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Praxis der Volksabstimmungen in der Schweiz

Lesedauer: 4 Minuten

Robert Nef
Publizist und Autor

Zusammenfassung des gleichnamigen Referates auf dem Demokratiekongress

Die in der Schweiz auf lokaler Ebene seit Jahrhunderten und auf nationaler Ebene seit 1874 praktizierte direkte Demokratie der Volksmehrheit (und in Verfassungsfragen eine Volksmehrheit und eine Mehrheit der sehr unterschiedlichen Kantone) ist kein Modell, das sich unverändert auf andere politische Systeme übertragen lässt. Sie ist aber ein erfolgreiches Experiment, das, mit entsprechenden Anpassungen, durchaus auch auf deutsche Verhältnisse übertragbar wäre.

Tatsache ist, dass die Parlamente schon bei der Gesetzgebung darauf Rücksicht nehmen, ob die Beschlüsse auch im Sinne der Volksmehrheit seien und einem allfälligen Referendum standhielten. Das Gesetzesreferendum als Volksveto ist wegen seiner präventiv steuernden Wirkung daher das wichtigere und entscheidendere Volksrecht als die Volksinitiative. Es zähmt das Parlament, und hat auch die Tendenz, es gelegentlich zu lähmen. In der Außenpolitik stehen völkerrechtliche Verträge und Beitritte zu internationalen Organisationen auch unter dem Vorbehalt des Staatsvertragsreferendums, was den diesbezüglichen Handlungsspielraum ebenfalls einschränkt.

Die Schweizer sind nicht intelligenter als ihre Nachbarn. Ihr politisches System enthält aber eine zusätzliche Reflexionsstufe an der Basis, die zwar nicht immer „richtig“, aber doch nicht weniger qualifiziert entscheidet als die gewählte Volksvertretung in den beiden Kammern. Das macht die Politik insgesamt langsamer. Dies bedeutet aber auch, dass man oft langsamer in die falsche Richtung geht. Als „falsche Richtung“ bezeichne ich: Mehr Staat, mehr Steuern, mehr Regulierung, mehr Zentralismus, weniger lokale, gliedstaatliche und nationale Eigenständigkeit.

Drei Volksabstimmungen der Jahre 2013 und 2014 haben auch international sowohl Kritik als auch Zustimmung ausgelöst. Bei der Minarettverbotsinitiative forderten die Initianten mit 100 000 Unterschriften folgende Verfassungsbestimmung: „Der Bau von Minaretten ist in der ganzen Schweiz verboten“. Obwohl die Initiative nur von der Schweizerischen Volkspartei (SVP) unterstützt wurde (Wähleranteil 27 Prozent) wurde sie überraschend von einer Volksmehrheit von 57 Prozent angenommen. Das Recht auf freie Religionsausübung ist dadurch nicht tangiert. Das Resultat ist nur erklärbar, wenn man davon ausgeht, dass viele Wählerinnen den Islam als frauenfeindlich wahrnehmen und viele religiös Gesinnte eine Gefährdung der christlichen Grundwerte befürchteten, die es schon auf der Ebene der baulichen Symbolik zu stoppen gelte. In den großen Städten, wo in erster Linie Minarette geplant waren, ist das Verbot abgelehnt worden. Das Resultat zeigt, dass es zweckmäßiger gewesen wäre, die Materie im jeweiligen lokalen Baurecht zu lösen und dafür zu tolerieren, dass sich Dörfer und kleinere Städte aufgrund der Mehrheitsmeinung ihrer Bürgerschaft weigern, einen Minarettbau zu bewilligen.

Bei der „Initiative gegen die Abzockerei“ ging es um eine Änderung des Aktienrechts im Hinblick auf eine Beschränkung der Spitzengehälter großer Publikumsgesellschaften. Das Thema war hoch aktuell und hoch populär, die Auswirkungen sind allerdings eher bescheiden. Die These, dass sich die direkte Demokratie zunehmend populistisch und wirtschaftsfeindlich auswirken könnte, hat dadurch Auftrieb bekommen. Umgekehrt hat sich gezeigt, dass die Volksrechte auch eine Art Ventil sind für Probleme, die in den Parlamenten durch korporatistische Kompromisse (crony capitalism) verdrängt werden.

