(Stiftung für Abendländische Ethik und Kultur)
STAB-Rundbrief Nr. 180
Zürich, im Dezember 2014
An den Freundeskreis der Stiftung für Abendländische Ethik und Kultur
Von Robert Nef
Wann ist die Idee der Freiheit erfunden bzw. entdeckt worden? Und was ist der Ursprung der Menschenrechte?
Es gibt diesbezüglich verschiedene Datierungen. Eine recht weit verbreitete und im Zusammenhang mit dem Thema Menschenrechte durchaus sinnvolle Datierung geht ins Jahr 1789 zurück. Die «Erklärung der Menschenrechte» in der französischen Nationalversammlung wird häufig als gemeinsame Geburtsstunde des politischen Liberalismus und des Sozialismus gedeutet, jene zwei sich zum Teil überlappenden und zum Teil konkurrierenden Strömungen gegen den Feudalismus des Ancien Régime. Etwas früher war – was in Europa gern «vergessen» wird – die «Virginia Bill of Rights». Beide Dokumente werden aber zu Recht als eine Frucht der Aufklärung bezeichnet.
Diese Betrachtungsweise ist zu kurzfristig und zu eurozentrisch. Sowohl die Idee der Freiheit als auch die Idee der Menschenrechte ist viel älter und viel universeller.
Die Genfer Philosophin Jeanne Hersch hat vor fast 50 Jahren, als es darum ging, den 20. «Geburtstag» der «Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte» zu feiern, ein eindrückliches Buch herausgegeben, das eine Auswahl von Texten aus verschiedensten Kulturen und Zeitaltern abdruckt, eine wahre Fundgrube, die uns als Europäer auch ein bisschen zur Bescheidenheit mahnt (Le droit d’être un homme, UNESCO, Paris 1968, dt. Übers., Das Recht ein Mensch zu sein, Basel 1990.)
Wir Europäer bzw. Amerikaner haben weder die Freiheit noch die Menschenrechte «erfunden» bzw. «entdeckt», sie sind angelegt im Fundus der menschlichen Kulturgeschichte, die allerdings auch die grauenvollsten Beispiele der Verletzung von Menschenrechten überliefert. Vielleicht waren es am Anfang auch die Verletzer, welche die Defensive der Nicht-verletzt-werden-Wollenden in Gang setzten? Wahrscheinlich ist die Idee der Menschenrechte in einem Abwehrkampf entstanden, den die freiheitsbewussten Verletzten gegen die machtbewussten Verletzer immer wieder führen mussten.
Eine Durchsicht der Dokumentation von Jeanne Hersch führt zu folgender These:
Die Geburtsstunde der Freiheit, ist das Bewusstwerden der Möglichkeit «Nein» zu sagen, wenn jemand anderer etwas von uns verlangt, das wir selbst nicht wollen.
Das Alte Testament verlegt dieses «Nein» gegenüber Vorschriften bereits an den Anfang der Menschheitsgeschichte, als Eva das Verbot brach, den Apfel vom Baum der Erkenntnis zu essen, der es den Menschen ermöglicht, zwischen «gut» und «böse» zu unterscheiden. Wenn wir die Menschheitsgeschichte bis in die mythische Vorgeschichte hinein verfolgen, kommen wir zum Schluss, dass der erste liberale Mensch eine Frau war: Eva. Sie ist deswegen oft genug für die Vertreibung aus dem Paradies verantwortlich gemacht, verflucht und gescholten worden. Wer die Freiheit liebt, und die Unterscheidung zwischen «gut» und «böse» als Voraussetzung für die Anerkennung von Menschenrechten hält, wird zwar vielleicht nicht den Verlust des Paradieses verschmerzen, aber in Dankbarkeit der ersten Dissidentin gedenken, die gleichzeitig die «Entdeckerin» der Freiheit ist, weder Aristoteles, noch John Locke, noch Adam Smith, sondern Eva. Ihr Name bedeutet «Leben».
In der griechischen Mythologie setzt sich allerdings ein Mann, Prometheus über das Verbot des Zeus hinweg, und bringt den Menschen das Feuer, das gleichzeitig nützlich und gefährlich ist. Aber auch hier ist kreative Dissidenz im Spiel. Ein weiteres Beispiel kreativer Dissidenz verkörpert aber auch im griechischen Kulturkreis eine Frau: Antigone, für welche Sittengebote wichtiger sind als das auf Staatsraison abgestützte Recht.
Das Gefühl der Freiheit entsteht im Widerstand gegen Fremdbestimmung, gegen Pflichten, Vorschriften und Forderungen, die man weder innerlich noch äusserlich akzeptiert. Freiheit ist ein Auszug aus der Knechtschaft, eine Weigerung, weiterhin abhängig zu sein.
In Analogie zur Frage nach der Geburt der Freiheitsidee, stellt sich auch die Frage nach der Entstehung der Menschenrechte. Sie sind wahrscheinlich als erweiterte «Fähigkeit zur Fürsorglichkeit» ebenfalls in vorhistorischer Zeit angelegt, aber zeitlich nach der Entdeckung der Freiheit.
