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Eine Schweizer Sicht auf die EU

Lesedauer: 11 Minuten

Robert Nef*

Die Herausgeber der vorliegenden Publikation haben den Verfasser dieses Beitrags gebeten, die Schweizer Sicht der EU darzustellen. Einen allgemeingültigen „Schweizer Standpunkt“ als Sicht eines Nicht-Mitgliedes oder eines „Noch-nicht-Mitgliedes“ kann es aber in einer für die Zukunft entscheidenden aussen- und innenpolitischen Grundfrage nicht geben. Es gibt darüber divergierende Meinungen, die sich nur aufgrund unzulässiger Vereinfachungen in das Schema Pro oder Contra EU- Beitritt der Schweiz einordnen lassen. Wer heute als Schweizer einen Beitritt der Schweiz zur EU ablehnt, braucht nicht unbedingt ein Gegner einer institutionalisierten Zusammenarbeit in Europa oder gar ein Gegner der europäischen Idee einer politisch garantierten Friedensordnung und eines weltoffenen Freihandels zu sein. Er kann auch einfach nach Abwägung der aller Vor- und Nachteile und aller möglichen Szenarien einer weiteren Entwicklung die freie Assoziation einer Mitgliedschaft vorziehen. Und dies nicht nur im eigenen Interesse, sondern unter Einbezug aller Beteiligten und Betroffenen.

1. Von der Ablehnung des EWR- Beitritts zum Bilateralismus

Nach 1989 gab es auch in der Schweiz eine Grundsatzdiskussion über eine neue aussen- und handelspolitische Positionierung in Europa. 1991 gab es verschiedene Gedenkanlässe zur Erinnerung an die Gründung der Eidgenossenschaft durch die drei Urkantone im Jahre 1291. Kurz vorher war aber bekannt geworden, dass der Staatsschutz während des Kalten Krieges über 900 000 vorwiegend linke Bürgerinnen und Bürger beobachtet und registriert hatte, ohne dass dazu eine rechtliche Grundlage existiert hätte. Ein grosser Teil der Kulturschaffenden und der Intellektuellen rief darum zum Boykott der patriotischen Feiern auf. Das Prinzip der internationalen Solidarität, so lauteten die Parolen damals, soll unter den neuen politischen Bedingungen das traditionelle in zwei Weltkriegen bewährte Prinzip der Neutralität und der nationalen Souveränität schrittweise ersetzen. Die Auseinandersetzung zwischen den vor allem in der Innerschweiz und in der Ostschweiz und in ruralen Gebieten stark verankerten national-konservativen, patriotischen Kreisen und ihren international und europäisch ausgerichteten intellektuellen und globalwirtschaftlich ausgerichteten Gegnern eskalierte im Abstimmungskampf um den Beitritt zum Europäischen Wirtschaftsraum 1992. Als Beitritt zu einer völkerrechtlichen Gemeinschaft mit erheblichen Auswirkungen auf die Verfassung, brauchte dieser Beitritt eine Zustimmung durch eine Mehrheit der an der Abstimmung teilnehmenden Bevölkerung und eine Mehrheit der Kantone.

Sowohl die Landesregierung (Bundesrat) als auch beide Kammern des Parlamentes als auch die Mehrheit der grossen Parteien und die wichtigsten meinungsbildenden Medien hatten sich für einen Beitritt ausgesprochen. Im gleichen Jahr fanden auch in Europa die Debatten um den Vertrag von Maastricht statt, der den Wandel von einer noch wenig institutionalisierten Europäischen Gemeinschaft zu einer Europäischen Union markierte. Dadurch gewann der Beitritt zum EWR als Partner einer neuen, aber europaweit ebenfalls heftig diskutierten ökonomischen, politischen und sozialen Union eine neue Dimension. Die Zustimmung zum EWR konnte nicht mehr isoliert von der Grundsatzdebatte um ein immer stärker institutionalisiertes, harmonisiertes und zentralisiertes Europa geführt werden. Spätestens seit dem Vertrag von Maastricht war das ambitiöse Ziel eines immer engeren politischen, sozialen und kulturellen Zusammenschlusses offensichtlich. Die Abkehr vom Konzept einer auch von der Schweiz mitgetragenen Freihandelszone mit grundsätzlich eigenständigen Nationalstaaten war vollzogen.

