Entthronung der Politik.» Hayek entwickelte diesen Gedanken an einer Vorlesung in Zürich, der ich als junger Zuhörer mit grossem Interesse gefolgt bin.27 Hayeks zentrales Anliegen war nicht die Ersetzung der Demokratie durch ein autoritäres Regime oder gar die Abschaffung der Demokratie. Im Gegenteil, sein Hauptanliegen bestand und besteht darin, die Demokratie vor der Gefährdung durch den sozialstaatlichen Umverteilungspopulismus zu schützen. Er wollte jenes schrittweise Abdriften in eine kollektivistische Staats- und Wirtschaftsordnung verhüten vor der schon Aristoteles und – wie hier nachgewiesen wurde – auch Giacometti gewarnt hatten:

Eine unbeschränkte Demokratie zerstört sich notwendigerweise selbst, und die einzige Beschränkung, die mit Demokratie vereinbar ist, ist die Beschränkung aller Zwangsgewalt auf die Durchsetzung allgemeiner, für alle gleicher Regeln. Das bedeutet aber, dass alle Eingriffe in den Markt zur Korrektur der Einkommensverteilung unmöglich werden.

Wenn die Sozialisten ehrlich glauben, dass […] die Demokratie ein höherer Wert sei als der Sozialismus, dann müssen sie eben auf ihren Sozialismus verzichten. Denn wenn auch die heute bestehende Form der Demokratie zu Sozialismus treibt, so sind sie im Ergebnis doch unvereinbar. Politik unter diesen Bedingungen führt uns in einen Abgrund. Es ist hohe Zeit, dass wir ihr die Flügel beschneiden und Vorkehrungen treffen, die den gemeinen Mann in die Lage versetzen, «Nein» zu sagen. Die schweizerische Einrichtung der Volksabstimmung hat viel dazu beigetragen, sie vor den schlimmsten Auswüchsen der sogenannten repräsentativen Demokratie zu schützen. (…) Aber wenn die Schweizer ein freies Volk bleiben wollen, müssen wohl auch sie in der Einschränkung der Regierungsmacht noch weiter gehen als sie schon gegangen sind.28

Hayeks «Entthronung der Politik» führt in seinen Konsequenzen zu Giacomettis Staat als Zweckbündnis zur Verteidigung der individuellen Freiheit, nicht mehr und nicht weniger.

ZUSAMMENFASSUNG IN 12 KERNSÄTZEN

  1. Demokratie, die auf dem Mehrheitsprinzip beruht, ist mit liberaler Privatautonomie, die auf dem Freiheitsprinzip beruht, theoretisch nicht kompatibel. Die beiden Prinzipien lassen sich aber in der politischen Praxis kombinieren.
  2. Selbstbestimmung geht vor Mitbestimmung, denn Mitbestimmung bedeutet für die jeweiligen Minderheiten Fremdbestimmung.
  3. Giacometti wird, sofern er überhaupt noch zur Kenntnis genommen wird, meistens als jener Theoretiker bezeichnet, der es in der Nachkriegszeit noch einmal geschafft hat, Freiheit und Demokratie staatsrechtlich zu einem kohärenten Ganzen zu verbinden. Giacometti ist heute sowohl für die Pro-Marktwirtschaft-Libertären als auch für die Pro-Rechtsstaat-Republikaner zu demokratiefreundlich, für die Basisdemokraten zu minimalstaatlich und für die Internationalisten zu lokalistisch und zu eidgenössisch.
  4. «Die Frage nach der Demokratie als Hüterin der Freiheit ist nicht dogmatischer, sondern empirischer Art. Sie geht lediglich dahin, ob Volk und Volksvertretung als Gesetzgeber die Menschenrechte in der Rechtswirklichkeit, also tatsächlich gefährden oder vernichten, und nicht, ob das demokratische Dogma in seinen letzten Folgerungen, in der Idee, zur Vernichtung der Freiheitsidee führe. Das letztere wird zutreffen, damit ist aber noch nichts darüber ausgesagt, ob Volk und Parlament als empirische Gesetzgeber es dazu kommen lassen werden.»29
  5. Eine Mehrheit von Begünstigten kann heute eine Minderheit von betroffenen Zahlenden überstimmen. Das ist politisch nicht nachhaltig praktizierbar und führt zu Vollzugs-, Legitimitäts- und Finanzkrisen.
  6. Eine auf das jeweils Notwendige beschränkte direkte Demokratie, ist funktionsfähig, wenn sie das Wirtschaftliche und die Verteilungsfrage ausklammert und durch «Pro-Kopf Stimmen» «Pro-Kopf Lasten» verteilt.
  7. Demokratische Willensbildung, basierend auf dem Mehrheitsprinzip ist möglich, wenn sie sich inhaltlich, zeitlich und finanziell auf einen möglichst kleinen Ausschnitt aus dem zivilgesellschaftlichen Leben beschränkt und die Mitbestimmung die Ausnahme und die Selbstbestimmung die Regel bildet.
  8. Ohne den Instinkt der Skepsis gegen jede Art von Macht läuft das Mehrheitsprinzip Gefahr, jene kreative Dissidenz zum Verschwinden zu bringen, auf die längerfristig auch Mehrheiten angewiesen sind.
  9. Der Zwang, und vor allem der Zwang zum Guten, oder zu dem, was eine Mehrheit für gut hält, macht non-zentrale Vielfalt zur zentralistischen Einfalt und hat insgesamt eine auch für die Gemeinschaft destruktive Wirkung.
  10. Man muss es wagen, das Mehrheitsprinzip in jene engen Schranken zu weisen, die weder die ökonomische noch die kulturelle Entwicklung einer spontanen Ordnung hemmen.
  11. «Die schweizerische Einrichtung der Volksabstimmung hat viel dazu beigetragen, sie vor den schlimmsten Auswüchsen der sogenannten repräsentativen Demokratie zu schützen.»30
  12. «Aber wenn die Schweizer ein freies Volk bleiben wollen, müssen wohl auch sie in der Einschränkung der Regierungsmacht noch weiter gehen als sie schon gegangen sind.»31

