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Primat der Politik: Ein religiöser, ökonomischer und historischer Irrtum

Lesedauer: 10 Minuten

(Eigentümlich frei)

Plädoyer wider den Glauben an den allmächtigen Staat

Mein erster Kontakt mit dem großen Freiheitsdenker Roland Baader war die Mitwirkung an einem Sammelband, zu dem ich einen Aufsatz mit dem Titel „Keine Freiheit ohne Verantwortung – keine Verantwortung ohne Freiheit“ beigetragen habe, ein Text, der in den seither vergangenen 22 Jahren nichts an Aktualität eingebüsst hat. Das Buch, das liberale Positionen zu Sozialstaat und Gesellschaft publik macht, trägt den etwas verwirrenden Titel „Die Enkel des Perikles“. Roland Baader wollte damit an die berühmte Rede des Perikles an die Gefallenen erinnern, in der das Geheimnis der Freiheit beim Mut geortet wird, sicher mit guten Gründen.

Eine andere herausragende Figur aus der griechischen Antike ist der Athener Themistokles. Unter seiner Führung haben die Griechen 480 vor Christus dem Angriff der Perser standgehalten und die persische Flotte in der Schlacht bei Salamis besiegt. Das historische Ereignis gilt als entscheidende Abwehrschlacht des freiheitlichen Staatenbundes der Griechen, die sich als Vorposten Europas gegen den Angriff der Großmacht der Perser erfolgreich zur Wehr setzten. Das vielfältige, individualistische Europa gewinnt gegen die zentralistische asiatische Despotie, ein Ereignis mit welthistorischen Folgen. In der Sorge vor der anrückenden Großmacht hatten die Athener das Orakel von Delphi befragt und von diesem den vieldeutigen Rat empfangen: Verteidigt euch hinter den hölzernen Mauern! Da niemand wusste, wo und wie diese zu errichten seien, deutete Themistokles die „hölzernen Mauern“ als kleine bewegliche Kriegsschiffe. Und diese schnell erbaute Flotte erwies sich dann in der Schlacht bei Salamis tatsächlich als höchst wirksame Abwehr gegen die schweren Schiffskolosse der Perser. Zudem konnten diese Schiffe nach dem Krieg auch als Handelsschiffe benutzt werden. Der Seehandel wurde in späteren Zeiten eine Basis des ökonomischen und kulturellen Aufstiegs des von Athen geführten Attischen Seebundes. Die Verwendung einer Kriegsflotte als Handelsflotte ist die nautische Version der Verwandlung von Schwertern zu Pflugscharen.

Man kann im Krieg, wie der Philosoph Heraklit, den „Vater aller Dinge“ sehen. Die Mutter aller Dinge ist aber der Tausch, das heißt: die Ökonomie und der Handel. Der Staat ist „kriegsgeboren“, die Ökonomie blüht besser im Frieden, und durch die Förderung des Gegenseitig-aufeinander-angewiesen-Seins von Händlern und Kunden fördert sie auch diesen Frieden. Die griechische Philosophie hat einen wesentlichen, bis heute aktuellen Beitrag zur Entdeckung der Freiheit und des Individuums geleistet. Sie hat aber auch einen Grundstein gelegt zu jener Überbewertung des Staates und der Politik, unter der wir heute weltweit leiden. Ein Primat der Politik bildet bis heute die Basis des ziemlich unerschütterlichen Staatsglaubens aller staatsabhängigen Klienten im heutigen Daseinsvorsorgestaat – und das ist zahlenmäßig eine erhebliche Mehrheit.