Da die Landesregierung nicht mit einem Nein gerechnet hatte, hinterlegte sie bereits anfangs 1992 ein Beitrittsgesuch zur EU in Brüssel und signalisierte damit, dass der EWR-Beitritt nur ein Schritt in Richtung EU-Vollmitgliedschaft sei. Dies verwandelte die Frage des EWR-Beitritts in eine Grundsatzfrage, Pro oder Contra EU- Beitritt. Die ursprünglich relativ sachbezogene Abstimmung über eine stärkere wirtschaftliche Kooperation mit den europäischen Partnern, die man im Rahmen der EFTA bereits mit Erfolg erprobt hatte, mutierte zu einer hochemotionale Abstimmung über den Fortbestand der nationalen Souveränität, der Neutralität und – vor allem – der direkten Demokratie. Die EWR-Beitrittsgegner konnten mit plausiblen Gründen aufzeigen, dass der EWR-Beitritt unweigerlich zu einer Vollmitgliedschaft führen würde.

Wie begründet und berechtigt diese Argumentation war, ist bis heute umstritten. Es gibt vor allem bei den damals den Beitritt befürwortenden Freisinnig-Demokraten (Freisinnig-demokratische Partei, FDP) und Christdemokraten (Christlich-demokratische Volkspartei CVP) zahleiche Exponenten, die angesichts der heute vorherrschenden EU-Beitrittskepsis gegenüber ihren Wählern beteuern, sie hätten schon damals den weiteren Schritt zu einem Vollbeitritt nicht mehr unterstützt.

Die Abstimmung wurde für das politische Establishment zu einem Debakel. Der EWR-Beitritt scheiterte am 6. Dezember 1992 an der Mehrheit der Kantone (in 16 von 23 lehnte eine Mehrheit ab) und an 50,3Prozent Nein-Stimmen insgesamt. Die Kampagne gegen den EWR-Beitritt wurde vor allem von zwei Politikern geführt, vom erfolgreichen Unternehmer Christoph Blocher (SVP) und vom damaligen Präsidenten des Schweizerischen Gewerbeverbandes Otto Fischer (FDP), die sich beide als liberal-konservative Befürworter der traditionell weltoffenen Schweiz positionierten, als Bewahrer der Neutralität, des föderalistischen Staatsaufbaus und der direkten Demokratie. Sie waren und sind keine nationalistischen Rechtspopulisten, auch wenn dieses Bevölkerungssegment natürlich zur Ablehnung beigetragen hat.

Die Welle der intellektuellen Patriotismuskritik verbunden mit einer Abwendung vom Nationalstaat und einer radikalen Infragestellung aller Mythen und auch aller geschichtlichen Überlieferungen, die eine nationale Eigenständigkeit und ein Selbstbewusstsein fördern und stützen, charakterisierte die intellektuelle Debatte in den Neunzigerjahren. Sie wurde aber – vor allem auch unter jungen Schweizerinnen und Schweizern aller Landessprachen – nie zum mainstream. Nach der Jahrtausendwende verebbte die Kritik am „Sonderfall Schweiz“, und für die Post-68-er Generation gilt ein nationales und kantonales und lokales Selbstbewusstsein nicht mehr als political incorrect.

Im gleichen Ausmass und parallel dazu entwickelte sich eine allgemeine Skepsis gegenüber der EU. Ein Beitritt als Vollmitglied (inklusive Währungsunion) wird derzeit aufgrund von Umfragen von über 75 Prozent der Bevölkerung abgelehnt. Wieviel an dieser Ablehnung auf Emotionen und Instinkten beruht und wieviel aus rationalem Kalkül bezüglich eigenen und öffentlichen Interessen, lässt sich nicht aufschlüsseln. Allerdings glaubt auch kaum jemand mehr ernsthaft daran, dass es sich lohnt, sich in einer global vernetzten Welt abzuschotten und den sogenannten „Alleingang“ zur Maxime zu machen. Für die Zusammenarbeit in Europa und die globale Vernetzung werden heute bilaterale aussenpolitische und handelspolitische Verträge generell als die bestmögliche Lösung betrachtet.

