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Der Kapitalismus – warm oder kalt?

Lesedauer: 4 Minuten

(Finanz und Wirtschaft – Meinungen)

Wirtschaft und Gesellschaft brauchen sowohl Rationalität wie Emotionalität. Doch beides hat zwei Seiten: Gefühle lassen sich politisch manipulieren, und der Wohlfahrtsstaat fördert die soziale Kälte. Ein Kommentar von Robert Nef.

«Der Markt braucht Moral und belohnt diejenigen, die sich darauf abstützen.»

Die beiden Begriffe «warm» und «kalt» sollten nicht mit «gut» und «böse» verwechselt werden. In Weltgegenden, die unter Hitze leiden, ist Wärme weniger erwünscht als Kälte. Hierzulande sehnt man sich nach Wärme und fürchtet die Kälte. Aber ein kühler Kopf macht einen Menschen nicht einfach «sozial kalt» und «böse». Noch komplizierter wird es, wenn «warm» und «kalt» mit dem Wieselwort «sozial» kombiniert werden. Präziser ist die Unterscheidung zwischen «rational» und «emotional». Wenn mit dem Begriff «emotional» Wärme assoziiert wird und mit dem Begriff «rational» Kälte oder Coolness, kommt darin besser zum Ausdruck, dass beide Bereiche je nach Situation und Konstellation ihre Vor- und Nachteile haben und eben moralisch nicht «schwarz» oder «weiss» sind.

Eine moderne, arbeitsteilige Grossgesellschaft braucht viel Rationalität und darum wenige klare Spielregeln für gemeinsame Verfahren der grossräumigen Konfliktregelung. Mitmenschliche Verhaltensweisen dürfen und sollen jedoch vielfältig sein. Verfahrensregeln bzw. allgemeine Spielregeln sind ihrem Wesen nach rational und moralisch neutral. Friedrich A. von Hayek hat stets Wert darauf gelegt, dass zwischen personenbezogenen Gemeinschaften mit Kleingruppenmoral und anonymen Grossgesellschaften unterschieden werde.

Dabei blieb aber das Zwischenglied unbeachtet, das gerade in der Schweiz eine entscheidende Rolle spielt: die kleinere politische Gemeinschaft und der kleinere und mittelgrosse Betrieb, in denen sich gesellschaftsbezogene Rationalität und personenbezogene Emotionalität direkt begegnen und überlappen.

Kühle Köpfe, heisse Herzen

Rationalität und Emotionalität haben je eine helle und eine dunkle Seite. Die helle Seite der Rationalität zeigt sich in der grossen Gesellschaft, die auf rational Denkende und Handelnde angewiesen ist. Kühle Köpfe statt heisser Herzen. Kleine Gemeinschaften können allerdings allein auf der Basis des rationalen Kalküls nicht überleben. Dort bewährt sich die helle Seite der Emotionalität. Schlimm und gefährlich wird es, wenn man grosse Gesellschaften, z. B. Nationen, emotionalisieren will, wie das der nationalistische Faschismus und der totalitäre Staatssozialismus praktiziert haben. Man wollte in den Bevölkerungsmassen via Massenmedien und Massenveranstaltungen die «heissen Herzen» und die «internationale Solidarität» erzeugen, die die Rationalität verkümmern liessen. In der grossen Masse zeigen sich Emotionen primär von ihrer dunkelsten Seite.

Neben Familie, Nachbarschaft und Freundschaft sind heute in einer arbeitsteiligen Dienstleistungsgesellschaft auch die soziale Gemeinschaft am Arbeitsplatz und die ökonomische Gemeinschaft zwischen Produzent, Dienstleister und Kunde von zunehmender Bedeutung. Letztere ist weder genetisch bedingt noch raumabhängig. Sie kann weltweit vernetzt sein und hat eine grosse, kultivierende und bestimmt auch «wärmende» Wirkung. Handel kultiviert und moralisiert wahrscheinlich Händler und Kunden – mindestens äusserlich. Lug und Trug lohnen sich auf die Dauer nicht, sie schaden dem Ruf einer Person und dem Unternehmen.

Dass Arbeitsteilung und Handel generell einfach auf die Ausbeutung des jeweils Schwächeren hinauslaufen und auf den Betrug am Naiveren, lässt sich bei einer vorurteilslosen Beobachtung der Realität nicht erhärten. Es kommt vor, aber ein dauerhafter, nachhaltiger Erfolg ist damit nicht zu erreichen. Der Markt braucht Moral, aber er verzehrt sie nicht, sondern belohnt diejenigen, die sich darauf abstützen. Das stimmt nicht in jedem Fall und ist generell auch nicht verlässlich prognostizierbar. Die kommunikative Grundregel «Trau, schau, wem!» bleibt entscheidend, aber sie beruht auf Gegenseitigkeit.