In Anlehnung an den bekannten Ausspruch des Wiener Komödiendichters Johann Nepomuk Nestroy, „Die Phönizier haben das Geld erfunden, aber warum so wenig?“, könnte man die Vorliebe der Griechen für alles Politische wie folgt parodieren: „Die Griechen haben die Politik erfunden, aber warum so viel?“

Die Antwort gibt die damalige Gesellschaftsordnung, in der „die freien Männer“ keiner Erwerbsarbeit nachgingen und diese den Sklaven, den Frauen und den Privatleuten überließ, die man übrigens „Banausen“ oder „Idioten“ nannte. Dem freien Bürger von Athen blieb als Beschäftigung nur noch die Politik, die Philosophie und das Theater. Als Nebenbeschäftigung trieben die jungen Männer Sport, und die älteren trafen sich beim Symposion, also beim Saufgelage.

Der Glaube an den allmächtigen Staat geht auf Platon und Aristoteles zurück, und er ist im Zeitalter der Renaissance, des Absolutismus, der Aufklärung, der Säkularisierung und der Weltkriege eher bestätigt als erschüttert worden. Zuoberst stand aber die Politik, und die politischen Geschicke sollten, weil sie das Schicksal aller bestimmen, nach der Lehre Platons vom Stand der Philosophen, das heißt von den Intellektuellen geleitet werden. Auch sein Schüler Aristoteles hat den Menschen als „Zoon politikon“, als das politische Lebewesen definiert. Diese Irrlehre wirkt bis heute in ganz Europa noch nach, und sie ist eine der Wurzeln des Glaubens an den allmächtigen Staat, jenes Glaubens, der aufgrund seiner weiten Verbreitung den Staat tatsächlich so mächtig werden ließ und immer noch werden lässt.

Das Schlimme an diesem Staatsglauben ist die Tatsache, dass er sich bis in den Alltag hinein empirisch bestätigt. Der Staat hat so viele lebenswichtige Positionen in den Händen, dass er in verschiedenster Hinsicht derart überlebenswichtig und derart schicksalsbestimmend geworden ist, dass der Begriff „Allmacht“ tatsächlich nicht aus der Luft gegriffen ist. Der Glaube an den allmächtigen Staat als Inhaber des Gewaltmonopols wird von den Alltagserfahrungen immer wieder gestützt. Und wenn sich trotzdem immer wieder auch Zweifel bemerkbar machen, fordern die meisten Zweifler nicht weniger Staat, sondern mehr Staat, oder mindestens einen anderen, besseren Staat.

Die Verachtung der alten Griechen für die Erwerbsarbeit und für den ganzen Bereich der Wirtschaft wirkt bei vielen Intellektuellen bis heute noch nach. Feldarbeit, Fabrikarbeit, Gewerbe und vor allem Handel sind aus dieser Sicht notwendige Übel. Vor allem die Dienstleistungen und der Handel und alles, was mit Spekulation zu tun hat, sind, wenn man sie frei geschehen lässt, wenig ehrenvolle Bereiche der Ausbeutung und des Sich-gegenseitig-Bescheißens. Diese Aktivitäten darf es nur unter bürokratischer Aufsicht und innerhalb von staatlich gesetzten Schranken geben.

Es ist wohl kein Zufall, dass Karl Popper in seinem Buch „Die offene Gesellschaft und ihre Feinde“ vor allem mit drei Staatsphilosophen abgerechnet hat, die für ihn die Hauptfeinde der Freiheit waren: Platon, Hegel und Marx. Platon hat in seinem Idealstaat eine klassische Arbeitsteilung postuliert, die später zum Modell der Etatisten aller Parteien geworden ist. Zuoberst stehen die politischen Lenker, die Philosophen, also die Intellektuellen, die den anderen vorschreiben, was gut ist für alle, weil sie es – angeblich – besser wissen. In der Mitte stehen die Wächter, also die Soldaten, Polizisten und Bürokraten, die die gewaltsame Verteidigung sicherstellen und Überwachungsaufgaben im weitesten Sinn wahrnehmen. Und zuunterst stehen die berufstätigen Privatleute, die unter der Aufsicht der beiden anderen (in der Nische, die sowohl linke als auch rechte etatistische Regime zulassen) das wirtschaftliche Überleben sicherstellen.

