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Verein Gesellschaft und Kirche wohin?
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Stiftung Freiheit & Verantwortung
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Von Robert Nef
Referat gehalten an der Generalversammlung des Vereins «Gesellschaft und Kirche wohin?» vom 28. Juni 2017 in Luzern
Bevor ich die anspruchsvolle und letztlich unbeantwortbare Frage nach einem «Wohin?» aufgreife, stelle ich die einfachere und didaktische Frage:
Was ist «die Gesellschaft» und was ist «die Kirche»? «Die» Gesellschaft gibt es nicht, es gibt nur Gesellschaften und «die» Kirche gibt es auch nicht. Es gibt nur kirchlich organisierte Gemeinschaften. Sicher sind Kirchen als Gemeinschaften von Glaubenden und Hoffenden ein Teil der Gesellschaft, aber sie umfassen nie die ganze Gesellschaft.
Im Alten Testament sind die Glaubenden «das auserwählte Volk», im Neuen Testament werden sie als «Sauerteig» oder als «Salz der Erde» bezeichnet, was darauf hinweist, dass damit nie die Gesamtheit aller Menschen gemeint war. Das mag in einer Zeit, in der sowohl die Mitgliedschaft als auch der Zulauf zu den Landeskirchen in der Schweiz und in ganz Westeuropa abnimmt, ein gewisser Trost sein. Es kommt zu einer Entwicklung «weg vom Oberflächlichen und Selbstverständlichen, rein Traditionellen der grossen Mehrheit», «hin zum bewusst Gewählten, Reflektierten und Aussergewöhnlichen der qualifizierten Minderheiten.» Das muss nicht als Abstieg und Ausstieg gewertet werden. Ich komme darauf am Ende des Vortrags noch zurück.
Ich beginne nicht mit dem «Wohin?» sondern mit den beiden Begriffen «Gesellschaft» und «Kirche». Was ist Gesellschaft?
Der Begriff hat, wie viele Begriffe, eine weite und eine engere Bedeutung. In der weiten Bedeutung ist die Gesellschaft der Oberbegriff für alle Formen der menschlichen Vereinigungen und umfasst Staat, Wirtschaft, Kultur und Religion, die man in der Soziologie mit dem zusammengesetzten Begriff «Sozio-kultur» zu bezeichnen pflegt. Wer die, spätestens seit Platon, klassische Dreiteilung der Gesellschaft anerkennt, unterscheidet unter dem «grossen Dach» des Begriffs «Gesellschaft» Staat, Wirtschaft und «Gesellschaft im engeren Sinn», d.h. im Sinn von Sozio-kultur. Im säkularisierten Begriff Sozio-kultur ist auch die Religion, sind also auch die Kirchen inbegriffen.
Vom deutschen Politiker Friedrich Naumann (1860 – 1919) stammen die drei markanten abgrenzenden Feststellungen zu Staat, Wirtschaft und Gesellschaft:
- Der Staat, das sind wir alle. Der Staat darf nicht alles.
- Die Wirtschaft, das sind wir alle, die Wirtschaft darf nicht alles.
- Und: Die Gesellschaft, das sind wir alle, die Gesellschaft darf nicht alles.
Das ist einerseits ein grosses demokratisches Miteinbeziehen und anderseits ein konsequentes liberales Abgrenzen. Der Deutsche Friedrich Naumann, der für mich als wendiger Politiker keineswegs vorbildlich ist, hat mit diesen sechs Kernsätzen den stets schwierigen aber engen Bezug von Demokratie und Freiheit dargestellt. Für mich sind diese Abgrenzungen zum Individuellen, Persönlichen, Privaten, das Entscheidende.
Und die wichtigste Abgrenzung ist die Abgrenzung des Staates einerseits (als jenem Teil der Gesellschaft, der das Recht hat, Zwang auszuüben) von den beiden andern Bereichen, die auf dem freiwilligen Tausch von Gütern und Dienstleistungen beruhen (Wirtschaft), und auf dem Austausch von Erfahrungen, Ideen und Traditionen, auf Kommunizieren, Erfinden und Gestalten, Leisten, Lernen und Lehren, und wechselseitiger persönlicher Hilfe und Unterstützung (Sozio-kultur).
