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Mehr Bastiat – weniger Hegel

Lesedauer: 16 Minuten

Wider die Staatsvergottung

Vortrag anlässlich des Roland Baader-Treffens in Kirrlach, 18. Februar 2017

Mein heutiger Vortrag ist ohne Titel als Vortrag eines Sozialphilosophen angekündigt worden, und das gibt mir die Gelegenheit, mich als Einstieg mit den beiden Begriffe «sozial» und «Philosoph» auseinanderzusetzen. Mein Freud Roland Baader hat zum Begriff «sozial» Folgendes festgehalten:

«Das Wort ‹sozial› als die heiligste Vokabel der Kollektivmoralpharisäer hat im sozialdemokratischen Jahrhundert den zehn Geboten der Bibel den Rang abgelaufen.» (Freiheitsfunken, Grevenbroich 2008, S. 21)

Die Bezeichnung Philosoph tönt schmeichelhafter. Das Wort ist Griechisch: ein Freund der Weisheit. Aber welcher Weisheit? Mein Verhältnis zu den Alten Griechen ist ambivalent, bewundernd und kritisch zugleich. Mein erster Kontakt mit Roland Baader war die Mitwirkung an einem Sammelband, zu dem ich einen Aufsatz mit dem Titel »Keine Freiheit ohne Verantwortung – keine Verantwortung ohne Freiheit» beigetragen habe, ein Text, der in den seither vergangenen 22 Jahren nichts an Aktualität eingebüsst hat. Das Buch, das liberale Positionen zu Sozialstaat und Gesellschaft publik macht, trägt den etwas verwirrenden Titel «Die Enkel des Perikles». Roland Baader wollte damit an die berühmte Rede des Perikles an die Gefallenen erinnern, in der das Geheimnis der Freiheit beim Mut geortet wird, sicher mit guten Gründen. Ob dies dem Marketing des Buchs genützt hat, bezweifle ich. (Roland Baader (Hrsg.), Die Enkel des Perikles, Resch-Verlag, Gräfelfing 1995).

Eine meiner Lieblingsfiguren der griechischen Antike ist Themistokles. Unter seiner Führung haben die Griechen 480 v.Chr. dem Angriff der Perser standgehalten und die Persische Flotte in der Schlacht bei Salamis besiegt. Das historische Ereignis gilt als entscheidende Abwehrschlacht des freiheitlichen Staatenbundes der Griechen, die sich als Vorposten Europas gegen den Angriff der Grossmacht der Perser erfolgreich zur Wehr setzten. Das vielfältige, individualistische Europa gewinnt gegen die zentralistische asiatische Despotie, ein Ereignis mit welthistorischen Folgen. In der Sorge vor der anrückenden Grossmacht hatten die Athener das Orakel von Delphi befragt und von diesem den vieldeutigen Rat empfangen: Verteidigt Euch hinter den «hölzernen Mauern»! Da niemand wusste wo und wie diese zu errichten seien, deutete Themistokles die «hölzernen Mauern» als kleine bewegliche Kriegsschiffe. Und diese schnell erbaute Flotte erwies sich dann in der Schlacht bei Salamis tatsächlich als höchst wirksame Abwehr gegen die schweren Schiffskolosse der Perser. Zudem konnten diese Schiffe nach dem Krieg auch als Handelsschiffe benützt werden. Der Seehandel wurde in späteren Zeiten eine Basis des ökonomischen und kulturellen Aufstiegs des von Athen geführten Attischen Seebundes. Die Verwendung einer Kriegsflotte als Handelsflotte ist die nautische Version der Verwandlung von Schwertern zu Pflugscharen.

Man kann im Krieg, wie der Philosoph Heraklit, den «Vater aller Dinge» sehen. Die Mutter aller Dinge ist aber der Tausch, d.h. die Ökonomie und der Handel. Der Staat ist «kriegsgeboren», die Ökonomie blüht besser im Frieden, und durch die Förderung des Gegenseitig-aufeinander-angewiesen-Seins von Händlern und Kunden fördert sie auch diesen Frieden. Auf die Kriegsbedingtheit des Staates werde noch zurückkommen.

Doch nun zu meiner Kritik an den Alten Griechen. Sie ist die Basis meiner Kritik am Primat der Politik und am leider ziemlich unerschütterlichen Staatsglauben aller staatsabhängigen Klienten im heutigen Daseinsvorsorgestaat, – und das ist zahlenmässig eine erhebliche Mehrheit.

In einem Vortrag, den ich im Dezember in Wien gehalten habe, zitierte ich den Wiener Komödiendichter Nestroy mit seinem Aphorismus: «Die Phönizier haben das Geld erfunden, aber warum so wenig?» und parodierte dann diesen mit der Bemerkung: «Die Griechen haben die Politik erfunden, aber warum so viel?»