Diese Vorstellung hat sich dann zur mittelalterlichen Lehre von den drei Ständen entwickelt, die bis heute nachwirkt. Der Nährstand als ökonomische Basis, der Wehrstand als Ordnungshüter und Verteidiger, und der Lehrstand, der die Ideologie liefert, die das System erhält, legitimiert und dessen Sinn stiftet. Im Lauf der Geschichte haben sich dann der Wehrstand (das heißt: die Ritter und die Adligen) mit dem Lehrstand, dem Klerus, verbandelt. Die Angehörigen stammten ja oft aus denselben Familien. Und der Nährstand wurde zum Zudienen und Besteuertwerden verknechtet. Dies alles wirkt bis heute nach. Der „Klerus“, das sind heute die tonangebenden Intellektuellen an den Universitäten und in den Medien, die der politischen Klasse der Bürokraten und der Kleptokraten zudienen und deren Legitimation sicherstellen.

Es gibt immerhin ein Land in Europa, das die Verwirklichung der antik-mittelalterlichen Ständegesellschaft verweigert hat: die alte Eidgenossenschaft, ein Schulbeispiel der Gegenläufigkeit. Ein Sonderfall. Der Nährstand hat sich selbst bewaffnet, und er hat sich nach innen und außen erfolgreich gegen eine Unterdrückung durch Adlige und Kleriker gewehrt, die es zwar gab, die aber keine bestimmende Rolle gespielt haben. Der Landesheilige „Bruder Klaus“ war ein Landwirt aus Obwalden, des Lesens und Schreibens unkundig, ein Familienvater, der sich in der zweiten Lebensphase in eine Klause zurückgezogen hat. Seine politischen Ratschläge, die Mäßigung und Toleranz betreffen, sind heute noch gültig. Das Milizprinzip, nach dem es dieselben Menschen sind, die einem Erwerb nachgehen, die Armee verkörpern und die Politik bestreiten, gilt nach wie vor, auch wenn es leider zunehmend verwässert wird. Politik ist in der Schweiz bis heute kein Vollzeitberuf, und politische Ämter waren bis weit ins 20. Jahrhundert hinein unbezahlte Ehrenämter.

Die Identität von Nährstand und Wehrstand ist, wie das der Politologe Karl W. Deutsch in seinem bemerkenswerten Essay über die Schweiz („Die Schweiz als paradigmatischer Fall politischer Integration“) festhielt, ein historischer Sonderfall. Die Eidgenossen haben die europaweit und weltweit beobachtbare Unterwerfung des Nährstandes unter den Wehrstand weitgehend verhindert. Natürlich hat dabei auch das Söldnerwesen eine Rolle gespielt. Die kriegerischen Auseinandersetzungen zwischen „Stadt“ und „Land“ sind in der Schweiz – ebenfalls atypisch – zwar nicht immer, aber doch in entscheidenden Fällen vom „Land“ gewonnen worden. Nur die Schweiz kennt ein Kartenspiel, den Jass, in dem der Bauer alle anderen Karten, auch den König und das As, sticht. Das As, das über dem König steht, nennt man übrigens, durchaus vieldeutig, in der Schweiz auch „die Sau“, die über dem König steht, aber vom Bauer gestochen wird. „Hoher Sinn liegt oft in kindschem Spiel.“

Das höchste Loblied auf den Staat, insbesondere den Nationalstaat, stammt vom deutschen Philosophen Hegel, die bissigste Kritik vom französischen Freiheitsdenker Claude Frédéric Bastiat. Das Spannungsfeld sei anhand von zwei Zitaten gezeigt: Zuerst Hegel: „Im Staat allein hat der Mensch wirkliche Existenz. Alle Erziehung geht dahin, dass das Individuum nicht ein Subjektives bleibe, sondern sich im Staate objektiv werde. Allen Wert, den der Mensch hat, alle geistige Wirklichkeit, hat er allein durch den Staat. Die Natur des Staates ist aber die Einheit des objektiven, des allgemeinen Willens, der subjektive Wille ist dahin enthoben, dass er seiner Besonderheit entsagt.“