Die Geburtsstunde der Menschenrechte ist die Erkenntnis, dass man alles, was man an Rechten für sich selbst und seine Gruppe beansprucht grundsätzlich jedem Mitmenschen in seiner Eigenschaft als Mensch ebenfalls zugestehen sollte.
Eine solche Erkenntnis setzt schon einiges an Reflexionsbereitschaft, an Erfahrung und an Reife voraus, und tatsächlich steckt die Menschheit, was die Realisierung von Menschenrechten betrifft, immer noch in den Anfängen. Ein Blick in die Tageszeitung oder Tagesschau klärt uns darüber auf, wie verletzlich und wie gefährdet Menschenrechte sind, auch in sogenannt «zivilisierten Ländern».
Gilt bei den Menschenrechten das Prinzip «Je mehr desto besser?» »Niemand hat ein Recht auf alle Rechte”, lesen wir in Goethes Reflexionen und Maximen, und damit ironisiert er in feiner und liberaler Weise das Pochen auf immer mehr »Rechte auf” irgendetwas Wünschenswertes. Die Erweiterung und wahrscheinlich gut gemeinte Ergänzung des Menschenrechtskatalogs durch Annexe, etwa durch das »Recht auf Liebe”, das jedem Kind gewährleistet sein soll (von welcher Instanz?), verwässert die Grundidee, sich weltweit auf das gemeinsam Fundamentale und Realisierbare zu beschränken.
Auch das «Recht auf Familie» verliert in gleichem Ausmass an Konturen, als der Begriff «Familie» in einer Art und Weise ausgelegt wird, die sich immer weiter vom traditionellen Familienbegriff entfernt. Zugegeben: Die Institution der Familie wandelt sich, und es gibt weltweit Formen des Zusammenlebens, die mit andern als abendländischen Vorstellungen über «Familie» verknüpft sind, und denen man die Bezeichnung «Familie» nicht einfach absprechen darf. Das führt aber zu Konflikten mit dem Grundwert der persönlichen Freiheit.
Die erheblichen internen Spannungsfelder (Antinomien) zwischen den drei »Generationen” von Menschenrechten (Abwehrrechte, Beteiligungsrechte und Sozialrechte) werden in der Menschenrechtsdiskussion unterschätzt oder verdrängt, können doch sowohl die Beteiligungsrechte als auch die Sozialrechte dazu missbraucht werden, die Abwehrrechte zu relativieren und auszuhöhlen. Eine klare interne Priorität, eine Abgrenzung der »Generationen” und eine Regelung, was im Zweifelsfall Vorrang hat, bleibt auf der Traktandenliste der Theoretiker und Praktiker des Völkerrechts.
Menschenrechte sind kein frei interpretierbares «Geschenk» des politischen Systems bzw. einer politischen Weltorganisation. Dessen ungeachtet wird aus einer wohlfahrtsstaatlich inspirierten Sicht Freiheit zu einem Gut, das der Staat seinen Bürgern vermittelt und für sie produziert, und das daher durch Gesetzgebung, Politik, staatliche Leistung und Lenkung in Form eines möglichst vollständigen Katalogs von Grund- und Sozialrechten sowie von Infrastrukturen und Renten aktiv bereitgestellt werden soll. Im Vordergrund stehen heute in Lehre und Praxis das sogenannte institutionelle Grundrechtsverständnis und die Drittwirkung, zwei Tendenzen, welche die Freiheit als ein vom Staat aktiv zu ermöglichendes und zu vermittelndes, aber auch grundsätzlich beschränktes Zugeständnis deutet. Die liberale Gegenmeinung, Freiheitsrechte seien eine Generalklausel, mithin ein Bollwerk gegen alle jemals aktuell werdenden Bedrohungen durch einen freiheitsbeschränkenden und Wohlfahrt zuteilenden nationalen oder europäischen bzw. globalen Staatsapparat, verliert bei diesem Ansatz leider weiter an Terrain.
Die Menschenrechte werden heute nicht mehr als klassische persönliche Freiheitsrechte aufgefasst, sondern als Vehikel zur Verwirklichung «sozialer Gerechtigkeit» durch Umverteilung interpretiert bzw. instrumentalisiert. Exzessive Umverteilung greift aber willkürlich in Eigentumsrechte und frei vereinbarte Rechtsverhältnisse ein. Die sogenannte Einheit des Menschenrechtskatalogs und der drei Generationen von Menschenrechten (die klassisch-liberalen, die sozialen und die «Solidaritäts- und Gruppenrechte») ist ein Mythos, der in Lehre und Praxis kaum je hinterfragt wird. In der öffentlichen Diskussion wird mit dieser Mehrdeutigkeit ein undurchsichtiges Spiel getrieben, bei dem letztlich die freiheitsrechtliche «erste Generation» der Menschenrechte der sozialrechtlichen «zweiten Generation» und den «Gruppenrechten» geopfert wird. Kein Freund der Freiheit ist gegen Menschenrechte im Sinn von Freiheitsrechten. Aber es gibt inzwischen eine ganze Kaskade von Menschenrechtsgenerationen, die im staatlich garantierten Recht auf Arbeit, im Recht auf Wohnung, im Recht auf Bildung, im Recht auf Wasser, im Recht auf Gesundheit, im Recht auf eine intakte Umwelt und im Recht auf Liebe (aller Kinder der Welt!) gipfeln – alles Versprechungen, die letztlich ins Grenzenlose ausufern und daher realistischerweise auch bei keinem Gericht eingeklagt werden können.
