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Herrschaft und Widerstand: Aggression als Ursprung der Staatsmacht

Lesedauer: 4 Minuten

(Eigentümlich frei)

Und was wir dagegen tun können

Der vom frühen Karl Marx beeinflusste, staatsskeptische Soziologe und Sozialhistoriker Franz Oppenheimer (1864-1943), übrigens der akademische Lehrer von Ludwig Erhard, vertritt die plausible These, dass Staaten durch Eroberung tendenziell friedlicher, sesshafter Ackerbauern durch tendenziell kriegerische Nomaden entstanden sind. Der Staat ist als „politisches Mittel“ jene Organisation, die auf Dauer die Herrschaft der erobernden Minderheit gegenüber der eroberten Mehrheit, die das „ökonomische Mittel“ verkörpert, sichert.

Oppenheimer schreibt in „Der Staat“ 1907: „Was ist also der Staat im soziologischen Begriffe? Schon die Geschichte des Wortes sagt es uns. Es stammt aus dem Italienischen der Renaissanceperiode. Dort bezeichnete es den, zumeist durch Gewalt zur Herrschaft gelangten, Fürsten samt seinem Anhang: ‚Die Herrschenden und ihr Anhang heißen lo stato, und dieser Name durfte dann die Bedeutung des gesamten Daseins eines Territoriums usurpieren‘, sagt Jakob Burckhardt. So hatte Ludwig XIV. mit seinem hochfahrenden Wort: ‚L’Etat c’est moi‘ in einem tieferen Sinne recht, als er selbst ahnte. In unserem Worte ‚Hofstaat‘ lebt die alte Bedeutung noch fort. Das ist ‚das Gesetz, nach dem er angetreten‘, und das ist der Staat geblieben. Er ist seiner Entstehung nach ganz und seinem Wesen nach auf seinen ersten Daseinsstufen fast ganz eine gesellschaftliche Einrichtung, die von einer siegreichen Menschengruppe einer besiegten Menschengruppe aufgezwungen wurde mit dem einzigen Zwecke, die Herrschaft der ersten über die letzte zu regeln und gegen innere Aufstände und äußere Angriffe zu sichern. Und die Herrschaft hatte keinerlei andere Endabsicht als die ökonomische Ausbeutung der Besiegten durch die Sieger.“

Oppenheimers Modell der politischen Landnahme als Raub von vormaligen Ureigentümern und der darauf basierenden und damit fragwürdigen Existenzberechtigung des Staates ist weltweit sehr häufig beobachtbar, aber doch nicht total generalisierbar. In Nordamerika stießen die Kolonisatoren und Eroberer zum Teil auf nomadisierende Indianerstämme. Der Machtkampf wurde durch die Waffentechnik, durch brutal eingesetzte zivilisatorische Überlegenheit und durch eingeschleppte Krankheiten gewonnen.

Hans-Hermann Hoppe bezeichnet in „Eine kurze Geschichte der Menschheit“ (2015) das Sesshaftwerden der Menschen als anthropologisch höchst bedeutsamen Vorgang, bei dem sich die Sesshaften schrittweise gegen die Nicht-Sesshaften durchsetzten. Dass sich aber in einer späteren Phase aggressive Nomaden und Piraten weltweit sehr erfolgreich als Eroberer und als Beherrscher der Sesshaften etablierten, bleibt bei ihm unerwähnt. Dieser Vorgang ist der historisch vielerorts nachweisbare unfriedliche Ursprung der Staatsgewalt.

Es gibt allerdings auch die friedliche Landnahme durch Urbarmachung von vorher nicht besiedelten Gebieten. Dort wurde Grundeigentum nicht ansässigen Eigentümern weggenommen, sondern der Natur abgerungen. So sind die Alpen besiedelt worden, und das begründet wohl eine legitimere Verwurzelung der Alpenbewohner in ihrer Heimat als die der Eingewanderten aller Nationen. Man hat sein Heimwesen niemandem weggenommen, sondern durch Rodung gewonnen. Der Heimatboden ist durch Eigenleistung und Entbehrung und nicht durch Gewalt erkämpft worden, und man braucht daher als Eigentümer keine besondere Legitimation.

Unter solchen Voraussetzungen ist die genossenschaftliche Staatsgründung plausibel. Es gibt weltweit auch den „eidgenössischen“ Ursprung des Staates, den Staat als Genossenschaft aus dem Geist der Vereinbarung, häufig verbunden mit einer Sezession im Sinne eines Ausstiegs aus übergeordneten Machtgebilden. Sezessionen wecken aber meist den Rachedurst der übergeordneten politischen Systeme, und sie überleben nur dank einer wirksam organisierten militärischen Verteidigung. Es gibt also neben der erfolgreichen militärischen Eroberung als Staatsbegründung auch die erfolgreiche militärische Verteidigung als Überlebensprinzip. Auch in diesem Fall ist der Krieg der Vater des Staates. Staatliche Herrschaft kann sowohl aus dem Geist der Eroberung als auch aus dem Geist der gewaltsamen Verteidigung entstehen. Das müsste man Franz Oppenheimer entgegenhalten. Es gibt Alternativen zum Staat als Herrschaft aus dem Geist der Eroberung. Es gibt in der Geschichte immer auch Sesshafte, die sich letztlich erfolgreich gegen aggressive Nomaden behauptet haben. Kriegsbedingt ist staatliche Gewalt in beiden Fällen. Fatalerweise sind aber häufig auch Staaten, die auf Vereinbarung und Selbstverteidigung gegründet waren, später als Eroberer und Machthaber gegenüber Dritten aufgetreten. Die Eidgenossen haben im 15. Jahrhundert verschiedene „Untertanengebiete“ – die sie „gemeine Herrschaften“ nannten – erobert.