Seither ist die Auseinandersetzung zwischen Befürwortern eines Beitritts zur EU als Vollmitglied einerseits oder einer möglichst eigenständigen Verknüpfung durch bilaterale Verträge anderseits die zentrale politische Auseinandersetzung. Sie hat auch die Parteienlandschaft verändert. Die einzigen Partei, die schon 1992 vehement gegen einen EU-Beitritt kämpfte (die Schweizerische Volkspartei, SVP) ist inzwischen zur grössten Partei der Schweiz geworden, die gegen 30 Prozent Wähleranteile hat und in Abstimmungen gelegentlich auch über 50 Prozent Zustimmung gewinnen kann. Christoph Blocher ist nach seinem erfolgreichen Kampf gegen den EWR-Beitritt, den er als Kampf gegen den EU-Beitritt thematisierte, zu einer stark polarisierenden politischen Leaderfigur geworden. Dass die vom damaligen wirtschaftlichen und politischen Establishment vorausgesagte Isolierung und Verarmung der Schweiz im Falle eines Nicht-beitritts nicht stattgefunden hat, ist für die Gewinner der Abstimmung bis heute eine Genugtuung. Für die Verlierer ist sie einer der Gründe für den immer noch stark spürbaren emotionalen Graben zwischen der Volksmehrheit und jenen, die sich für die weltoffene politische und wirtschaftliche Elite halten, die dem Volk den Weg in die Zukunft weisen. Eliten mögen es nicht, wenn sich herausstellt, dass eine emotionale Volksmehrheit weitsichtiger war als die geballte Macht der Manger, Bürokraten und Intellektuellen, die in den Medien den Ton angeben.

2. Christoph Blocher als Leader der heterogenen EU-Beitrittsskeptiker

Christoph Blocher, der von 2003 bis 2007 als Justizminister der Landesregierung angehörte, wird in den europäischen Nachbarländern oft als tendenziell xenophober Rechtspopulist wahrgenommen. Dieses Bild ist unzutreffend. Er gehört nicht zu jenen nationalistischen Populisten, die sich in zahlreichen EU-Mitgliedländern (auch in den Niederlanden) als Retter der Frustrierten, der Globalisierungs- und Modernisierungsverlierer anbieten und eine protektionistische Umleitung der Umverteilungsströme zugunsten der eigenen Wählerschaft versprechen. Er steht fest auf dem Boden der Schweizer Demokratie und seine Ziele sind liberal-konservativ, anti-interventionistisch und global freihändlerisch. Er hat gute Gründe für die Auffassung, dass die Schweiz als Handelsmacht und Finanzdrehscheibe auf dem internationalen Parkett durchaus selbstbewusster auftreten könnte und dass sie sich nicht als Bittsteller profilieren und als finanzielle Milchkuh missbrauchen lassen müsse. Die nonzentral wettbewerbliche direkte Demokratie deutet er mit plausiblen Gründen als zukunftstaugliches Modell der politischen Machtbeschränkung und nicht als historisches Relikt aus einer politisch weniger komplexen agrarwirtschaftlichen Epoche. Er ist ein global erfolgreicher Unternehmer, der seine Erfahrungen und Überzeugungen auch in der Politik einbringt. Inzwischen hat kombiniert er die Erfahrung als Unternehmer, Parteiführer, Parlamentarier und temporäres kritisches Mitglied er Landesregierung. Als Parteiführer einer tendenziell national-konservativen Partei aber mit internationaler unternehmerischer Erfahrung ist er im europäischen Vergleich geradezu ein Glücksfall.

Sein zentrales Engagement geht seit 1992 primär klar in Richtung Vermeidung des EU- Beitritts und sekundär, aber damit verknüpft, in Richtung „weniger Staat und weniger Staatsausgaben“, beide Zielsetzungen sind – unabhängig von den Motiven, vom Stil und von der Tonlage – tatsächlich liberal. Das populistische Steckenpferd der SVP, die restriktive Einwanderungspolitik, ist für ihn nicht prioritär. Persönlich geht es ihm in der Migrationspolitik nicht primär um zusätzliche Restriktionen, sondern um eine Abkoppelung vom ebenfalls unliberalen und für die Schweiz extrem nachteiligen EU-Dreikreisemodell und um eine bedarfsgerechte selbstbestimmte Migrationspolitik nach dem Muster Canadas bzw. Australiens oder Neuseelands. Dagegen ist, bzw. wäre aus liberaler Sicht nichts einzuwenden.

Rein mentalitätsmässig zeichnet sich in vielen aktuellen Fragen in der Schweiz eine Art Zweiparteiensystem ab: Auf der einen Seite die traditionsverhaftete SVP und ihre ad hoc Sympathisanten (aus allen Parteien) und auf der andern Seite die durchaus heterogene Anti-SVP, die mit unterschiedlichsten Motiven auf das gezielte Nein der Traditionalisten mit einem vieldeutigen Nein zum Nein antwortet, ohne sich auf ein konstruktive Programm einigen zu können. Politologen sprechen von einem Graben zwischen einer rural und gewerblich geprägten, sich als Sonderfall definierenden und EU-beitrittsskeptischen Traditions-Schweiz auf der einen und einer urban-pluralistisch international vernetzten Zukunfts-Schweiz auf der andern.