Die Antwort gibt die damalige Gesellschaftsordnung, in der «die freien Männer» keiner Erwerbsarbeit nachgingen und diese den Sklaven, den Frauen und den Privatleuten überliess, die man übrigens «Banausen» oder «Idioten» nannte. Dem freien Bürger von Athen blieb als Beschäftigung nur noch die Politik, die Philosophie und das Theater. Als Nebenbeschäftigung trieben die jungen Männer Sport und die älteren trafen sich beim Symposion, beim Saufgelage.

Der Glaube an den allmächtigen Staat geht auf Platon und Aristoteles zurück, und er ist im Zeitalter der Renaissance, des Absolutismus, der Aufklärung, der Säkularisation und der Weltkriege eher bestätigt als erschüttert worden. Zuoberst stand aber die Politik, und die politischen Geschicke sollten, weil sie das Schicksal aller bestimmen, nach der Lehre Platons, vom Stand der Philosophen, d.h. von den Intellektuellen geleitet werden. Auch sein Schüler Aristoteles hat den Menschen als Zoon politikon, als das politische Lebewesen definiert. Diese Irrlehre wirkt bis heute in ganz Europa noch nach, und sie ist eine der Wurzeln des Glaubens an den Allmächtigen Staat, jenes Glaubens, der aufgrund seiner weiten Verbreitung, den Staat tatsächlich so mächtig werden liess und immer noch werden lässt.

Das schlimme an diesem Staatsglauben ist die Tatsache, dass er sich bis in den Alltag hinein empirisch bestätigt. Der Staat hat so viele lebenswichtige Positionen in den Händen, dass er in verschiedenster Hinsicht derart überlebenswichtig und derart schicksalsbestimmend geworden ist, dass der Begriff «Allmacht» tatsächlich nicht aus der Luft gegriffen ist. Der Glaube an den Allmächtigen Staat als Inhaber des Gewaltmonopols wird von den Alltagserfahrungen immer wieder gestützt. Und wenn sich trotzdem immer wieder auch Zweifel bemerkbar machen, fordern die meisten Zweifler nicht weniger Staat, sondern mehr Staat, oder mindestens einen andern, besseren Staat.

Die Verachtung der Alten Griechen für die Erwerbsarbeit und für den ganzen Bereich der Wirtschaft wirkt bei vielen Intellektuellen bis heute noch nach. Feldarbeit, Fabrikarbeit, Gewerbe und vor allem Handel sind aus dieser Sicht notwendige Übel. Vor allem die Dienstleistungen und der Handel und alles, was mit Spekulation zu tun hat, sind, wenn man sie frei geschehen lässt, wenig ehrenvolle Bereiche der Ausbeutung und des Sich-gegenseitig-Bescheissens. Diese Aktivitäten darf es nur unter bürokratischer Aufsicht und innerhalb von staatlich gesetzten Schranken geben.

Es ist wohl kein Zufall, dass Karl Popper in seinem Buch «Die offene Gesellschaft und ihre Feinde» (London 1945) vor allem mit drei Staatsphilosophen abgerechnet hat, die für ihn die Hauptfeinde der Freiheit waren: Platon, Hegel und Marx.

Platon hat in seinem Idealstaat eine klassische Arbeitsteilung postuliert, die später zum Modell der Etatisten aller Parteien geworden ist. Zuoberst stehen die politischen Lenker, die Philosophen, d.h. die Intellektuellen, die den andern vorschreiben, was gut ist für alle, weil sie es – angeblich – besser wissen. In der Mitte stehen die Wächter, d.h. die Soldaten, Polizisten und Bürokraten, die die gewaltsame Verteidigung sicherstellen und Überwachungsaufgaben im weitesten Sinn wahrnehmen, und zuunterst stehen die berufstätigen Privatleute, welche unter der Aufsicht der beiden andern (in der Nische, die sowohl linke und als auch rechte etatistische Regime zulassen) das wirtschaftliche Überleben sicherstellen. Diese Vorstellung hat sich dann zur mittelalterlichen Lehre von den drei Ständen entwickelt, die bis heute nachwirkt. Der Nährstand als ökonomische Basis, der Wehrstand als Ordnungshüter und Verteidiger und der Lehrstand, der die Ideologie liefert, die das System erhält, legitimiert und dessen Sinn stiftet. Im Lauf der Geschichte haben sich dann der Wehrstand (d.h. die Ritter und die Adeligen) mit dem Lehrstand, dem Klerus, verbandelt (die Angehörigen stammten ja oft aus denselben Familien) und der Nährstand wurde zum Zudienen und Besteuert-Werden verknechtet. Dies alles wirkt bis heute nach. Der Klerus, das sind heute die tonangebenden Intellektuellen in den Universitäten und in den Medien, die der politischen Klasse der Bürokraten und der Kleptokraten zudienen und deren Legitimation sicherstellen.