Auch bei der natürlichen Landnahme durch Kultivierung gab es in der Regel präexistente Herrschaftsansprüche von adligen Grund- und Lehnsherren, und meistens wurden diese geltend gemacht, nachdem die Pioniere den Wald gerodet und die Alpen nutzbar und die Verbindungswege gangbar gemacht hatten. Dann holte man die alten Urkunden hervor, die „bewiesen“, dass zum Beispiel Gebiete der Urschweiz als rechtmäßiges, durch Heirat, Eroberung, Kauf oder Schenkung erworbenes Eigentum von Fürstenhäusern und Klöstern betrachtet werden konnten. Der Konflikt zwischen tatsächlichem Besitz und historisch begründeten herrschaftlichen Eigentumstiteln wurde – mindestens teilweise – gewaltsam ausgetragen und endete in der Urschweiz zugunsten der genossenschaftlich organisierten Kleinbauern und der freien Kleinstädte.

Das spricht aus historischer Sicht für die Feststellung, die Bismarck schon vor Franz Oppenheimer bei der Gründung des neuen Deutschen Reiches äußerte, wonach Staaten „durch Blut und Eisen“ geschmiedet würden. Der Staat selbst ist also als Inhaber des Gewaltmonopols kaum je gewaltfrei entstanden. Der amerikanische libertäre Ökonom Murray Rothbard (1926-1995) geht mit seiner Anklage gegen das politische System noch weiter. Für ihn ist nicht nur der Ursprung des Staates auf Gewalt gegründet, sondern sein ganzes Wesen.

Macht ist in Anlehnung an die Definition von Max Weber die Fähigkeit, jemanden gegen seinen Willen zu etwas zu zwingen. Der Staat hat mit dem Zwangsmonopol diesbezüglich natürlich eine Vorzugsstellung. In einer föderalistisch aufgebauten rechtsstaatlich-gewaltenteiligen Demokratie ist aber dieses Zwangsmonopol durch ein Netzwerk von Kritik- und Kontrollmöglichkeiten gebändigt, bei dem auch die Wissenschaft und die Medien eine große Rolle spielen beziehungsweise spielen sollten.

Wie haben sich echte Freunde der Freiheit angesichts der real existierenden Macht des real existierenden Staates zu verhalten? Kapitulieren? Schrittweise Verbesserungen postulieren? Einen „geordneten Rückzug aus Fehlstrukturen“ fordern? „Warten auf den Zusammenbruch“? Oder diesen durch aktiven Widerstand beschleunigen? Gibt es gegenüber der Staatsgewalt graduelle „dritte Wege“ zwischen totaler Anpassung und totalem Widerstand?

Ja, es gibt meines Erachtens eine philosophische und auch eine politische „Bandbreite“, innerhalb der sich liberale Ordnungsstaatsbefürworter, libertäre Staatsskeptiker und zivilrechtsgesellschaftliche Staatsfeinde bei allen Unterschieden durchaus verbünden können, ohne ihre eigenen Idealvorstellungen zu verraten.

Man kann als Freiheitsfreund wenigstens gegen jeden weiteren Staatsausbau und jede weitere Zentralisierung kämpfen. Politische Macht lässt sich nicht problemlos abschaffen, sie lässt sich aber in kleine territoriale und institutionelle Stücke schneiden, die sich gegenseitig konkurrieren, kontrollieren, entgiften und – wenigstens teilweise – Exit-Optionen oder alternative wählbare Vernetzungen und vor allem Lernprozesse durch Vergleich ermöglichen. Und, was ganz wichtig ist: Man kann – auch als klassisch Liberaler – nicht genug vor der Gefahr der großen zentralen, korporatistischen Verbrüderung von Big Government, Big Business und Big Data im globalen „Crony Capitalism“ warnen. Natürlich wird diese „Verbrüderung“ teilweise recht brutal von der real existierenden Staatsmacht erzwungen, aber diese Macht ist nur darum so erfolgreich, weil auf der anderen Seite die opportunistische Bereitschaft zur Kooperation zunehmend vorhanden ist. Vor allem von der „organisierten Wirtschaft“ wird sie als „Weg der Vernunft“ und als alternativlose „Anpassung an Sachzwänge“ in einer real existierenden etatistischen Second-best-Welt angepriesen. Da machen heute leider auch Ordo-Liberale und Klassisch-Liberale und andere Bindestrich-Liberale ziemlich bedenkenlos mit. Sie nehmen dabei in Kauf, dass dadurch die real existierende und im Daseinsvorsorgestaat expandierende Staatsmacht immer weiter verstärkt wird.

Diesen Artikel finden Sie gedruckt zusammen mit vielen exklusiv dort publizierten Beiträgen in der August/September-Ausgabe eigentümlich frei Nr. 175.

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