Ich bin persönlich allergisch gegen jede Art von Zwang, und gegen jede Anmassung von Allmacht, bekenne mich aber aus Überzeugung zum christlichen Glauben. Die Botschaft des vorrangigen Stellenwerts einer auf Gottesliebe bezogenen Nächstenliebe und einer prinzipiellen Entlastung des Menschen, allmächtig und damit allverantwortlich zu sein, bewirkt bei mir mehr Befreiung als Bindung. Aber es gibt keinen Zwang zum Glauben, und ein erzwungener Glaube ist kein Glaube mehr. Freiheit ist die Voraussetzung jedes echten Glaubens, und das ist möglicherweise sein wichtigstes Merkmal und gleichzeitig eine vorrangige Begründung für den Wert der Freiheit.
Ich vertrete den Standpunkt, dass es hilfreich sei, den Bereich des Erkennens dessen, was ist, vom Bereich des Bekennens, dessen was sein soll klar zu trennen und sich nicht auf einen voreiligen Kompromiss einzulassen. Das bedeutet aber nicht, dass das Wissen höher bewertet wird als der Glaube, sondern eher umgekehrt. Nur muss das, was man glaubt, als solches gekennzeichnet werden, und ausser der Wirkungskraft der frei vermittelten und frei gewonnenen Überzeugung darf im Verhältnis zwischen Glauben und Wissen keinerlei Zwang geduldet werden. Eine Organisation mit Zwangsmonopol muss klar getrennt werden von einer Glaubensgemeinschaft, aber sie muss Glaubensgemeinschaften dulden, wenn diese ihrerseits auf Zwangsausübung verzichten. Es gibt allein schon deshalb keinen Zwang zum Glauben, weil ein echter Glaube frei gewählt sein muss und den Test des Zweifels und der allgemeinen Skepsis immer wieder neu zu bestehen hat.
Ausschlaggebend für eine freie Gesellschaft ist auch die Anerkennung jener, die sich entscheiden, an nichts zu glauben. «Ich erhoffe nichts. Ich fürchte nichts. Ich bin frei.» So lautet der selbstgewählte Grabspruch des neugriechischen Dichters Nikos Kazantzakis (1883 – 1957).
Die Erfahrung zeigt allerdings, dass es relativ wenige Menschen gibt, die im Sinne von Kazantzakis wirklich frei sind. Sehr viele negieren zwar den Glauben an einen allmächtigen Gott, ersetzen ihn aber durch den Glauben an einen allmächtigen Staat, der sich mit einer allmächtigen Wissenschaft verbündet, die dann als «Aufklärung von Staates wegen» weiss, was für alle gut ist, und deshalb auch die Macht haben soll, es durchzusetzen. Diese Art von Wissen, die zur Basis einer staatlichen Machtpolitik im Dienst einer objektiv ermittelbaren «sozialen Gerechtigkeit» eingesetzt wird, trägt tatsächlich den Keim des Gefährlichen und Bösen in sich, selbst wenn man eine solche Machtpolitik auf Mehrheiten abstützt.
Die Macht hat auch in ihrem ureigensten Bereich des Glaubens und der Metaphysik einen hellen und einen dunkeln Aspekt, aber sie wird erst dann zur Bedrohung, wenn man sie auf die politische Ebene überträgt und jene liberale Trennlinie zwischen persönlich praktizierter Sittlichkeit und allgemeinverbindlichem Recht überschreitet. Im politischen Bereich muss metaphysische Macht gebunden sein und institutionell entgiftet werden.
Der Staat sollte sich möglichst von allen metaphysischen und traditionellen Mythen verabschieden und sich auf das beschränken, was tatsächlich in einer konkreten Situation in dem Sinne «not – wendig» ist, als die real existierende Not nicht auch ohne Zwangsmonopol zu überwinden wäre. Der Staat muss als Zwangsmonopolist den Nachweis seiner Notwenigkeit auch ohne Metaphysik der Macht erbringen können, und wenn dies nicht möglich ist, wird er überflüssig.