Das ist alles natürlich grob vereinfacht und didaktisch überzeichnet. Es gibt aber ein Land in Europa, das die Verwirklichung der antik- mittelalterliche Ständegesellschaft verweigert hat: die Alte Eidgenossenschaft, ein Schulbeispiel der Gegenläufigkeit, ein Sonderfall. Der Nährstand hat sich selbst bewaffnet und er hat sich nach innen und aussen erfolgreich gegen eine Unterdrückung durch Adelige und Kleriker gewehrt, die es zwar gab, die aber keine bestimmende Rolle gespielt haben.

Der Landesheilige «Bruder Klaus» war ein Landwirt aus Obwalden, des Lesens und Schreibens unkundig, ein Familienvater der sich in der zweiten Lebensphase in eine Klause zurückgezogen hat. Seine politischen Ratschläge, die Mässigung und Toleranz betreffen, sind heute noch gültig. Das Milizprinzip, nach dem es dieselben Menschen sind, die einem Erwerb nachgehen, die Armee verkörpern und die Politik bestreiten, gilt nach wie vor, auch wenn es leider zunehmend verwässert wird. Politik ist in der Schweiz bis heute kein Vollzeit-Beruf und politische Ämter waren bis weit ins 20. Jahrhundert hinein unbezahlte Ehrenämter.

Die Identität von Nährstand und Wehrstand ist, wie das der Politologe Karl W. Deutsch in seinem bemerkenswerten Essay über die Schweiz (Die Schweiz als paradigmatischer Fall politischer Integration, Bern 1976) festhielt, ein historischer Sonderfall. Die Eidgenossen haben die europaweit und weltweit beobachtbare Unterwerfung des Nährstandes unter den Wehrstand weitgehend verhindert. Natürlich hat dabei auch das Söldnerwesen eine Rolle gespielt. Die kriegerischen Auseinandersetzungen zwischen «Stadt» und «Land» sind in der Schweiz, ebenfalls atypisch, zwar nicht immer, aber doch in entscheidenden Fällen vom «Land» gewonnen worden. Nur die Schweiz kennt ein Kartenspiel, den Jass, in dem der Bauer alle andern Karten, auch den König und das As, sticht. Das As, das über dem König steht, nennt man übrigens, durchaus vieldeutig in der Schweiz auch «die Sau», die über dem König steht, aber vom Bauer gestochen wird. «Hoher Sinn liegt oft in kind’schem Spiel.»

Das höchste Loblied auf den Staat, insbesondere den Nationalstaat stammt vom deutschen Philosophen Hegel, die bissigste Kritik vom französischen Freiheitsdenker Claude Frédéric Bastiat. Ich illustriere das Spannungsfeld mit zwei Zitaten:

«Im Staat allein hat der Mensch wirkliche Existenz. Alle Erziehung geht dahin, dass das Individuum nicht ein Subjektives bleibe, sondern sich im Staate objektiv werde. (…) Allen Wert den der Mensch hat, alle geistige Wirklichkeit, hat er allein durch den Staat. (…) Die Natur des Staates ist aber die Einheit des objektiven, der allgemeinen Willens, der subjektive Wille ist dahin enthoben, dass er seiner Besonderheit entsagt.» (F. G. Hegel, Der geschichtliche Staat als Verkörperung der sittlichen Idee», in: N. Hoerster, Klassische Texte der Staatsphilosophie, München 1976, S. 244 ff.)

Die im Wohlfahrtsstaat zunehmend aktuelle kritische Charakterisierung des Staates stammt ebenfalls aus dem 19. Jahrhundert vom katholischen Franzosen Frédéric Bastiat:

«Der Staat ist die grosse Fiktion mit deren Hilfe jeder auf Kosten des andern leben will». Der Staat als Fiktion und nicht als verwirklichte Vernunft, das ist das präzise Gegenteil von Hegels Meinung. Dass es kaum möglich ist, zwischen der etatistischen These von Hegel und der antietatistischen These von Bastiat eine vernünftige Synthese zu finden, leuchtet ein. Auch die Wahrheit kann nicht in der Mitte liegen, denn das Problem liegt in der Mitte. In Anknüpfung an Bastiat hat ein unbekannter Autor den Staat folgendermassen charakterisiert: «Der demokratische Staat ist jene Organisation, die von den Reichen das Geld und von den Armen die Stimmen holt, beides unter dem Vorwand, die einen vor den andern zu schützen.» Diese Umschreibung zeigt, warum der Staat zwar keine «sittliche Idee» ist, aber eine relativ robuste Zweckgemeinschaft.

