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Für einen liberalen Wertkonservatismus

Lesedauer: 5 Minuten

(NZZ – MEINUNG & DEBATTE – Samstag, 19. März 2016, Seite 14)

Was heisst heute «progressiv», was «konservativ»?

Gastkommentar von ROBERT NEF

Nach dem sogenannten «Rechtsrutsch» bei den eidgenössischen Parlamentswahlen wird geflissentlich übersehen, dass es mindestens zwei sehr unterschiedliche linke und zwei ebenso entgegengesetzte rechte Strömungen gibt. Die politisch polarisierende Frage «Mehr oder weniger Staat?» liegt, richtig betrachtet, jenseits des üblichen Links-Rechts-Schemas, und sie lässt sich auch nicht nach den Kriterien «progressiv» und «konservativ» beantworten. Es gibt zwei Linke: die antiautoritäre und die etatistische, und es gibt zwei Rechte: die freihändlerisch-marktwirtschaftliche und die nationalkonservative.

Bei einem solchen mehrdimensionalen Koordinatensystem wird offensichtlich, wie polemisch und unscharf Begriffe wie «rechtsbürgerlich» und «linksliberal» sind. Sie offerieren für die Innenpolitik der Schweiz keinerlei Orientierungshilfe, und im europäischen Rahmen versagen sie vollends, weil dort die «Rechte» in der Regel gegen den Freihandel, für mehr Staat und für einen nationaleren Umverteilungs-Sozialismus kämpft.

Die rein quantifizierende Frage nach «mehr» oder «weniger» Staat führt also ohne die Ergänzung durch die Forderung nach «mehr Freiheit» so wenig weiter wie die Frage nach einer «fortschrittlicheren» oder «konservativeren» Politik. Die Gegenüberstellung von «links» und «rechts» stiftet analytisch die gleiche Verwirrung wie diejenige von «konservativ» und «fortschrittlich», und die Vorstellung, es liesse sich dazwischen eine vernünftige Mitte finden, bleibt eine Illusion.

Der säkulare, liberale Rechtsstaat

Für die FDP Schweiz ist sowohl eine Identifikation mit konservativen Strömungen als auch eine gezielte Distanzierung von ihnen besonders heikel. Im 19. Jahrhundert waren die Freisinnigen die grossen und radikalen Erneuerer, die sich bei der Gründung des Bundesstaates 1848 gegen den konservativen Sonderbund durchgesetzt hatten. Sie waren die Vorkämpfer des Fortschritts in eine offene Gesellschaft, deren Wirtschaft den Freihandel als Ziel anstrebte. Der säkulare, liberale Rechtsstaat war zweifellos eine fortschrittliche Errungenschaft des Schweizer Freisinns. Das Bekenntnis zum Fortschritt ist also ebenso gut nachzuvollziehen wie das spätere konservative Bemühen, die guten Resultate dieses Fortschritts zu bewahren und nach Kriegs- und Krisenzeiten möglichst wiederherzustellen.

Das 20. Jahrhundert brachte unter dem Druck von Kriegen und Krisen in ganz Europa einen «Fortschritt» in Richtung «mehr Staat», und viele Liberale verpassten auch in der Schweiz den Moment, in dem sie sich konsequenterweise für das evolutionäre Konservieren der eigenen Werte hätten entscheiden und gegen den zutiefst staatsgläubigen Zeitgeist hätten orientieren müssen. Was «fortschrittlich» ist und was «konservativ», hängt eben auch von den vorherrschenden Strömungen und Interessen ab. Aus lauter Angst, in den Medien als «rechts», «bürgerlich-konservativ» oder gar «rechtspopulistisch» gescholten zu werden, gab es in den letzten Jahrzehnten auf liberaler Seite zu viele Konzessionen an jenen Linkspopulismus, dem es gelungen ist, sich in den Medien als vernünftige fortschrittliche Politik der sozialen Verantwortung darzustellen, obwohl die finanziellen Folgen grösstenteils auf kommende Generationen abgewälzt werden.

Das Bekenntnis zur Evolution setzt jenen Optimismus voraus, der das Vertrauen in frei ausgehandelte vertragliche Lösungen mit einem Misstrauen in staatliche und vor allem in zentralistische Machtstrukturen verbindet.

Der Begriff «konservieren» ist ebenso erklärungsbedürftig wie der Begriff «fortschreiten». Es gibt einen reaktionären Konservatismus, der das Rad der Zeit zurückdrehen und die überholten Strukturen einer «guten alten Zeit» wiederherstellen will. Es gibt aber auch einen evolutionären Konservatismus, bei dem eine real existierende Ordnung durch Lernprozesse und durch den Wettbewerb um die jeweils bestmöglichen individuellen und gemeinsamen Lösungen schrittweise verändert wird. Als gemeinsam zu bewahrende, ziemlich konstante Werte gelten langfristige sozialethische Leitlinien und Massstäbe des Zusammenlebens, die Orientierung und gesellschaftlichen Nutzen stiften.

Wer sich hier für «persönliche Freiheit», «Privateigentum», «Privatautonomie» und «beschränkte Staatsgewalt» entscheidet, ist als Liberaler zweifellos wertkonservativ. Die zwangsweise Umsetzung von Werten wie «Gleichheit», «soziale Gerechtigkeit» und «internationale Solidarität» hat hingegen zu Strukturen geführt, die Freiheit, Wohlfahrt und Eigenständigkeit gefährden und keine Priorität verdienen. Wer den heutigen Bevormundungs- und Schuldenmacherstaat samt seiner Fluchttendenz in noch zentralere europäische Strukturen konservieren und ausbauen will, kann sich weder auf liberale Grundwerte noch auf die konservative Strategie einer auf Vielfalt, Wettbewerb und Lernen beruhenden Evolution berufen.