Die Aufklärung mit ihrem von Kant formulierten Weckruf «Habe den Mut, dich deines eigenen Verstandes zu bedienen!» war nicht nur eine philosophisch-weltanschauliche Strömung innerhalb der Sozio-Kultur, sie hatte auch weitreichende Folgen für die Politik, für den Siegeszug der Naturwissenschaft und der technischen Zivilisation und damit auch für die Ökonomie. Sie hat zwei sehr gegensätzliche Welt- und Lebensauffassungen inspiriert, die beide schon in der Philosophie der Antike unterschieden wurden, den Materialismus, der jede Metaphysik und damit auch jede Religion als Verirrung des Denkens abtut und den Idealismus, der die Menschen mindestens ahnen lässt, was jenseits des Materiellen wahr, schön und gut ist. Für Materialisten ist Religion überflüssig, für Idealisten eine potenzielle Quelle der Inspiration. Für Materialisten bedeutet Freiheit einen Zustand, in dem sich die Naturgesetze ungehindert manifestieren, ohne von einem Glauben an übernatürliche Mächte und von der darauf abgestützten Herrschaft von Menschen über Menschen in ihrer Gesetzmässigkeit beeinflusst werden zu können.
Weder ökonomisches Schaffen und Handeln, noch Politik, noch persönliche Suche nach Lebenssinn ist an Dritte delegierbar. Die drei Schichten sollen zwar klar unterschieden werden, sie sind aber aufeinander angewiesen und kommunizieren innerhalb jeder Persönlichkeit miteinander. Darum ist jeder Mensch, in heutiger Terminologie, sowohl homo oeconomicus, als auch homo politicus und auch homo religiosus. Letzterer steht aber an der Spitze der als Pyramide darstellbaren Schichten menschlicher Existenz.
Eine mögliche Deutung des Verhältnisses von Liberalismus, Agnostizismus und Religion habe ich vor Jahren von einem evangelikalen Prediger an einer Tagung der «International Society of Individual Liberty» in Costa Rica gehört. Er war eingeladen, vor einem religiös mehrheitlich skeptischen Publikum zum Thema «Freedom and Christian Faith» zu reden. Geblieben ist mir seine rhetorisch perfekt konzipierte Einleitung: «You can be Libertarian, without beeing Christian, but you can not be Christian, without beeing Libertarian». Seither habe ich ein wachsames Auge auf jene, die versuchen, einen dem Wesen nach materialistischen Sozialismus als christlichen Weg anzupreisen.
Die Judeo-christliche Religion und auch der Islam beruhen auf dem Glauben an die Allmacht Gottes. Friedrich Schiller lässt den «Rütlischwur» mit dem feierlichen Satz enden: «Wir wollen trauen auf den höchsten Gott, und uns nicht fürchten vor der Macht der Menschen.» Gottvertrauen kann also als Voraussetzung für die grundsätzliche Skepsis gegenüber der Macht der Menschen über Menschen gedeutet werden.
Dazu noch eine Anmerkung zur Präambel der Schweizerischen Bundesverfassung, die als Zitat aus dem Bundesbrief von 1291 diesen «Link» zwischen der Allmacht Gottes und der verfassungsrechtlichen Einschränkung der Macht der Menschen zum Ausdruck bringt: «Im Namen Gottes des Allmächtigen!». Urkunden waren im Mittelalter in der Regel im Namen des Landesfürsten oder des Kaisers zu eröffnen. Die Berufung auf den Allmächtigen war also eine Anmassung und eine Frechheit gegenüber der politischen Macht, die mir als Staats- und Machtskeptiker grosses Vergnügen bereitet.
Ich habe auf den machtskeptischen Geist der Aufklärung hingewiesen, von dem auch so unterschiedliche Charaktere wie Kant, Lessing, Pestalozzi und Schiller geprägt waren. Er steht auch am Anfang jener sowohl liberalen als auch sozialistischen Strömung, die das 19. Jahrhundert eröffnet hat und im konservativen Geist der Romantik ihre Gegenströmung fand. Das 19. Jahrhundert gilt mit guten Gründen als ein Jahrhundert der Naturwissenschaft, der Industrialisierung und der Säkularisierung. Erstmals fand eine grössere Zahl von Intellektuellen den Mut, sakrale, religiöse Macht in Frage zu stellen. Doch leider wurde, ohne dass dies generell thematisiert worden wäre, der Glaube an die Allmacht Gottes durch einen oft blinden Glauben an die Allmacht der Wissenschaft und des Staates ersetzt. Die religiös fundierte Caritas wurde schrittweise durch die Zwangssolidarität in sozialstaatlichen Einrichtungen abgelöst, und die Machtgier der konkurrierenden Nationalstaaten und Kolonialimperien mündete im 20. Jahrhundert in die Katastrophe der beiden Weltkriege.