Die von Hegel propagierte Begeisterung für den Nationalstaat als Hort des Rechts und als einzigen Garanten für Kultur, Toleranz und Freiheit wird von Etatisten aller Parteien fast kritiklos übernommen und auf bürokratische Staatenverbünde übertragen. Es ist zuzugeben: Der Staat hat heute einen Einfluss, der unser Leben wesentlich mitbestimmt. Die Politik spielt daher eine Schlüsselrolle. Sie gilt als zentrales soziales Problemlösungsverfahren indem sie den Staat als Inhaber des Zwangsmonopols in Verbindung mit einer «demokratischen Legitimation» zu einer gerechteren und wohlhabenderen Gesellschaft führen soll.

Der Vorrang des Staates und der Politik wird heute – im Einklang mit Hegel – immer noch als zwingende Folge einer historisch- dialektischen Entwicklungslogik gedeutet, die angeblich vom Lokal- und Feudalstaat über den Nationalstaat zu kontinentalen Zusammenschlüsse zu einer globalen politischen Weltordnung führt. Zu Recht ist dies aber von Freiheitsfreunden und Staatsskeptikern als zwar weit verbreiteter aber gefährlicher Mythos entlarvt worden, unter andern von so unterschiedlichen Autoren wie Frédéric Bastiat (allen voran!), Ernst Cassirer, Franz Oppenheimer, Antony de Jasay, Gerard Radnitzky und Murray Rothbard, Roland Baader und Hans Hermann Hoppe.

Politik ist heute von der Ambivalenz gegenüber dem umverteilenden Daseinsvorsorgestaat geprägt. Der Glaube an dessen Garantie für zunehmende gemeinsame Wohlfahrt paart sich heute mit Zweifeln an einer nachhaltigen Finanzierbarkeit in immer grösseren und grenzüberschreitenden Gebieten. Einerseits erwarten die Bürger und Steuerzahler alle Wohltaten, die ihnen von den gewählten Politikern versprochen werden, anderseits nimmt angesichts der Tatsache, dass in der Politik stets mehr versprochen wird als gehalten werden kann, die Zahl der Frustrierten zu und die Zahl der Zufriedenen ab. Immer mehr gemeinsame Probleme werden von der politisch aktiven Generation durch Verschuldung auf kommende Generationen überwälzt.

Der deutsche Protestant Hegel sah in einem als Rechtsstaat organisierten Nationalstaat den Hort der Kultur und den Garanten der Freiheit. Im Gegensatz dazu kritisierte später der katholische Franzose Frédéric Bastiat den Staat als eine Fiktion, die letztlich auf einer Kumulierung von feigem Opportunismus und gefährlichen Irrtümern über die nachhaltige Finanzierung beruht. Die aktuellen Profiteure des Umverteilungsstaates sind auch in einer direkten Demokratie zunehmend mehrheitsfähig und daher tonangebend. Die repräsentative Demokratie kann dagegen nichts ausrichten, denn Repräsentation heilt diesen Mangel nicht. Die in der Regel »besser ausgebildeten» Volksvertreter stimmen bei Verteilungsfragen nicht rationaler ab als die bildungsfernere Volksmehrheit. Eine Erhöhung der politischen Rationalität durch Repräsentation sowie durch «politische Aufklärung» durch ein staatlich dominiertes Bildungswesen ist eine idealisierte Vorstellung von Intellektuellen, die an ein Primat einer von ihnen inspirierten Politik glauben.

Die Abgrenzung von «emanzipatorischer Beeinflussung» von einer eigentlichen machterhaltenden Regierungspropaganda fällt dabei schwer. Die Politik der «Gebildeten» ist nicht besser als die Politik des bildungsferneren Durchschnitts. Sie bringt ebenfalls zum Ausdruck, wer von wem durch welche Art der Umverteilung mehr Erwartungen an eine finanzielle Besserstellung hat. Sie ist eher ein Wettbewerb der hohlen Hände um eine Besserstellung als Umverteilungsempfänger, als Infrastruktur- Benützer und als Steuerzahler als eine Auseinandersetzung zwischen klugen und hohlen Köpfen. Dass es dabei um Erwartungen und Hoffnungen geht, die letztlich unberechenbar und unvorhersehbar sind, erhöht das Emotionale und das Spekulative an der Politik. Diese Komponenten können aber in einer hoch komplexen Welt rein intellektuell nicht wirksam reduziert werden. Der Mythos des Staates nährt sich von sehr vielfältigen Motiven.

