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G20 und das Wesen des Staates: Konferenzen und Krawalle

Lesedauer: 3 Minuten

Die Demonstrationen gehören dazu

Die G20-Konferenz in Hamburg ist von verschiedenen Printmedien in der Schweiz ungewöhnlich kritisch kommentiert worden, obwohl ja mit Bundesrat Maurer sogar ein Vertreter der Schweizer Landesregierung, wenigstens als Zaungast, eingeladen war. Die „Weltwoche“, die „Neue Zürcher Zeitung“ und die „Basler Zeitung“ kritisierten die Institution G20 als selbsternannte Pseudo-Weltregierung und machten genüsslich auf die mageren Resultate aufmerksam. Auch die gewaltsamen Krawalle wurden thematisiert und als schändliches, offenbar unvermeidbares „Begleitprogramm“ der Konferenz bezeichnet. Tatsächlich stellt sich aber die Frage, ob Konferenzen und Krawalle nicht doch einen direkteren inneren Zusammenhang haben und ob sie letztlich nicht einfach die zwei Seiten derselben Medaille sind. Die gewaltsamen Proteste können auch als notwendiger oder mindestens in Kauf genommener Bestandteil der politischen Manifestation und Selbstdarstellung gedeutet werden. Sie unterstreichen nämlich die Macht der offiziellen Politik mehr als dass sie sie in Frage stellen. „Seht doch, wie mächtig und wichtig diese Leute tatsächlich sind, wenn sie derartige Protestwellen mobilisieren und letztlich doch in Schach halten können!“ Regierungsmacht muss sich weltweit immer wieder als Gegenmacht zum Chaos propagieren. Die Schäden werden bedauert, aber sie werden in Kauf genommen und letztlich als unvermeidbare Begleiterscheinungen vom Staat (das heißt von den Steuerzahlern) großzügig übernommen. Viele Geschädigte bekommen ein neues Auto, und die Autobranche freut‘s. An der Ermittlung der Schuldigen und ihrer Hintermänner ist niemand wirklich interessiert. Das vermindert auch die Ermittlungskosten, die entstehen würden, wenn man die Fiktion eines funktionierenden Strafrechts und eines privaten Haftpflichtrechts aufrechterhalten würde. Machtpolitik offeriert sich als Alternative zum Chaos des Strassenmobs – aber dazu braucht es diesen eben. Der Staat präsentiert sich als Produzent von Freiheit durch Sicherheit, nachdem er Situationen der Unsicherheit zunächst provoziert, nachher in Kauf nimmt und zuletzt die Schäden finanziert. Politik (aller Parteien) inszeniert sich gern als alternativlose Alternative zum Desaster, dann kann man dafür den fürsorglich Beschützten die kontinuierlich erhöhte (Steuer‑) Rechnung schicken.

Eine weitere „Dienstleistung“ der Demonstranten zugunsten der Mächtigen der Welt besteht darin, dass diese ihr Lippenbekenntnis zum Kapitalismus gleich wieder relativieren können, indem sie sich nach der Konferenz auf eine vermittelnde „Position des Ausgleichs“ festlegen und damit signalisieren, dass sie als sensible Politiker den „vernünftigen“ und nicht gewalttätigen Demonstranten eben doch auch noch ein bisschen recht geben. Es gelte eben, einerseits das linke Chaotentum zu bekämpfen, aber andererseits auch nicht ins Extrem eines schrankenlosen Kapitalismus zu verfallen. Diesen müsse man zwar nicht mit Gewalt bekämpfen, aber man müsse ihn einschränken und fesseln – und „ein bisschen recht“ hätten die Demonstranten durchaus. Das stärkt die Mitte-links-Koalition der Sozial-Nationalisten mit internationalistischem Vokabular.

Aus dieser Sicht gehören die Demonstrationen zum Großritual der politischen Selbstdarstellung von Möchtegern-Weltregenten bei Großkonferenzen. Die nationalen Wähler zu Hause sollen doch sehen, wie wichtig und wie berühmt der von ihnen gewählte Machthaber ist. Das alles unterstreicht doch die Macht der offiziellen Politik, die zwar intern Meinungsdifferenzen pflegt, aber keinen Zweifel darüber aufkommen lässt, dass es weltweit „mehr Staat“, „mehr Politik“, „mehr Steuern“, „mehr Umverteilung“ und „mehr soziale Gerechtigkeit“ brauche, weil sonst der Weltfrieden und das Weltklima gefährdet seien. Politik als großartige Friedensbewegung und als Rettung der Welt vor ihrem Untergang. Sie ist der letzte Aufhänger eines weltweit lebenserhaltenden staatlichen Ordo, bei dem „unser Präsident“ beziehungsweise „unsere Bundeskanzlerin“ als Mitglied eines Kartells der Mächtigen das Beste für „unser Volk“ und für die Zukunft der Welt herausholt. Das ist der vorherrschende Mythos des Staates.

In der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts hat eine Sakralisierung des Staates, speziell des Nationalstaates stattgefunden. Der seit dem Mittelalter primär auf ein jenseitiges Leben nach dem Tod ausgerichtete christliche Glaube verlor bei zunehmendem diesseitigem Wohlstand für viele an Attraktivität, und der Glaube und die Hoffnung auf eine bessere Zukunft übertrugen sich auf den Staat. Dieser nahm zunächst die zentralen Lebensbereiche Bildung und Ehe in die Hand. Später wurde er als Sozialstaat und Daseinsvorsorgestaat zur allzuständigen und allmächtigen Instanz, die für Frieden, Sicherheit und Wohlfahrt für alle staatsgläubigen Staatsklienten sorgte. „Was wollen Sie, der Staat ist Gott“, antwortete Ferdinand Lassalle vor über 150 Jahren, als ein staatsskeptischer Sozialist auf die wachsende Staatsmacht aufmerksam machte. Und heute treffen sich die politischen Hohepriester, konferieren und koordinieren folgenlos und hören sich gemeinsam im abgeschirmten Konzertsaal „Freude schöner Götterfunken“ an, während draußen die Autos brennen. Ritual und Gegenritual ergänzen sich.

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