Ein Verkäufer bzw. Dienstleister, der gegenüber seiner Kundschaft «kalt» ist, wird einfach weniger Erfolg haben als derjenige, der mit menschlicher Wärme wirtschaftet. Das Gleiche gilt heute am Arbeitsplatz, wo der hoch arbeitsteilige Arbeitnehmer nicht mehr so leicht auswechselbar ist wie der Schichtarbeiter und wo ein gutes Betriebsklima auch ein ökonomisches Erfolgsrezept ist. Kurz: Soziale Wärme lohnt sich auch ökonomisch, und rationales Wirtschaften ist ohne jeden menschlichen «High Touch» nicht dauerhaft erfolgreich. «Ausbeutung» ist nicht nur moralisch schlecht, sondern lohnt sich auch ökonomisch nicht.

Die These, die Wilhelm Röpke in «Jenseits von Angebot und Nachfrage» aufstellt, wonach die Wirtschaft von aussen her einen Zuschuss an Moral brauche, weil sie mehr davon zehre, als sie selbst hervorbringe, ist mindestens einseitig. Anstand lohnt sich ökonomisch (nicht immer, doch häufiger als nicht), und dem anständig Behandelten kann es gleichgültig sein, ob er aus rein wirtschaftlichen oder aus moralischen Motiven heraus anständig behandelt wird. Die «letzten Motive» eines individuellen Verhaltens, auch bei der Moral, bleiben sowieso verborgen. Gutsein aus ökonomischem Kalkül lässt sich schwer vom Gutsein aus christlicher oder humanistischer menschlicher Zuwendung unterscheiden, denn Motive lassen sich kaum «chemisch rein» isolieren.

In der kalten Industriegesellschaft, in der Menschen Maschinen bedienten, waren die Menschen austauschbar. In einer Dienstleistungsgesellschaft, in der für die optimale Bewirtschaftung von Belegschaft und Kundenstamm und im Umgang mit dem Faktor Mensch eine gewisse Wärme auch ökonomisch unabdingbar ist, spielen individuelle Beziehungen eine zunehmende Rolle. Nicht immer, aber doch gehäuft.

Der Wohlfahrtsstaat fördert durch Professionalisierung und Anspruchsdenken die soziale Kälte. Er ermöglicht eine Delegation von Mitmenschlichkeit, die mindestens einen Teil der persönlichen Zuwendung ersetzt. Zwangsweise Umverteilung tritt an die Stelle von direkter Hilfe und Unterstützung. Das ist auch für die Wohlhabenden persönlich entlastend und praktisch und entspricht nicht nur einer sozialistischen Zwangsmoral.

Auch viele, die sich als Freunde der Freiheit bezeichnen, sind für die Delegation von Mitmenschlichkeit an Behörden mitverantwortlich, die Emotionalität durch Rationalität ersetzt. In der Schweiz hatte die Sozialdemokratie nie mehr als 30% Wähler- und Regierungsanteil, und trotzdem ist der schnell wachsende Wohlfahrtsstaat auf dem Weg in die Verschuldungsfalle kaum mehr zu bremsen. Auch das politische Mehrheitsprinzip (in Verbindung mit progressiver Besteuerung) kann nicht allein dafür verantwortlich gemacht werden.

Ohne Kompromisse geht es nicht

Die staats- und umverteilungsabhängige Wirtschaft ist mindestens so aktiv am Semisozialismus beteiligt und so für ihn mitverantwortlich. Darum ist ein «Ausstieg» so schwierig; selbst diejenigen, die ihn politisch postulieren, wollen ihn nicht wirklich, weil darunter ihr Geschäft litte. Wenn es von liberaler Seite heisst, es sei legitim, eigene Wirtschafts- und Gewinninteressen zu vertreten, dann wird es anspruchsvoll, staatsabhängige von staatsunabhängiger Wirtschaft klar zu trennen, denn über die Konsumenten und die staatsfinanzierte Infrastruktur sind beide vernetzt. Ist es nicht verwerflich, Geschäfte zu machen, dann ist es auch nicht verwerflich, mit Kunden und Lieferanten zu geschäften, die staatlich gefördert sind.

Jeder wirtschaftende Mensch bewirtschaftet letztlich eine Realität, die er selbst nicht geschaffen hat. Er wird von den Umständen gezwungen, realistisch und darum auch etwas opportunistisch zu sein. Der Weitsichtige und moralisch Verantwortungsbewusste wird sich vor allem den Geschäften zuwenden, die seinen Idealen entsprechen, sowie jede Gelegenheit nutzen, um seine Ideen zu verbreiten und praktisch umzusetzen. Aber ohne gewisse Kompromisse mit einer vorherrschenden und stets imperfekten Realität kann weder der Homo politicus noch der Homo oeconomicus überleben.

Zur Person
Robert Nef ist Stiftungsratsmitglied des Liberalen Instituts Zürich.

Quelle: https://www.fuw.ch/article/der-kapitalismus-warm-oder-kalt/

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