Wenn in der Frührenaissance die Bürger von italienischen Stadtstaaten (z.B. in Lucca) Christus zum obersten Regenten ihrer «res publica» wählten, so war dies nicht in erster Linie ein Akt der Frömmigkeit, sondern ein Versuch, politische Macht religiös einzuschränken. Der Gottesglaube ist in Europa als gemeinsame Basis des Zusammenlebens im 18. und 19. Jahrhundert schrittweise durch den gemeinsamen Glauben an die Vormacht des säkularisierten Staates abgelöst worden. Aus der Sicht Hegels war dies ein zivilisatorischer Fortschritt. Im 20. Jahrhundert verlagert sich dieser häufig blinde und darum auch oft enttäuschte Glaube an den Nationalstaat auf kontinentale und globale politische Zusammenschlüsse wie etwa die Europäische Union. Heute braucht es zur Rettung der Freiheitsidee mehr Bastiat und weniger Hegel.

Das 19. Jahrhundert ist das Jahrhundert der Säkularisierungen. Die Allmacht Gottes wurde zunächst durch eine Allmacht der Wissenschaft in Frage gestellt. Und durch eine Verknüpfung von Wissenschaft, bzw. von dem, was man für Wissenschaft gehalten hat, mit der politischen Macht wurde die Basis geschaffen für den Übergang vom allgemeinen Glauben an den allmächtigen Gott zum Glauben an den allmächtigen Staat. Bestimmt gibt es Menschen, die an ihrem Gottesglauben festhalten (auch Roland Baader gehörte dazu und ich selbst zähle mich auch zu dieser Gruppe) und bestimmt gibt es auch starke und charakterfeste Menschen, die es fertigbringen als Agnostiker weder an eine metaphysische noch an eine pseudowissenschaftliche noch an eine politische Macht zu glauben, aber eine sehr grosse Zahl fühlt sich durch einen gemeinsamen Glauben verbunden, und das ist der Glaube an die Allmacht des Staates. Dieser ist natürlich – wie jeder Glaube – stets auch mit Zweifeln und Frustrationen verbunden. Sie äussern sich, wenn dieser allmächtige Staat nicht genau so tickt (und zahlt!), wie man es sich wünscht. Dann wünscht man sich aber nicht weniger Staat, sondern einen andern, möglicherweise noch allmächtigeren Staat, auf den sämtliche Hoffnungen und Wünsche projiziert werden.

Dazu eine Anekdote, die illustriert, dass die Säkularisierung die metaphysischen Vorstellungen über Quellen der Macht nicht überwunden, sondern nur verschoben hat.
Als ein Fortschrittler dem Sozialisten Ferdinand Lassalle vorhielt, dass er mit seiner Sozialpolitik dem Staat Unmögliches zumute, erwiderte dieser: «Was wollen Sie? Der Staat ist Gott!“ (Johannes Ziekursch, Politische Geschichte des neuen deutschen Kaiserreiches, Band 1, Frankfurter societäts-druckerei g.m.b.h., 1925, Seite 146). Der allmächtige umverteilende Sozialstaat sollte nach sozialistischer Vorstellung jene Vorstufe bilden, in deren Rahmen das Absterben des Staates und seine Ablösung durch die klassenlose Gesellschaft gemeinsam einzuüben und einzugewöhnen wären. Darauf beruht der sozialistische Irrglaube: Man kann durch eine Verabsolutierung und Totalisierung einer Institution namens Staat, in dem alle von allen abhängig gemacht werden, durch einen «grossen Sprung» zu einer «klassenlosen Gesellschaft» ohne Staat gelangen. Es ist eigentlich erstaunlich, wieviele Gläubige eine solche Lehre weltweit – vor allem auch unter Intellektuellen – gefunden hat. Praktisch fehlen ja alle Anzeichen, dass es nach Orgien der Verstaatlichung auch nur das geringste Anzeichen zu einem natürlichen Absterben des Staates gegeben hat. Im Gegenteil, eine Transformation, ein Ausstieg aus einer verstaatlichten Wirtschaft und Gesellschaft ist als «Entwöhnungskur» sowohl schmerzhaft als auch hoch komplex.

Schon am Ende des 18. Jahrhunderts wurde das Janusgesicht der Französischen Revolution erkannt. Sie brachte zwar die Befreiung vom mehr oder weniger sanft bevormundenden Feudalstaat, aber mit ihrer Vergötterung der Rationalität und der Verabsolutierung der Volkssouveränität, und des Primats der Politik nährte sie die gefährliche Illusion, Politik und Staat seinen die wahren Garanten und Vermittler von Frieden, Freiheit, Wohlstand und kollektivem Glück. Der Dichter Hölderlin hat diesen Irrweg schon früh erkannt: „Immerhin hat das den Staat zur Hölle gemacht, dass ihn der Mensch zu seinem Himmel machen wollte.“ – Hyperion (1797), I. Band, Erstes Buch / Hyperion an Bellarmin.