Die im Wohlfahrtsstaat zunehmend aktuelle kritische Charakterisierung des Staates stammt ebenfalls aus dem 19. Jahrhundert vom katholischen Franzosen Frédéric Bastiat: „Der Staat ist die große Fiktion, mit deren Hilfe jeder auf Kosten des anderen leben will.“ Der Staat als Fiktion und nicht als verwirklichte Vernunft, das ist das präzise Gegenteil von Hegels Meinung. Dass es kaum möglich ist, zwischen der etatistischen These von Hegel und der antietatistischen These von Bastiat eine vernünftige Synthese zu finden, leuchtet ein. Auch die Wahrheit kann nicht in der Mitte liegen, denn das Problem liegt in der Mitte. In Anknüpfung an Bastiat hat ein unbekannter Autor den Staat folgendermaßen charakterisiert: „Der demokratische Staat ist jene Organisation, die von den Reichen das Geld und von den Armen die Stimmen holt, beides unter dem Vorwand, die einen vor den anderen zu schützen.“ Diese Umschreibung zeigt, warum der Staat zwar keine „sittliche Idee“ ist, aber eine relativ robuste Zweckgemeinschaft.

Die von Hegel propagierte Begeisterung für den Nationalstaat als Hort des Rechts und als einzigen Garanten für Kultur, Toleranz und Freiheit wird von Etatisten aller Parteien fast kritiklos übernommen und auf bürokratische Staatenverbünde übertragen. Es ist zuzugeben: Der Staat hat heute einen Einfluss, der unser Leben wesentlich mitbestimmt. Die Politik spielt daher eine Schlüsselrolle. Sie gilt als zentrales soziales Problemlösungsverfahren, indem sie den Staat als Inhaber des Zwangsmonopols in Verbindung mit einer „demokratischen Legitimation“ zu einer gerechteren und wohlhabenderen Gesellschaft führen soll.

Der Vorrang des Staates und der Politik wird heute – im Einklang mit Hegel – immer noch als zwingende Folge einer historisch-dialektischen Entwicklungslogik gedeutet, die angeblich vom Lokal- und Feudalstaat über den Nationalstaat zu kontinentalen Zusammenschlüssen zu einer globalen politischen Weltordnung führt. Zu Recht ist dies aber von Freiheitsfreunden und Staatsskeptikern als zwar weit verbreiteter, aber gefährlicher Mythos entlarvt worden, unter anderen von so unterschiedlichen Autoren wie Frédéric Bastiat (allen voran!), Ernst Cassirer, Franz Oppenheimer, Anthony de Jasay, Gerard Radnitzky und Murray Rothbard, Roland Baader und Hans-Hermann Hoppe.

Politik ist heute von der Ambivalenz gegenüber dem umverteilenden Daseinsvorsorgestaat geprägt. Der Glaube an dessen Garantie für zunehmende gemeinsame Wohlfahrt paart sich heute mit Zweifeln an einer nachhaltigen Finanzierbarkeit in immer größeren und grenzüberschreitenden Gebieten. Einerseits erwarten die Bürger und Steuerzahler alle Wohltaten, die ihnen von den gewählten Politikern versprochen werden. Andererseits nimmt angesichts der Tatsache, dass in der Politik stets mehr versprochen wird, als gehalten werden kann, die Zahl der Frustrierten zu und die Zahl der Zufriedenen ab. Immer mehr gemeinsame Probleme werden von der politisch aktiven Generation durch Verschuldung auf kommende Generationen überwälzt.

