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Die sogenannte Flüchtlingskrise

Lesedauer: 4 Minuten

(Finanz und Wirtschaft – Meinungen)

Der Streit über die Migrationsfrage ist nur ein Teil der europäischen Konsenskrise. Die Solidarität in der EU ist brüchig, sobald Probleme mit den Mitteln der Brüsseler Bürokratie gelöst werden sollen. Ein Kommentar von Robert Nef.

«Die Internationalisierung von Wohlfahrtsstaaten wirft unlösbare Probleme auf.»

Das Haupt- und Grundproblem der EU ist nicht die Immigration, sondern die Finanz- und Strukturkrise, auf die sozialistisch-nationale, international prekär verknüpfte Wohlfahrtsstaaten der EU in den nächsten Jahren und Jahrzehnten zusteuern. Mit einer Intensivierung der Umverteilungsströme auf der Basis einer immer höheren Besteuerung der finanziell Leistungsfähigen lassen sich die Probleme nicht lösen. Auch nicht mit einer Internationalisierung dieses egalitär-interventionistischen Ansatzes. Im Gegenteil, sie verschärfen die Abhängigkeiten und die damit allerseits notwendigerweise verknüpften Aggressionen.

Die EU ist unterwegs zu einer Umverteilungsunion. Umverteilen und Herrschen gehören zusammen. Der Grundsatz «Wer zahlt, befiehlt» wirkt sich in diesem Zusammenhang wie folgt aus: Wer aus öffentlichen Mitteln zahlt, erhebt den Anspruch, auch Bedingungen zu stellen, was aufgrund der Zahlungen zu geschehen hat, d. h., er befiehlt zunehmend, und wer zunehmend befiehlt, wird zunehmend gehasst. Für die Empfänger ist das Bezahlte stets zu wenig, und für die Bezahlenden ist die Einflussnahme stets zu gering, beides ebenfalls mit zunehmender Tendenz. Das ist der Fluch jeder politisch organisierten Umverteilung: eine kontinuierlich zunehmende Unzufriedenheit – das Gegenteil der gegenseitigen Befriedigung, die im herrschaftsfreien Tausch angelegt ist.

Hohe Integrationsleistung der Schweiz

In der Schweiz leben bei einer Gesamtbevölkerung von acht Millionen sechs Millionen Schweizerinnen und Schweizer mit zwei Millionen Ausländerinnen und Ausländern relativ friedlich zusammen. Nahezu jede Familie, jede Schulklasse und jeder Betrieb ist täglich mit den jeweils aktuellen Fragen und Herausforderungen der Integration konfrontiert. Es gibt seit Jahren eine legitime politische Diskussion über notwendige Massnahmen zur Beschränkung der Immigration einerseits und über eine bessere Integration der Immigranten andererseits, aber es gibt keine akute «Flüchtlingskrise».

Die in der Volksabstimmung Ende Februar abgelehnte Durchsetzungsinitiative forderte die automatische Ausweisung krimineller Immigranten. Hinter dieser Forderung stand ursprünglich eine Bevölkerungsmehrheit und auch eine grosse Zahl der grossmehrheitlich nicht kriminellen Immigranten, aber die Debatte wurde vor allem in den Medien vor dem Hintergrund der europäischen Flüchtlingskrise zu einer Grundsatzfrage für oder gegen eine humanitäre, rechtsstaatlich und völkerrechtlich korrekte Einwanderungspolitik und gegen einen xenophoben Populismus umgelenkt. Die Ablehnung der Initiative hat der internationalen Reputation einer weltoffenen Schweiz zweifellos genützt.

Über die Umsetzung der von Volk und Ständen 2014 angenommenen Initiative zur Einschränkung der Masseneinwanderung wird derzeit mit Brüssel verhandelt, weil von dieser Seite eine Verletzung der Personenfreizügigkeit gemäss den bilateralen Verträgen ins Feld geführt wird. Gleichzeitig steht EU-intern das Schengen-Abkommen auf der Kippe. Dass sich die EU angesichts dieser Ausgangslage in die vergleichsweise grosszügige und vernünftige Migrationspolitik eines Nichtmitglieds durch Ultimaten aller Art (z. B. durch eine «automatische Kündigung» aller Abkommen und den Ausschluss aus von der Schweiz mitfinanzierten Forschungsprogrammen) einmischt, zeugt von der Arroganz der EU-Bürokratie. Wenn wir die aktuellen Zahlen der Schweiz auf Deutschland übertragen, würde dies dort einen Einwandereranteil von zwanzig Millionen bedeuten.