Wie die Gier nach immer mehr Macht beim Materiellen beginnt und schliesslich in den Wunsch, selbst der Allmächtige Gott zu sein, mündet, zeigt das von den Brüdern Grimm überlieferte Märchen:
«Vom Fischer und siner Fruu». Ein armer Fischer fängt einen geheimnisvollen Fisch, einen verzauberten Prinzen, der sprechen kann und der für seine Freilassung die Erfüllung eines Wunsches verspricht. Die Frau des Fischers wünscht sich zunächst ein schöneres Haus, dann ein Schloss und die weltliche Macht einer Königin, dann die geistliche Macht als Päpstin. Die ganze Stufenleiter gierig gesteigerter Wünsche gewährt der Fisch. Zuletzt will die Frau die Allmacht Gottes und sitzt nach diesem ins masslose gesteigerten Wunsch wieder in ihrer kleinen Fischerhütte.
Zum Abschluss dieses Vortrags möchte ich noch einmal auf die Frage «Wohin?» zurückkommen. Ich gehöre bei der Frage nach der Zukunft der christlichen Kirchen und nach der Zukunft des christlichen Glaubens nicht zu den Pessimisten. Es wird, wie immer im Lauf der Geschichte, zu Veränderungen und Gewichtsverlagerungen kommen, aber kaum zu einem totalen Traditionsbruch.
Sicher wird heute das Leben vor dem Tod zunehmend als wichtiger wahrgenommen als das Leben nach dem Tod, aber die Vorstellung von einem «Himmelreich», d.h. von einer besseren Welt, die «inwendig in uns» sei und schon in diesem Leben angelegt, ist nicht unbiblisch und ich bin überzeugt, dass die christliche Religion diese zum Teil neue Auffassung und Abgrenzung von «Diesseits» und «Jenseits» assimilieren wird. Möglicherweise war auch die vom Mittelalter bis in die Barockzeit ausgeprägte Ausrichtung des eigenen Lebens auf ein Leben nach dem persönlichen Tod auch nur zeitgebunden und nicht urchristlich.
Der Staat beruht auf dem Monopol des Zwangs und die Staatsmacht ist in einer Demokratie durch Mehrheiten legitimiert.
Dazu eine Anekdote, die leider immer noch aktuell ist:
Als ein Fortschrittler dem Sozialisten Ferdinand Lassalle vorhielt, dass er mit seiner Sozialpolitik dem Staat Unmögliches zumute, erwiderte dieser: «Was wollen Sie? Der Staat ist Gott!“. Der allmächtige umverteilende Sozialstaat sollte nach sozialistischer Vorstellung jene Vorstufe bilden, in deren Rahmen das Absterben des Staates und seine Ablösung durch die klassenlose Gesellschaft gemeinsam einzuüben und einzugewöhnen wären. Dass dieser Weg vom zunächst totalen Staat zu einer idealerweise frei nach Bedürfnissen und Fähigkeiten und jenseits der Geldwirtschaft tauschenden Gemeinschaft auf einem gefährlichen Aberglauben beruht, haben inzwischen die zahllosen und ausserordentlich opferreichen staatssozialistischen Experimente des vergangenen Jahrhunderts gezeigt.
Funktionierende Gesellschaften beruhen auf der letztlich freiwilligen Befolgung und Weitervermittlung von tradierten sozialen und kulturellen Werten, die an vorhandene und entwicklungsfähige allgemeinmenschliche Befindlichkeiten anknüpfen.
Die Kirche beruht auf ihrer Kraft, ein Gefäss der Gemeinschaft der Glaubenden, Liebenden und Hoffenden zu bilden.
Die grosse Hoffnung jener, die den Gottesglauben durch einen blinden Glauben an den allmächtigen Staat ersetzt haben, wird sehr wahrscheinlich früher oder später schwer enttäuscht werden. Der umverteilende Bevormundungsstaat scheitert nämlich an der Tatsache, dass die Politik stets mehr verspricht, als sie halten kann. Zudem kann sie keine Zufriedenheit erzeugen, weil jene, die auf der Empfängerseite sind, nie zufrieden sind und die Politiker davon leben, bei ihrer jeweiligen Wählerschaft, diese Begehrlichkeiten anzustacheln oder mindestens zu hegen. Ein Beispiel dafür ist jene Definition der Armut, die so vorgenommen wird, dass es auch in zunehmend wohlhabenden Gesellschaften ein immer gleich grosses Segment an «Armen» und «Bedürftigen» gibt.