Vom deutschen SPD-Politiker Erhard Eppler stammt die Unterscheidung zwischen Wertkonservativen und Strukturkonservativen. Er hat sie in seinem 1975 erschienenen Buch mit dem Titel «Ende oder Wende» vorgenommen und erläutert. Wertkonservativ ist für Eppler eine Politik, die sich für die Bewahrung der Natur und des Friedens in einer humanen und solidarischen Gemeinschaft einsetzt. Er versuchte damit den progressiven Sozialismus mit den konservativen Strömungen der Umwelt- und Friedensbewegung zu verbinden und stellte sich gleichzeitig gegen jede Politik, der es lediglich um den Machterhalt innerhalb der bestehenden Strukturen geht. – Die Unterscheidung zwischen Werten und Strukturen ist natürlich in diesem Zusammenhang nur eine argumentative Vorstufe. Aber sie zwingt Politiker und Autoren zu deklarieren, welche Werte sie als Zielsetzungen oder als Bekenntnisse bewahren wollen und welche Strukturen sie demzufolge verändern möchten.

Man kann also nicht unbesehen «wertkonservativ» sein, wenn keine Klarheit über die Werte und ihre Rangordnung besteht, zu denen man sich bekennt. Politik ist nicht nur ein Kampf um Interessen, es geht in erster Linie um Werte, um deren Hierarchie und um eine bestmögliche Durchsetzung gegen alle Widerstände.

Mut zur Analyse

Dass sich die Liberalen des 19. Jahrhunderts mit ihrem neu geschaffenen Schweizer Bundesstaat identifizierten und damit liberale Etatisten waren, ist nachvollziehbar. Im 20. Jahrhundert, einem Jahrhundert der Kriege und Krisen, war der «Fortschritt» zu immer mehr Staat und immer mehr Umverteilung und Entmündigung ein Fortschreiten in Richtung Unfreiheit. Ein konsequenter und nicht nach momentaner Popularität schielender Liberalismus hätte sich auf der Basis seiner Werte gegen diese Strukturen wirksamer wehren sollen.

Das sprichwörtlich gewordene «Wer will, dass alles bleibt, muss alles ändern» des jungen Tancredi in Tomasi di Lampedusas «Gattopardo» (übrigens eine ausgezeichnete Darstellung und Gegenüberstellung verschiedener Spielarten des Konservatismus!) liesse sich unter Einbezug von Epplers Unterscheidung folgendermassen präzisieren: «Wer will, dass (bei den Werten) alles bleibt, muss bereit sein, (bei den Strukturen) alles zu ändern.» Das Bekenntnis zur Evolution setzt jenen Optimismus voraus, der das Vertrauen in frei ausgehandelte vertragliche Lösungen mit einem Misstrauen in staatliche und vor allem in zentralistische Machtstrukturen verbindet.

Es bestimmt zunächst eine Entscheidung über das Vorgehen. In der Politik ist aber das Verfahren selber bereits eine zentrale Wertentscheidung. Liberale Wertkonservative, die sich von jenen Entwicklungen abwenden, die von der Linken als «Fortschritt» propagiert werden, können sehr wohl auch eine politische Strategie des geordneten Rückzugs aus etatistischen Fehlstrukturen und zentralistischen Grossprojekten unterstützen. Auch das ist eine Veränderung, die sich gegen bestehende Strukturen richtet, dafür aber für beständige Werte einsteht. Eine solche Politik ist weder revolutionär noch reaktionär. Sie verlangt den Mut zur Analyse, zu darauf abgestütztem wertbezogenem Handeln und zu sorgfältigem Abwägen beim Eingehen von parteipolitischen Bündnissen.


Robert Nef ist Publizist, Präsident der Stiftung für Abendländische Ethik und Kultur und Mitglied des Stiftungsrates des Liberalen Instituts.

NZZ 19. März 2016, Seite 14

(NZZ – ZUSCHRIFTEN – Freitag, 1. April 2016, Seite 11)

Freiheit, nicht Unfreiheit

In einem langen Artikel «Für einen liberalen Wertkonservativismus» (NZZ 19. 3. 16) schreibt Robert Nef: «Im 20. Jahrhundert, einem Jahrhundert der Kriege und Krisen, war der ‹Fortschritt› zu immer mehr Staat und immer mehr Umverteilung und Entmündigung ein Fortschreiten in Richtung Unfreiheit.» Die Begrenzung der Arbeitszeit, die AHV, die Arbeitslosenversicherung, die zweite Säule, die Entlassung der Ehefrau aus der Entmündigung durch den Ehemann im neuen Eherecht, die Einräumung besserer Bildungschancen für die meisten, die Ermöglichung zusätzlicher Optionen für die Verbindung von Kinderbetreuung und Erwerbsarbeit mit Kindertagesstätten – dies alles sind meines Erachtens Fortschritte in Richtung persönlicher Freiheit, Befreiungen aus gesellschaftlicher Unfreiheit. Die Fortschritte haben ihren Preis, ja: Sie erfordern Umverteilungen, sie bedingen etwas mehr Staat. Der Ertrag an Freiheit rechtfertigt jedoch nicht nur mehr Staat, er erfordert ihn zwingend. Deshalb liegt Robert Nef falsch. So falsch wie in den 1980er Jahren der FDPSlogan «Mehr Freiheit, weniger Staat». Wer ausführlich doziert, sollte in einem Kernpunkt seiner Argumentation nicht so sehr danebenzielen.

Christoph Reichenau, Bern

NZZ 1. April 2016, Seite 11

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