Die europäische Flüchtlingskrise ist nur ein Symptom für das Nichtfunktionieren des Schengen-Abkommens und des Drei-Kreise-Immigrationsmodells an der EU-Aussengrenze. Die durch Krieg erzwungene Flucht hat aber mit dem Prinzip der Freizügigkeit nur wenig zu tun. Für Kriegsflüchtlinge, die nach Beendigung des Konflikts so schnell wie möglich in ihr Land zurückkehren sollten, sind temporäre Lager in der Nähe des Konfliktgebiets die bessere Option als eine oft nur vorgegaukelte Willkommenskultur. Was die wirtschaftlich bedingte Migration betrifft, ist in erster Linie eine weltweit freiere Zirkulation von Gütern und Dienstleistungen anzustreben. Dadurch werden die Voraussetzungen dafür geschaffen, dass die produzierenden Menschen in ihrer Heimatkultur bleiben können.

Zahlreiche Mitgliedstaaten beginnen sich jetzt als National-Interventionisten zu entlarven. Von der immer wieder beschworenen EU-internen Solidarität bleibt nur noch wenig übrig. Was sich gegenwärtig abspielt, ist nur der sichtbare Teil des «Eisbergs» einer EU-Solidaritätskrise, die eigentlich klarmacht, dass es diese Solidarität an der Basis gar nie gegeben hat.

Aus liberaler Sicht sind offene Grenzen auch für Personen zu befürworten. Sie führen zu mehr Vielfalt und mehr Wettbewerb. Das aktuelle Grundproblem im Zusammenhang mit offenen Grenzen hat der liberale Ökonom Milton Friedman unmissverständlich formuliert: Man kann nicht gleichzeitig in Wohlfahrtsstaaten leben und offene Grenzen offerieren («You can have open borders or you can have the welfare state»). Ein Drittes gibt es nicht. Wohlfahrtsstaaten sind ihrem Wesen nach sozial-nationalistisch, und ihre Internationalisierung wirft tendenziell unlösbare finanzielle und polit-psychologische Probleme auf.

Die europäischen Arbeitsmärkte waren schon längere Zeit durch Mindestlöhne abgeschottet. Die Marktlöhne, die man Immigranten beim Einstieg in die für sie fremde Arbeitswelt vernünftigerweise offerieren könnte, wären natürlich markant niedriger, was aber von den Betroffenen ohne weiteres akzeptiert würde. Überall, wo die Arbeitsmärkte reguliert und blockiert sind, muss man die Immigranten in Ghettos unterbringen und durch staatliche Renten statt durch private Löhne am Leben erhalten. Das wird immer teurer, unmenschlicher und unmöglicher.

Darum kontingentiert man lieber die wider Willen in Lagern und Unterkünften untergebrachten Sozialrentner (die ja ihrerseits grossmehrheitlich durchaus bereit wären, auch zu relativ bescheidenen Löhnen wirklich zu arbeiten) und schliesst sukzessive die Landesgrenzen, als dass man die Arbeitsmärkte öffnen würde. Dort sind nämlich die tatsächlich unmenschlichen Grenzen, die den Arbeitssuchenden den Weg zu einer Integration durch Arbeit verwehren, weil sich die Arbeithabenden intern gewerkschaftlich und national-solidarisch zulasten der Neuankömmlinge verteidigen, die bereit wären, für einen niedrigeren Lohn zu arbeiten.

Illusion der Kontingentslösung

Die konzeptionelle Schwäche jeder Kontingentslösung in einem Freizügigkeitsraum wird von der Politik verdrängt oder bewusst verschwiegen. Wenn die EU-intern fixierten «Kontingente» nicht irgendwie «eingesperrt» werden, migrieren sie bei offenen Grenzen ohnehin dorthin, wo sie ursprünglich hinwollten. Wenn Kontingente durchgesetzt werden, ist die Zeit der unkontrollierten Grenzen auch für Deutschland vorbei. Dann stehen wir nach der Herausforderung offener Landesgrenzen vor der Herausforderung offener Arbeitsmärkte.

Die freiheitliche Alternative dazu ist leider – wenigstens heute noch – utopisch. Das Migrationsproblem wäre lösbarer, wenn wir in Europa und weltweit völlig offene Arbeitsmärkte und ein auf freiwillige Caritas abgestütztes Sozialwesen hätten. Dann würde sich der Zustrom auf die Anzahl der Arbeitanbietenden und Hilfsbereiten einpendeln. Niemand würde gezwungen, jemandem zu helfen, und niemand könnte ein Kollektiv als «unmenschlich» anprangern. Jedermann müsste seine moralischen Ansprüche und seine persönliche Willkommenskultur an der eigenen privaten Aufnahme-, Anstellungs-, Investitions- und Spendenbereitschaft testen.

Zum Autor
Robert Nef ist Stiftungsratsmitglied des Liberalen Instituts Zürich.

Quelle: https://www.fuw.ch/article/die-sogenannte-fluchtlingskrise/

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