Das den Liberalen vorschwebende Ideal eines lediglich für «Law and order» zuständigen Staates wurde von den Staatsgläubigen satirisch «Nachtwächterstaat» genannt, in der Meinung, der Nachtwächter sei der definitiv unverzichtbare Ordnungs- und Friedensgarant. Inzwischen gibt es längst keine Nachtwächter mehr, dafür aber eine zunehmende Fülle von nicht nur polizeilich sondern sozialpolitisch, wirtschaftspolitisch und ökologisch motivierten Eingriffen in die Privatautonomie. Kein Wunder, dass der seit dem 19. Jahrhundert immer mehr ausgebaute und in Kriegszeiten total expandierende Daseinsvorsorgestaat auch den politischen Wunsch nach Eingrenzung auslöste.

Das Bedürfnis, der Staatsmacht Schranken zu setzen ist wohl gleichzeitig mit der Etablierung und mit dem Wachstum der Staatsmacht entstanden. Was ist nun aber der Ursprung der Staatsmacht?

Der vom frühen Marx beeinflusste, staatsskeptische Soziologe und Sozialhistoriker Franz Oppenheimer (Der Staat, Frankfurt/M, 1907), übrigens der akademische Lehrer von Ludwig Erhard, vertritt die für mich plausible These, dass Staaten durch Eroberung tendenziell friedlicher, sesshafter Ackerbauern durch tendenziell kriegerische Nomaden entstanden sind. Der Staat ist als «politisches Mittel» jene Organisation, die auf Dauer die Herrschaft der erobernden Minderheit gegenüber der eroberten Mehrheit die das «ökonomische Mittel» verkörpert, sichert.

«Was ist also der Staat im soziologischen Begriffe? Schon die Geschichte des Wortes sagt es uns. Es stammt aus dem Italienischen der Renaissanceperiode. Dort bezeichnete es den, zumeist durch Gewalt zur Herrschaft gelangten, Fürsten samt seinem Anhang: »Die Herrschenden und ihr Anhang heißen lo stato, und dieser Name durfte dann die Bedeutung des gesamten Daseins eines Territoriums usurpieren«, sagt Jakob Burckhardt. So hatte Ludwig XIV. mit seinem hochfahrenden Wort: »L’Etat c’est moi« in einem tieferen Sinne recht, als er selbst ahnte. In unserem Worte »Hofstaat« lebt die alte Bedeutung noch fort.

Das ist »das Gesetz, nach dem er angetreten«, und das ist der Staat geblieben. Er ist seiner Entstehung nach ganz und seinem Wesen nach auf seinen ersten Daseinsstufen fast ganz eine gesellschaftliche Einrichtung, die von einer siegreichen Menschengruppe einer besiegten Menschengruppe aufgezwungen wurde mit dem einzigen Zwecke, die Herrschaft der ersten über die letzte zu regeln und gegen innere Aufstände und äußere Angriffe zu sichern. Und die Herrschaft hatte keinerlei andere Endabsicht als die ökonomische Ausbeutung der Besiegten durch die Sieger.» (Franz Oppenheimer, Der Staat, 2. Aufl. 1929)

Oppenheimers Modell der politischen Landnahme als Raub von vormaligen Ureigentümern und der darauf basierenden und damit durchaus fragwürdigen Existenzberechtigung des Staates, ist weltweit sehr häufig beobachtbar, aber doch nicht total generalisierbar. In Nordamerika stiessen die Kolonisatoren und Eroberer zum Teil auf nomadisierende Indianerstämme und der Machtkampf wurde durch die Waffentechnik, durch brutal eingesetzte zivilisatorische Überlegenheit und durch eingeschleppte Krankheiten gewonnen.

Merkwürdigerweise erwähnt Hans Hoppe in seiner «Kleinen Geschichte der Menschheit» (2015) zwar das Sesshaft-Werden der Menschen als anthropologisch höchst bedeutsamen Vorgang, bei dem sich – so Hoppe – die Sesshaften schrittweise gegen die Nicht-Sesshaften durchsetzten. Dass sich aber aggressive Nomaden und Piraten in der Folge weltweit sehr erfolgreich als Eroberer und Beherrscher der Sesshaften etablierten, bleibt bei ihm unerwähnt.

Historisch nachweisbar ist allerdings auch die friedliche Landnahme durch Urbarisierung von vorher nicht besiedelten Gebieten. Dort wurde Grundeigentum nicht ansässigen Eigentümern weggenommen, sondern der Natur abgerungen. So sind die Alpen besiedelt worden, und das begründet wohl eine legitimere Verwurzelung der Alpenbewohner in ihrer Heimat als die der Eingewanderten aller Nationen. Man hat sein Heimwesen niemandem weggenommen, sondern durch Rodung gewonnen. Der Heimatboden ist durch Eigenleistung und Entbehrung und nicht durch Gewalt erkämpft worden, und man braucht daher als Eigentümer keine besondere Legitimation als überlegenes oder «auserwähltes Volk».