Publiziert in: Ronca René,(Hg.) Liberalismus und moderne Schweiz, Basel 2017, S. 107 ff.


1 Friedrich Schiller, Wilhelm Tell (1803), Zweiter Akt, Szene 2, in: Sämtliche Werke in 5 Bänden, München 2005, Bd. II, S. 964.
2 «Wo ein Volk sich Vertreter gibt, ist es nicht mehr frei», in: Jean-Jacques Rousseau, Du contrat social ou principes du droit politique (1762), Vom Gesellschaftsvertrag oder Grundsätze des Staatsrechts, Stuttgart 2010, S. 73.
3 Ernest Renan, http://www.rutebeuf.com/textes/renan01.html (25.7.2016).
4 Ludwig von Mises, Die Gemeinwirtschaft (1922), Nachdruck der 2. Aufl., München 1981, S. 412.
5 Aristoteles, Politik, Drittes Buch, Kapitel 6, in der Übersetzung von Olof Gigon, Zürich und Stuttgart 1971, S. 148f.
6 «[…] beobachtungsgemäß, historisch und statistisch nachweisbar zeigt sich im Staate eine deutliche Tendenz zur Ausdehnung der öffentlichen bzw. Staatstätigkeiten mit dem Fortschritt der Volkswirtschaft und Kultur auf den Gebieten der beiden organischen Staatszwecke. Diese Ausdehnung erscheint als etwas so Regelmäßiges und lässt sich so deutlich auf ihre inneren Ursachen und Bedingungen zurückführen, dass es statthaft erscheint, von einem «Gesetz» der wachsenden Ausdehnung der öffentlichen (incl. kommunalen), besonders der Staatstätigkeiten zu sprechen», in: Adolf Wagner, Gesetz der wachsenden Staatstätigkeit, erstmals 1863, 1876 in: Grundlegung der Politischen Ökonomie, 1. Aufl., Leipzig 1876, S. 193
7 Hans Hermann Hoppe, Demokratie, ein Gott der keiner ist, aus dem Amerikanischen von Robert Grözinger, Waltrop/Leipzig, 2003.
8 Andreas Kley, Von Stampa nach Zürich, Der Staatsrechtler Zaccaria Giacometti, sein Leben und Werk und seine Bergeller Künstlerfamilie, Zürich 2014.
9 Zaccaria Giacometti, Ausgewählte Schriften, Hrsg. von Alfred Kölz, Zürich 1994, S. 24.
10 Friedrich August von Hayek, Verfassung der Freiheit (1971), 4. Aufl. Tübingen 2005, S. 300.
11 Carl Spitteler, Olympischer Frühling (1905), in: Gesammelte Werke Bd. II, Zürich 1945, S. 9.
12 Zaccaria Giacometti, Staatsrecht der Kantone, Zürich 1941, Nachdruck 1979, S. 169f.
13 Zaccaria Giacometti, Ausgewählte Schriften, Hrsg. von Alfred Kölz, Zürich 1994, S. 24.
14 Hans Kelsen, Vom Wesen und Wert der Demokratie, Tübingen 1920.
15 Giacometti, Schriften, Anmerkung 13, S. 9. (Hervorhebung von R.N.).
16 Immanuel Kant, Grundlage zur Metaphysik der Sitten (1785), in: Werke in sechs Bänden Bd. IV, Frankfurt a.M. 1956–1964, S. 223f.
17 Hans Kelsen, Reine Rechtslehre (1934), 2. Aufl. Wien 1960.