Die Initiative gegen die Masseneinwanderung ist, ebenfalls überraschend, 2014 mit einer hauchdünnen Mehrheit angenommen worden. Sie lässt Einwanderung weiterhin zu, möchte sie aber auf nationaler Ebene zahlenmäßig im Griff haben. Dies steht im Widerspruch zur Personenfreizügigkeit innerhalb des Schengen-Abkommens, dem auch die Schweiz bilateral beigetreten ist. Dieser Widerspruch stellt die Schweiz und die EU vor schwierige Probleme, die aber bei beidseitiger Bereitschaft zur Rücksichtnahme nicht unlösbar sind. Die Einwanderungsquote nähert sich in der Schweiz der Dreißigprozent-Grenze. Aus liberaler Sicht ist Einwanderung grundsätzlich ein Positivsummenspiel, und die Schweiz verdankt ihren Einwanderern viel. Die Einwanderung ist aber nicht zuletzt auch eine Frage des Maßes und der Assimilierungsfähigkeit. Das Recht, über die Zugehörigkeit zur eigenen Bevölkerung mitzubestimmen ist, wie dies der in Genf lebende liberale deutsche Ökonom Röpke betont hat, eines der wichtigsten demokratischen und politischen Rechte.

Anhand der Beispiele lassen sich folgende Gefahren der direkten Demokratie auflisten, die aber nach den Erfahrungen in der Schweiz gegenüber den offensichtlichen Chancen nicht überwiegen: Die erhebliche, präventiv bremsende Auswirkung der Volksrechte auf den parlamentarischen Gesetzgebungsprozess, die Erschwerung der internationalen Zusammenarbeit, die relativ tiefe Stimmbeteiligung (drei bis vier Abstimmungen pro Jahr), die Überforderung durch die Komplexität der Fragestellung, der Minderheitenschutz, die Gefahr der Förderung rechter und linker Populismen, die Gefahr der „Käuflichkeit“ von Mehrheiten, das Problem der Behördenpropaganda, die allfällige Verletzung von bestehendem Verfassungsrecht, von Staatsverträgen und von Völkerrecht (die in der Schweiz durch kein Verfassungsgericht korrigiert werden kann), die praktischen Schwierigkeiten bei der Umsetzung durch den Gesetzgeber und das Problem des Missbrauchs der Volksrechte für parteipolitische Propaganda.


Robert Nef
Schweizer Publizist und Autor
robertnef@bluewin.ch

Vita:

  • Geburtsjahrgang: 1942
  • Geburtsort: St. Gallen
  • Robert Nef studierte Rechtswissenschaften in Zürich und Wien
  • zwischen 1961 und 1991 war er wissenschaftlicher Mitarbeiter am Lehrstuhl für Rechtswissenschaft an der ETH Zürich
  • 1979 hat er das Liberale Institut in Zürich gegründet, welches er heute präsidiert
  • von 1994 bis 2008 war er Mitherausgeber der Schweizer Monatshefte
  • er ist Mitglied der Mont Pelerin Society sowie der Friedrich August von Hayek-Gesellschaft und Präsident der Stiftung für Abendländische Ethik und Kultur
  • 2008 wurde er mit der Hayek-Medaille ausgezeichnet
  • seit 2010 ist er zudem Präsident des Vereins Gesellschaft und Kirche wohin? sowie Stiftungsrat der Stiftung Freiheit und Verantwortung
  • Nef vertritt betont wirtschaftsliberale und staatskritische Positionen
  • für die Zeitschrift „eigentümlich frei“ ist er als Autor tätig und Mitglied des Redaktionsbeirats
  • zu Nefs 70. Geburtstag ist unter dem Titel „Kämpfer für die Freiheit“ eine Festschrift erschienen, u.a. mit Beiträgen von Charles B. Blankart, Christoph Blocher, Peter Forstmoser, Heidi Hanselmann, Konrad Hummler, Václav Klaus, Gerhard Schwarz, Tito Tettamanti, Erich Weede
Veröffentlichungen:

  • Bibliographie zum Bau-, Boden- und Planungsrecht der Schweiz, 1968-1975. Institut für Orts-, Regional- und Landesplanung, Zürich 1976
  • Robert Nef, Martin Lendi: Staatsverfassung und Eigentumsordnung. Institut für Kommunalwissenschaften und Umweltschutz, Linz 1981
  • Lob des Non-Zentralismus. Academia-Verlag, St. Augustin 2001
  • Politische Grundbegriffe. NZZ-Verlag, Zürich 2002

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