(Frankfurter Allgemeine Zeitung – Geisteswissenschaften – Mittwoch, 4. November 2015 – Seite N 3)
Falscher Albert Schweitzer
Es geht um ein Bekenntnis, das mit der Überschrift „Ich bin ein freier Mensch“ im deutschen Sprachraum zu einem beliebten liberalen Lebensmotto geworden ist und Albert Schweitzer (1875 bis 1965) zugeschrieben wird: „Ein freier Mensch: Ich will unter keinen Umständen ein Allerweltsmensch sein. Ich habe ein Recht darauf, aus dem Rahmen zu fallen – wenn ich es kann! Ich wünsche mir Chancen, nicht Sicherheiten! Ich will kein ausgehaltener Bürger sein, gedemütigt und abgestumpft, weil der Staat für mich sorgt. Ich will dem Risiko begegnen, mich nach etwas sehnen und es verwirklichen; Schiffbruch erleiden und Erfolg haben. Ich lehne es ab, mir den eigenen Antrieb mit einem Trinkgeld abkaufen zu lassen. Lieber will ich den Schwierigkeiten des Lebens entgegentreten als ein gesichertes Dasein führen. Lieber die gespannte Erregung des eigenen Erfolges statt die dumpfe Ruhe Utopiens! Ich will weder meine Freiheit gegen Wohltaten hergeben, noch meine Menschenwürde gegen milde Gaben. Ich habe gelernt, selbst für mich zu denken und zu handeln, derWelt gerade ins Gesicht zu sehen und zu bekennen: Dies ist mein Werk! Das alles ist gemeint, wenn wir sagen: Ich bin ein freier Mensch.“
Schweitzer, der „Urwalddoktor“, wurde oft selektiv rezipiert, er wird als protestantischer Ersatzheiliger, als Grüner (bevor es die Grünen gab), als Träger des Friedensnobelpreises, Menschen- und Naturfreund und als Atomkraftgegner verehrt. Seine Ethik mag mit dem Bekenntnis „Ich bin ein freier Mensch“ kompatibel sein, aber das im Netz ohne Quellenangabe verbreitete Zitat wird von Kennern schon rein sprachlich spontan als Fremdkörper empfunden.
In der Tat stammt es von Dean Alfange, und die Quelle ist in dem Buch „Respectfully Quoted: A Dictionary of Quotations“ (2010) festgehalten. Das Zitat wurde dem Eintrag von Dean Alfange in „Who’s who in America“, Ausgabe 1984 /1985, angefügt. Es lautet in englischer Sprache: „I do not choose to be a common man. It is my right to be uncommon – if I can. I seek opportunity – not security. I do not wish to be a kept citizen, humbled and dulled by having the state look after me. I want to take the calculated risk; to dream and to build, to fail and succeed. I refuse to barter incentive for a dole. I prefer the challenges of life to the guaranteed existence; the thrill of fulfillment to the stale calm of utopia. I will not trade freedom for beneficence nor my dignity for a handout. I will never cower before any master, nor bend to any threat for a handout. It is my heritage to stand erect, proud an unafraid; to think and act for myself, to enjoy the benefit of my creations and to face theworld boldly and say: This is, with God’s help, I have done. All this means to be an American.“
Ursprünglich wurde „The American creed“ im Magazin „This Week“ veröffentlicht. Bekannt aber wurde es durch den Wiederabdruck im „Reader’s Digest“ (Oktober 1952 und Januar 1954), wobei dort die Passage „I will never cower bevor any master nor bend to any threat“ und die Passage „to stand erect, proud and unafraid“ fehlten – wie übrigens auch in der angeblichen Schweitzer-Version. Dafür wurde am Ende „to be an American“ durch „to be an entrepreneur“ ersetzt.
Dean Alfange (1897 bis 1989) war der Sohn jüdisch-griechischer Emigranten aus Istanbul. Er hatte in den Vereinigten Staaten für vier verschiedene Parteien erfolglos für politische Ämter kandidiert. Vor der Gründung des Staates Israel leitete er die zionistische Organisation „Committee to Armthe Jewish State“ und im Zweiten Weltkrieg das „Emergency Committee to Save the Jewish People of Europe“. Das Zitat ist in den Vereinigten Staaten bekannter als sein Autor. Es gibt Versuche, es auf den Freiheitsdenker Thomas Paine (1737 bis 1809) zurückzuführen, was aber aus inhaltlichen und stilistischen Gründen höchst unwahrscheinlich ist.
Vermutlich wollte in der deutschen Version der freie Übersetzer (oder war es eine Übersetzerin?) den amerikanisch- patriotischen Schluss, den man bereits im „Reader’s Digest“ in „to be an entrepreneur“ abgewandelt hatte, zum Verschwinden bringen, die Spuren in die Vereinigten Staaten verwischen und das Zitat durch die Zuschreibung an einen einst weltbekannten Friedensnobelpreisträger undUrwalddoktor aufwerten und allgemein beliebt machen.
Das deutschsprachige Zitat mit der angeblichen Autorschaft von Albert Schweitzer taucht nach 2007 erstmals auf. Unter dem unverfänglichen, humanitären Schweitzer-Label kommt die durch und durch unternehmerische Maxime gut an. Sie erscheint in einer neueren Publikation der „Stiftung für die Freiheit“, und der Rostocker Hayek-Club widmete ihr eine ganze Veranstaltung. Wird das Zitat zum Schweitzer-Türöffner für eine neue Internetgeneration, die weder den Urwalddoktor noch den Philosophen, Theologen und Friedensnobelpreisträger kennt und sich kaum die Mühemachen wird, sich in sein literarisches Werk zu vertiefen?
ROBERT NEF