Unter solchen Voraussetzungen ist die genossenschaftliche Staatsgründung plausibel. Es gibt weltweit auch den «eidgenössischen» Ursprung des Staates, den Staat als Genossenschaft aus dem Geist der Vereinbarung, häufig verbunden mit einer Sezession im Sinne eines Ausstiegs aus übergeordneten Machtgebilden. Sezessionen wecken aber meist den Rachedurst der übergeordneten politischen Systeme und sie überleben nur dank einer wirksam organisierten militärischen Verteidigung. Es gibt also neben der erfolgreichen militärischen Eroberung als Staatsbegründung auch die erfolgreiche militärische Verteidigung als Überlebensprinzip. Auch in diesem Fall ist der Krieg der Vater des Staates. Staatliche Herrschaft kann sowohl aus dem Geist der Eroberung als auch aus dem Geist der gewaltsamen Verteidigung entstehen. Das müsste man Franz Oppenheimer entgegenhalten. Es gibt Alternativen zum Staat als Herrschaft aus dem Geist der Eroberung. Es gibt in der Geschichte immer auch Sesshafte, die sich letztlich erfolgreich gegen aggressive Nomaden behauptet haben. Kriegsbedingt ist staatliche Gewalt aber in beiden Fällen. Fatalerweise sind aber häufig auch Staaten, die auf Vereinbarung und Selbstverteidigung gegründet waren, später als Eroberer und Machthaber gegenüber Dritten aufgetreten. Die Eidgenossen haben im 15. Jahrhundert verschiedene «Untertanengebiete» (die sie «gemeine Herrschaften» nannten) erobert.

Auch bei der natürlichen Landnahme durch Kultivierung gab es in der Regel präexistente Herrschaftsansprüche von adeligen Grund- und Lehensherren, und meistens wurden diese geltend gemacht, nachdem die Pioniere den Wald gerodet und die Alpen nutzbar und die Verbindungswege gangbar gemacht hatten. Dann holte man die alten Urkunden hervor, die «bewiesen», dass z.B. Gebiete der Urschweiz als rechtmässiges, durch Heirat, Eroberung, Kauf oder Schenkung erworbenes Eigentum von Fürstenhäusern und Klöstern betrachtet werden konnten. Der Konflikt zwischen tatsächlichem Besitz und historisch begründeten Eigentumstiteln wurde – mindestens teilweise – gewaltsam ausgetragen und endete in der Urschweiz zugunsten der genossenschaftlich organisierten Kleinbauern und der freien Kleinstädte.

Das spricht aus historischer Sicht für die Feststellung, die Bismarck (schon vor Franz Oppenheimer) bei der Gründung des neuen Deutschen Reiches äusserte, Staaten würden «durch Blut und Eisen» geschmiedet. Der Staat selbst ist also als Inhaber des Gewaltmonopols kaum je gewaltfrei entstanden. Der amerikanische libertäre Ökonom Murray Rothbard (1926 – 1995) geht mit seiner Anklage gegen das politische System noch weiter. Für ihn ist nicht nur der Ursprung des Staates auf Gewalt gegründet, sondern sein ganzes Wesen. «It is in war, that the state really comes into ist own swelling in power, in number, in pride, in absolute domination over the economy and the society.»

Macht ist in Anlehnung an die Definition von Max Weber, die Fähigkeit, jemanden gegen seinen Willen zu etwas zu zwingen. Der Staat hat mit dem Zwangsmonopol diesbezüglich natürlich eine Vorzugsstellung. In einer föderalistisch aufgebauten rechtsstaatlich-gewaltenteiligen Demokratie ist aber dieses Zwangsmonopol durch ein Netzwerk von Kritik- und Kontrollmöglichkeiten gebändigt, bei dem auch die Wissenschaft und die Medien eine grosse Rolle spielen, bzw. spielen sollten.

Wie haben sich echte Freunde der Freiheit angesichts der real existierenden Macht des real existierenden Staates zu verhalten? Kapitulieren, schrittweise Verbesserungen postulieren, einen «geordneten Rückzug aus Fehlstrukturen» fordern, «Warten auf den Zusammenbruch», oder diesen durch aktiven Widerstand beschleunigen? Gibt es gegenüber der Staatsgewalt graduelle «dritte Wege» zwischen totaler Anpassung und totalem Widerstand? Ja, es gibt m.E. eine philosophische und auch eine politische «Bandbreite» innerhalb der sich liberale Ordnungsstaatsbefürworter, libertäre Staatsskeptiker und zivilrechtsgesellschaftliche Staatsfeinde bei allen Unterschieden durchaus verbünden können, ohne ihre eigenen Idealvorstellungen zu verraten.