Das politische System verlagert immer mehr finanzielle und soziale Bürden auf die Schultern der Jungen und der noch nicht Geborenen und steuert auf eine Verschuldungs- , Finanzierungs- und Glaubwürdigkeitskrise hin, die auf die Dauer seine Funktionsfähigkeit in Frage stellen. Viele Junge stellen nicht mehr in erster Linie die ideologische Frage «Was ist gerecht?», sondern die pragmatische Frage «Was funktioniert auf die Dauer?» Denn, was nicht finanzierbar ist und darum nicht funktioniert, kann weder befriedigend noch gerecht sein.
Kurz: Das Ende der erzwingbaren Staats- Wirtschafts- und Kulturgemeinschaft ist absehbar, während Gemeinschaften, die auf die freiwillig praktizierte Nächstenliebe aufbauen, Jahrhunderte überdauert haben, obwohl sie sehr oft in Frage gestellt, verfolgt, missbraucht und belächelt worden sind.
Allerdings: Auch Religion kann zur Anmassung führen, und feste Überzeugungen verleiten dazu, diese andern aufzudrängen. Religiös fundierte Macht ist nur dann freiheitsverträglich, wenn sie Widerspruch toleriert und Bekenntnisse nicht unter dem falschen Deckmantel objektiver Erkenntnisse vertritt.
Also: Wohin?
Das Gegenstück zur Anmassung ist Demut, Demut im wörtlichen Sinn von Dienst –Mut. Der Mensch darf und soll sich in den Dienst einer Idee, einer Sache und auch einer Personengruppe stellen, aber er soll von niemandem dazu gezwungen werden, und er soll auch niemanden dazu zwingen. Echter Dienst ist intrinsisch motiviert. Ideal ist nicht die Unabhängigkeit, die es in reinster Form ohnehin nicht gibt, sondern die frei gewählte und vertraglich, verträglich selbst bestimmte Abhängigkeit mit Exit Option.
Dann kommt das Individuum dem Ziel nahe, dass es Macht nicht «besitzt» und «ausübt», sondern ausstrahlt. Der amerikanische Schriftsteller Henry Miller (1891 – 1980), den man gelegentlich auch als Soft-Porno- Schriftsteller abgetan hat, formuliert dies in seinem 1944 erschienen Roman «Sunday after the War» wie folgt: «Der Mensch wird begreifen müssen, dass Macht offen bleiben muss, fliessend und frei. Sein Ziel wird es sein, nicht Macht zu besitzen, sondern auszustrahlen.»
Die Macht des Befehls und des Zwangs wird so durch die Macht der Zuwendung und der Liebe überwunden. Damit ist aber die sakrale Macht nicht endgültig entgiftet. Wahrscheinlich muss emotionale Demut mit rationaler Skepsis verknüpft werden: Skeptische Demut oder demütige Skepsis.
Man kann es auch anders formulieren. Das «Wohin?» muss ein Horizont der Freiheit sein, aber Freiheit nicht als Freipass zur Beliebigkeit und zur persönlichen Willkür, sondern Freiheit in den Schranken einer persönlich bestimmten Verantwortung: «Freiheit &Verantwortung», wie es im Namen jener Stiftung heisst, die der Verein «Gesellschaft und Kirche wohin?» gegründet hat. Aus dieser Sicht kann m.E. das kleine Fragezeichen gestrichen werden. Ich habe es stets als störend empfunden, einen Verein zu präsidieren, der sich mit einem Fragezeichen schmückt. Das grosse und herausfordernde Fragezeichen bleibt natürlich: Wie kann man persönlich und gemeinsam mit andern Freiheit und Verantwortung am nützlichsten und fruchtbarsten verbinden? Sicher mehr durch Taten als durch Worte.
Dies ist mein Wunsch für die Zukunft der beiden aufeinander bezogenen Institutionen. Gesellschaft und Kirche wohin? zu «Freiheit und Verantwortung».
Robert Nef, Präsident des Vereins «Gesellschaft und Kirche wohin?» (2010 – 2017), Vizepräsident der Stiftung Freiheit & Verantwortung, langjähriger Präsident der Stiftung für Abendländische Ethik und Kultur (STAB) und Mitglied des Stiftungsrates des Liberalen Instituts.