Der deutsche Protestant Hegel sah in einem als Rechtsstaat organisierten Nationalstaat den Hort der Kultur und den Garanten der Freiheit. Im Gegensatz dazu kritisierte später der katholische Franzose Frédéric Bastiat den Staat als eine Fiktion, die letztlich auf einer Kumulierung von feigem Opportunismus und gefährlichen Irrtümern über die nachhaltige Finanzierung beruht. Die aktuellen Profiteure des Umverteilungsstaates sind auch in einer direkten Demokratie zunehmend mehrheitsfähig und daher tonangebend. Die repräsentative Demokratie kann dagegen nichts ausrichten, denn Repräsentation heilt diesen Mangel nicht. Die in der Regel „besser ausgebildeten“ Volksvertreter stimmen bei Verteilungsfragen nicht rationaler ab als die bildungsfernere Volksmehrheit. Eine Erhöhung der politischen Rationalität durch Repräsentation sowie durch „politische Aufklärung“ durch ein staatlich dominiertes Bildungswesen ist eine idealisierte Vorstellung von Intellektuellen, die an ein Primat einer von ihnen inspirierten Politik glauben.

Die Abgrenzung von „emanzipatorischer Beeinflussung“ von einer eigentlichen machterhaltenden Regierungspropaganda fällt dabei schwer. Die Politik der „Gebildeten“ ist nicht besser als die Politik des bildungsferneren Durchschnitts. Sie bringt ebenfalls zum Ausdruck, wer von wem durch welche Art der Umverteilung mehr Erwartungen an eine finanzielle Besserstellung hat. Sie ist eher ein Wettbewerb der hohlen Hände um eine Besserstellung als Umverteilungsempfänger, als Infrastruktur-Benutzer und als Steuerzahler denn eine Auseinandersetzung zwischen klugen und hohlen Köpfen. Dass es dabei um Erwartungen und Hoffnungen geht, die letztlich unberechenbar und unvorhersehbar sind, erhöht das Emotionale und das Spekulative an der Politik. Diese Komponenten können aber in einer hochkomplexen Welt rein intellektuell nicht wirksam reduziert werden. Der Mythos des Staates nährt sich von sehr vielfältigen Motiven.

Wenn in der Frührenaissance die Bürger von italienischen Stadtstaaten (zum Beispiel in Lucca) Christus zum obersten Regenten ihrer „respublica“ wählten, so war dies nicht in erster Linie ein Akt der Frömmigkeit, sondern ein Versuch, politische Macht religiös einzuschränken. Der Gottesglaube ist in Europa als gemeinsame Basis des Zusammenlebens im 18. und 19. Jahrhundert schrittweise durch den gemeinsamen Glauben an die Vormacht des säkularisierten Staates abgelöst worden. Aus der Sicht Hegels war dies ein zivilisatorischer Fortschritt. Im 20. Jahrhundert verlagert sich dieser häufig blinde und darum auch oft enttäuschte Glaube an den Nationalstaat auf kontinentale und globale politische Zusammenschlüsse wie etwa die Europäische Union. Heute braucht es zur Rettung der Freiheitsidee mehr Bastiat und weniger Hegel.

Das 19. Jahrhundert ist das Jahrhundert der Säkularisierungen. Die Allmacht Gottes wurde zunächst durch eine Allmacht der Wissenschaft in Frage gestellt. Und durch eine Verknüpfung von Wissenschaft, beziehungsweise von dem, was man für Wissenschaft gehalten hat, mit der politischen Macht wurde die Basis geschaffen für den Übergang vom allgemeinen Glauben an den allmächtigen Gott zum Glauben an den allmächtigen Staat. Bestimmt gibt es Menschen, die an ihrem Gottesglauben festhalten (auch Roland Baader gehörte dazu, und ich selbst zähle mich auch zu dieser Gruppe), und bestimmt gibt es auch starke und charakterfeste Menschen, die es fertigbringen, als Agnostiker weder an eine metaphysische noch an eine pseudowissenschaftliche noch an eine politische Macht zu glauben, aber eine sehr große Zahl fühlt sich durch einen gemeinsamen Glauben verbunden, und das ist der Glaube an die Allmacht des Staates. Dieser ist natürlich – wie jeder Glaube – stets auch mit Zweifeln und Frustrationen verbunden. Sie äußern sich, wenn dieser allmächtige Staat nicht genau so tickt (und zahlt!), wie man es sich wünscht. Dann wünscht man sich aber nicht weniger Staat, sondern einen anderen, möglicherweise noch allmächtigeren Staat, auf den sämtliche Hoffnungen und Wünsche projiziert werden.