Man kann als Freiheitsfreund wenigstens gegen jeden weiteren Staatsausbau und jede weitere Zentralisierung kämpfen. Politische Macht lässt sich nicht problemlos abschaffen, sie lässt sich aber in kleine territoriale und institutionelle Stücke schneiden, die sich gegenseitig konkurrenzieren, kontrollieren, entgiften und – wenigstens teilweise – Exit-Optionen oder alternative wählbare Vernetzungen und – vor allem – Lernprozesse durch Vergleich möglichen. Und, was ganz wichtig ist: Man kann – auch als klassisch Liberaler – nicht genug vor der Gefahr der grossen zentralen, korporatistischen Verbrüderung von Big Government, Big Business und Big Data im globalen «Crony capitalism» warnen. Natürlich wird diese «Verbrüderung» teilweise recht brutal von der real existierenden Staatsmacht erzwungen, aber diese Macht ist nur darum so erfolgreich, weil auf der andern Seite, die opportunistische Bereitschaft zur Kooperation zunehmend vorhanden ist. Vor allem von der «organisierten Wirtschaft» wird sie als «Weg der Vernunft» und als alternativlose «Anpassung an Sachzwänge» in einer real existierenden etatistischen Second-best Welt angepriesen. Da machen heute leider relativ bedenkenlos auch Ordo-Liberale und Klassisch-Liberale und andere Bindestrich-Liberale fröhlich mit.

Was gibt es für Mittel gegen die wachsende Staatsmacht, die auf einem breit abgestützten und oft blinden Glauben an den Staat beruht? Ich habe kein Patentrezept, sondern propagiere einen schrittweisen Ausstieg, eine Entziehungskur, die umso wahrscheinlicher ist, je kleiner der politische Verband ist, der das Experiment wagt.

Ich schliesse ich mit einem Märchen und einem zusammenfassenden Appell. Das vom Dänen Christian Andersen genial erfundene Märchen «Des Kaisers neue Kleider» zeigt einen gangbaren Weg zur Entgiftung der Staatsmacht durch Entlarvung ihrer Repräsentanten.

Der Kaiser erhält Besuch von einigen Scharlatanen, die ihm vorgaukeln, sie seien in der Lage, wunderbare Stoffe zu weben, die nur von intelligenten Menschen wahrgenommen werden könnten. Der Kaiser sieht sie nicht, was er seiner mangelnden Intelligenz zuschreibt. Auch sein ganzer Hofstaat und alle, die an ihn glauben und von ihm abhängig sind, sehen nichts, aber geben vor, die wunderschönen Kleider wahrzunehmen. Schliesslich geht der Kaiser mit den angeblich nur von Intelligenten wahrnehmbaren Kleidern nackt zu einer Prozession. Niemand sagt etwas, ausser ein kleiner Junge, der spontan ausruft: Der Kaiser ist nackt! Damit ist der Bann von Lüge, Anpassung, Heuchelei und der kollektiven Furcht vor deren Entlarvung gebrochen, und der mächtige Kaiser ist der Lächerlichkeit preisgegen.

Eine ausführliche Auslegung dieses zutiefst politischen Märchens, das mit Lüge, Macht, Täuschung, Enttäuschung und Ohnmacht zu tun hat, erübrigt sich hier.

Die Lehre: Staatsmacht ist – insoweit sie auf Lug und Trug, Täuschung, und auf blinder Gefolgschaft beruht – stets angemasste Macht. Ein wirksames Mittel gegen angemasste Macht ist der Humor. Was einmal als lächerlich entlarvt ist, hat – mindestens zunächst einmal – keine Macht mehr. «Man kann stets alle für eine begrenzte Zeit und einige für alle Zeit aber nicht alle für alle Zeit zum Narren halten.» (Abraham Lincoln). Dafür sorgen die spontanen Gassenjungen, welche keine Heuchelei kennen. Nach jeder Blossstellung angemasster Macht braucht es wieder neue Scharlatane mit neuen, noch nicht entlarvten Versprechungen und Verheissungen. Das ist die Schattenseite der Machtpolitik. Gibt es eine andere? Der Schlüsselbegriff für den freiheitlichen Umgang mit der Staatsmacht ist die «kreative Dissidenz» die sich mit Phantasie, Unternehmergeiet und Humor beharrlich für Formen des zivilisierten Zusammenlebens auf der Basis freier Vereinbarungen einsetzt.

Ich habe in Kirrlach frei vorgetragen und die wesentlichen Gesichtspunkte nachträglich schriftlich festgehalten und mich dabei auf ältere Texte von mir abgestützt.
Kritische Rückmeldungen erwünscht: robertnef@bluewin.ch

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