Die Schwachstelle dieser groben Zweiteilung besteht darin, dass sie jene Gruppe der EU-Beitrittsskeptiker, die in der EU eine veraltete und mit der bereits globalisierten Schweiz nicht kompatible bürokratische Fehlkonstruktion sieht, nicht berücksichtigt. Aus dieser Sicht leidet die EU zunehmend unter ihren Strukturmängeln und ist auf die Dauer nicht mehr in der Lage, den finanziellen Zusammenbruch der nicht nachhaltig finanzierbaren nationalen Wohlfahrtsstaatssysteme zu verhindern. Diese Gruppierung ist bestimmt nicht in der „ruralen Schweiz“ zu lokalisieren und vor allem nicht bei jener „älteren Generation“, die aus naheliegenden Gründen die von ihr mitverursachte Krise des Umverteilungsstaates auch auf der nationalen Ebene allzugerne verdrängt.

3. Der aktuelle Standpunkt der Landesregierung

Heute bekennen sich in der Schweiz alle politischen Gruppierungen zur schrittweisen Assoziation durch bilaterale Verträge. Die Landesregierung vermeidet daher sorgfältig jeden Eindruck einer mittel- und langfristigen Beitrittsbereitschaft und dementiert eine solche ausdrücklich, wenn auch nicht immer glaubwürdig. Diese Einigkeit über den heute praktizierten „bilateralen Weg“ ist darum trügerisch, weil dieser unterschiedlich interpretiert wird und seine Chancen für die Zukunft auch von den Vertragspartnern abhängen. Die derzeitige Landesregierung sieht, gestützt auf die Mehrheitsmeinung in der Bundesverwaltung und in den Wirtschaftsverbänden und Gewerkschaften, aber entgegen der Mehrheitsmeinung in der Bevölkerung, den Bilateralismus als fragile Übergangslösung zu einer noch nicht definierten institutionellen weiteren Annäherung. Die diesbezüglichen Verlautbarungen zu einem Verhandlungsmandat mit Brüssel sind stark verklausuliert und vermeiden sorgfältig die Grundsatzfrage eines mittel- oder längerfristigen Beitritts. (Vergl. dazu den Europabericht 2006, Bundesblatt 2006 .6850; Aussenpolitischer Bericht 2009, Bundesblatt 2009.. 6291; und Bericht vom 17. Sept. 2010 über die Evaluation der schweizerischen Europapolitik, Bundesblatt 2010 7277)

Es entsteht bei all diesen Stellungnahmen der Eindruck, dass es der Landesregierung darum geht, abgestützt auf die mehrheitlich beitrittsfreundliche Bundesverwaltung den allgemein akzeptierten bilateralen Weg aktiv weiter voranzutreiben und dabei gegenüber Brüssel entsprechende Anpassungsbereitschaft zu manifestieren. Schrittweise sollen dabei (angeblich unter dem jeweiligen Sachzwang und ohne Alternative) immer mehr Konzessionen gemacht werden, welche die Abhängigkeit verstärken. Je intensiver diese bilaterale Vernetzung gegenüber der EU wird, desto plausibler wird das Argument gegenüber der eigenen Bevölkerung, man sei jetzt de facto ein Mitglied ohne Stimmrecht, das neben dem „automatischen Nachvollzug von EU-Recht und von EU-Gerichtsentscheiden“ keine realistische Alternative mehr habe. Unter dem Druck dieser Argumentation, so geht das politische Kalkül, würde dann die heute mehr oder weniger EU-skeptische Mehrheit umkippen. Es geht dabei vor allem um jenes, grob mindestens auf 40 Prozent zu schätzende Bevölkerungssegment, das in der „bürgerlichen Mitte“ eher opportunistisch als grundsätzlich Pro oder grundsätzlich Contra einen EU-Beitritt eingestellt ist. Wenn plausibel gemacht werden kann, dass ein Beitritt über das Mitbestimmungsrecht als Mitglied eher einen Souveränitätsgewinn bringt, ist ein öffentlicher Meinungsumschwung nicht auszuschliessen. Ein Beitritt, so wird argumentiert, koste zwar einen politischen Preis, biete aber ökonomische Vorteile und beschränke den ohnehin kleiner geworden aussen- und handelspolitischen Spielraum kaum.

Diese „fait accompli“- Argumentation wird jenen schwankenden Bürgerlichen der Mitteparteien (FDP und CVP) jene Brücke bauen, die ihnen erlaubt, die heute vorherrschende politisch-taktische EU-Skepsis schrittweise wieder durch eine realpolitische EU-Befürwortung zu ersetzen. Man wird die Option des selbstbewussten Mitglieds der Option der fremdbestimmten Kolonie gegenüberstellen.