18 https://de.wikipedia.org/wiki/Vox_populi_vox_dei (26. 7. 2016).
19 Georg Christoph Lichtenberg, Aus den Sudelbüchern (1800–1806), Buchstabe D, Berlin 2013.
20 Friedrich Schiller, Demetrius, ein Fragment (1805), Erster Akt, in: Sämtliche Werke in 5 Bänden, München 2005, Bd. III, S. 24.
21 Wilhelm Busch, Die fromme Helene (1872), Gesamtausgabe Bd. 2, München 1943, S. 395.
22 Wolf Linder, Schweizerische Demokratie, Institutionen – Prozesse – Perspektiven. 3., vollständig überarbeitete und aktualisierte Auflage, Bern 2012, S. 272ff.
23 dazu Adolf Gasser: «Nur in einer übersichtlichen, lebensnahen Gemeinschaft vermag sich der Normalbürger das zu erwerben, was man als politisches Augenmass, als Sinn für die menschlichen Proportionen zu bezeichnen pflegt. Nur hier lernt er im täglichen Gespräch die berechtigten Anliegen seiner anders gesinnten und anders interessierten Nachbarn einigermassen begreifen und ihnen Rechnung zu tragen; nur hier entwickelt sich auf dem Boden der Freiheit jenes Minimum an Gemeinschaft, das den Hang zum Autoritarismus wie zur Anarchie wirksam einzudämmen vermag. In diesem Sinne sind und bleiben autonome Kleinräume unersetzliche Bürgerschulen, ohne die gerade der freiheitlich-demokratische Staat in seinen Wurzeln verdorren müsste.» Adolf Gasser, Gemeindefreiheit und die Zukunft Europas, in: Ausgewählte historische Schriften, Basel 1983, S. 463.
24 «Individuelle Rechte sind kein Gegenstand einer öffentlichen Wahl; eine Mehrheit hat kein Recht die Rechte einer Minderheit hinweg zu wählen; die politische Funktion von Rechten ist gerade die Minderheiten von der Unterdrückung durch die Mehrheit zu schützen (und die kleinste Minderheit der Welt ist das Individuum).” Ayn Rand, in: Kapitalismus, Das unbekannte Ideal, aus dem Englischen übersetzt, Rottenburg a.N. 1999, S. 61.
25 Willy Brandt, Regierungserklärung von Bundeskanzler Willy Brandt vor dem Deutschen Bundestag in Bonn am 28. Oktober 1969, in: www.willy-brandt.de/fileadmin/brandt/Downloads/Regierungserklaerung_Willy_Brandt_1969.pdf., S. 2
26 Edgar Wolfrum, Die geglückte Demokratie, Stuttgart 2006.
27 Friedrich August von Hayek, Die Entthronung der Politik, in: Daniel Frei (Hrsg.), Überforderte Demokratie? Sozialwissenschaftliche Studien des Schweizerischen Instituts für Auslandforschung, Bd. 7, Zürich 1978, S. 29f.
28 Ebd., S. 31
29 Zaccaria Giacometti , a.a.O. Anmerkung 13, S. 9.
30 Friedrich August von Hayek, a.a.O. Anmerkung 27, S. 41.
31 Friedrich August von Hayek a.a.O. Anmerkung 29, S. 41

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