Dazu eine Anekdote, die illustriert, dass die Säkularisierung die metaphysischen Vorstellungen über Quellen der Macht nicht überwunden, sondern nur verschoben hat: Als ein Fortschrittler dem Sozialisten Ferdinand Lassalle vorhielt, dass er mit seiner Sozialpolitik dem Staat Unmögliches zumute, erwiderte dieser: „Was wollen Sie? Der Staat ist Gott!“

Der allmächtige umverteilende Sozialstaat sollte nach sozialistischer Vorstellung jene Vorstufe bilden, in deren Rahmen das Absterben des Staates und seine Ablösung durch die klassenlose Gesellschaft gemeinsam einzuüben und einzugewöhnen wären. Darauf beruht der sozialistische Irrglaube: Man kann durch eine Verabsolutierung und Totalisierung einer Institution namens Staat, in dem alle von allen abhängig gemacht werden, durch einen „großen Sprung“ zu einer „klassenlosen Gesellschaft“ ohne Staat gelangen. Es ist eigentlich erstaunlich, wieviele Gläubige eine solche Lehre weltweit – vor allem auch unter Intellektuellen – gefunden hat. Praktisch hat es nach Orgien der Verstaatlichung nie auch nur die geringsten Anzeichen zu einem natürlichen Absterben des Staates gegeben. Im Gegenteil, eine Transformation, ein Ausstieg aus einer verstaatlichten Wirtschaft und Gesellschaft, ist als „Entwöhnungskur“ sowohl schmerzhaft als auch hochkomplex.

Schon am Ende des 18. Jahrhunderts wurde das Janusgesicht der Französischen Revolution erkannt. Sie brachte zwar die Befreiung vom mehr oder weniger sanft bevormundenden Feudalstaat, aber mit ihrer Vergötterung der Rationalität und der Verabsolutierung der Volkssouveränität und des Primats der Politik nährte sie die gefährliche Illusion, Politik und Staat seien die wahren Garanten und Vermittler von Frieden, Freiheit, Wohlstand und kollektivem Glück. Der Dichter Hölderlin hat diesen Irrweg schon früh erkannt: „Immerhin hat das den Staat zur Hölle gemacht, dass ihn der Mensch zu seinem Himmel machen wollte.“

Das den Liberalen vorschwebende Ideal eines lediglich für „Law and order“ zuständigen Staates wurde von den Staatsgläubigen satirisch „Nachtwächterstaat“ genannt, in der Meinung, der Nachtwächter sei der definitiv unverzichtbare Ordnungs- und Friedensgarant. Inzwischen gibt es längst keine Nachtwächter mehr, dafür aber eine zunehmende Fülle von nicht nur polizeilich, sondern sozialpolitisch, wirtschaftspolitisch und ökologisch motivierten Eingriffen in die Privatautonomie. Ein globaler Friede zwischen allen Nationen liegt in weiter Ferne. Aber der Vorrang der Politik ist ein Überbleibsel aus der Zeit der Weltkriege.

Politik aber ist höchstens ein momentan noch notwendiges Übel. Höchste Zeit, sich auf den weltweiten Freihandel, das heißt auf den privatautonomen Austausch von Gütern und Dienstleistungen zu besinnen, der die Basis einer arbeitsteiligen technischen Weltzivilisation bildet. Wo Zwang war, soll Tausch werden.

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Diesen Artikel finden Sie gedruckt zusammen mit vielen exklusiv dort publizierten Beiträgen in der Juni-Ausgabe eigentümlich frei Nr. 173.

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