Man kann sich kaum mehr eine staatliche Aktivität oder Intervention vorstellen, die nicht irgendwie mit einem Kampf gegen sogenannte «Menschenrechtsverletzungen» dieser Art gerechtfertigt werden könnte. Zudem wird oft zu wenig bedacht, dass das Diskriminierungsverbot, das ursprünglich Minderheiten schützen wollte, in einem Grundkonflikt mit der Privatautonomie steht, die den Individuen grundsätzlich zubilligt, nach eigenem Ermessen einzelne Menschen zu bevorzugen und gleichzeitig andere zu benachteiligen. Durch die Hintertür der «aktiven Menschenrechtspolitik» betritt der egalitäre Etatismus im Namen des Primats der Politik die politische Bühne. Umverteilungspolitik und Gleichstellungspolitik fallen aus dieser Sicht mit Menschenrechtsverwirklichung zusammen, und wer sich gegen die Umverteilung und den Zwang zur Gleichbehandlung (auch des Ungleichen) wendet, wird bald einmal als Feind der Menschenrechte abgestempelt. Diese Sicht der Dinge, öffnet der politischen Willkür Tür und Tor und stellt das wohlfahrtsstaatliche Prinzip der Umverteilung zugunsten einer politisch definierten Gruppe von Benachteiligten über das rechtsstaatliche Prinzip der Gleichbehandlung.
Die Menschenrechte haben durch die permanente Ergänzung des ursprünglichen Katalogs durch soziale Ansprüche ihren Stellenwert der Garantie von Freiheit und Menschenwürde eingebüsst. Sie sind heute ein politisches Einfallstor für etatistisches und kollektivistisches Gedankengut. Die Gerichte tendieren dazu, den Schutz der Freiheit vor Staatseingriffen zu einem Schutz der Staatsaktivität zugunsten eines heterogenen Pakets von Menschenrechten umzudeuten.
Eine unbeschränkte aktive Menschenrechtspolitik kann zum Freipass für die allgemeine Bevormundung im Leistungs- und Lenkungsstaat werden. Dabei wird das Gleichstellungsprinzip missbraucht. Wenn Freiheitsrechte als Schranken für staatliches Handeln durch positive Menschenrechte und durch ein leistungs- und lenkungsstaatliches «institutionelles Grundrechtsverständnis» ersetzt werden, sind einer Verstaatlichung aller Lebensbereiche keine Grenzen mehr gesetzt.
Für Liberale ist die Privatautonomie der Kern der Menschenwürde, und alle Formen der Bevormundung, auch jene die mit dem Motiv der kollektiven Sozialhilfe praktiziert werden, stellen diesen Kern in Frage. Ein weiterer Ausbau »kollektiver Menschenrechte” ausserhalb der eigenen Staatsverfassung ist abzulehnen. Dadurch werden lediglich neue Grenzfälle geschaffen, die sich letztlich gegen die in unserer Verfassung garantierten individuellen Menschenrechte auswirken.
Eine Kodifizierung von Menschenpflichten in einem politischen und völkerrechtlichen Dokument ist ebenfalls abzulehnen, weil dadurch auf dem Weg der Interpretation eine totalitäre Ordnung eingeführt werden kann. Dazu noch einmal Goethe: »Es ist besser, dass Ungerechtigkeiten geschehen, als dass sie auf ungerechte Weise gehoben werden.”
Aus liberaler Sicht gibt es auch im Bereich der Menschenrechte einen dringenden Bedarf, jene Ausweitung, Internationalisierung und extensive Auslegung in Frage zu stellen, die schliesslich den Basiskonsens beim Kerngehalt gefährdet. Eine immer längere Liste von Menschenrechten, bei denen dafür die Zustimmung je nach Kulturkreis nur noch «à la carte» oder unter Vorbehalt religiöser Traditionen erfolgt, schadet der Idee der «Allgemeinen Menschenrechte». Was allgemein gilt, muss sich auf das Grundsätzliche beschränken und sollte der Ausweitung durch richterliche Auslegung, auch wenn diese im Einzelfall noch so gut gemeint sein mag, entzogen bleiben. Wem die Menschenrechte wegen ihres freiheitlichen Kerngehalts am Herzen liegen, muss diese sowohl vor der grenzenlosen Auslegung als auch vor der sozialrechtlichen Überwucherung schützen.
Dieser Rundbrief basiert auf verschiedenen bereits publizierten Beiträgen zu diesem Themenkreis.