Ob dieses politische Taktieren mit dem Bilateralismus aufgeht oder nicht, hängt weniger von einem Stimmungsumschwung in der Schweiz zusammen als mit der künftigen Entwicklung in der EU. Die Frage, welche Strömungen in der EU in 5 bis 10 Jahren die Oberhand haben, die zentripetalen, oder die zentrifugalen, kann auch ein kritischer Beobachter aus einem Nichtmitgliedland nicht voraussagen. Sollte sich die EU von einem machtpolitischen und wohlfahrtsstaatlich zentralistisch inspirierten Umverteilungsprojekt wieder vermehrt einer Freihandelsassoziation annähern und den aktuellen Binnenmarkt auch global öffnen, würde dem Widerstand der weltoffenen Schweiz gegenüber einer Angliederung an einen zentralistisch und bürokratisch geführten Staatenverbund der Boden entzogen.

4. Die EU aus strikt liberaler Sicht

Der Bilateralismus ist sowohl für die Anhänger einer möglichst umfassenden nationalen Souveränität (die schätzungsweise einen Viertel der Bevölkerung ausmachen) als auch für die Anhänger einer schrittweisen Annäherung an die EU ohne Ausklammerung der Beitrittsoption (ein weiteres Viertel) als auch für die vorbehaltlosen Beitrittsbefürworter (schätzungsweise ebenfalls ein Viertel) nur eine zweitbeste Lösung (second-best).

Aber was vertritt das letzte, schwer definierbare Viertel, zu dem sich der Verfasser dieses Beitrages zählt. Es ist eine grundsätzliche gemischt rational-emotionale Skepsis gegenüber allen zentralistischen und bürokratischen Organisationen mit politischer Macht. Diese Skepsis existiert auch gegenüber der politischen Macht im eigenen Lande und hat mit Nationalismus und Fremdenangst, die beiden Promotoren des Rechtspopulismus, überhaupt nichts zu tun. Das favorisierte Modell des friedlichen Zusammenlebens ist aus dieser Sicht eine Zivilgesellschaft, die weltweit durch private Verträge vernetzt ist und die das Universalitätsprinzip der Weltoffenheit und den möglichst offenen globalen Freihandel vertritt. In einer offenen zivilgesellschaftlichen Weltordnung konkurrieren unterschiedliche politische und religiöse Konzepte auf der Basis von exit, voice und loyalty (Albert Hirschmann) und akzeptieren militärische Gewaltanwendung nur zur Selbstverteidigung.

Dass man aus dieser Sicht keine Sympathien hat für einen politischen Zusammenschluss, der seine eigene Intensivierung und Zentralisierung zum erklärten Ziel macht und durch Regulierung und Harmonisierung einen Binnenmarkt politisch organisiert, liegt auf der Hand.

Die hier grob vereinfachend dargestellten vier Gruppen lassen sich im schweizerischen Parteiensystem nicht eindeutig zuordnen. Klar ist die Präferenz für möglichst viel nationalstaatliche Souveränität verknüpft mit einer restriktiven Einwanderungspolitik bei der Schweizerischen Volkspartei (SVP, Wähleranteil 27 Prozent). Die Sozialdemokraten (SP, Wähleranteil 19 Prozent) sind offiziell langfristig für einen Beitritt, sind sich aber bewusst, dass ihre Basis ihre gegenüber den europäischen Genossen privilegierte Position nicht durch eine Öffnung des Arbeitsmarktes gefährden will. Die liberalen Freisinnig-demokraten waren ursprünglich die staatstragende Partei, haben aber – nicht zuletzt wegen ihrem Schwanken in der Europafrage – massiv Wähleranteile an die SVP verloren (FDP, Wähleranteil 15 Prozent).

Die Christdemokraten, die ihre Stammlande in der katholischen Innerschweiz hatten, kommen aus demselben Grund nur noch auf 12 Prozent.

Es geht nun abschliessend darum, die persönliche EU-kritische Sicht eines strikt liberalen Schweizers zu skizzieren, der in der Politik das in der Wirtschaft bewährte Prinzip des friedlichen wettbewerblichen Nonzentralismus vertritt.

Die EU ist von ihrer Entstehungsgeschichte und von ihren Strukturen her ein Versuch, die Krisen des national strukturierten, sozialdemokratischen Industriezeitalters auf supranationaler bzw. kontinentaler Ebene zu überwinden. Eigentlich werden aber die durch eine allgemeinverbindliche demokratisch legitimierte nationale Gesetzgebung nicht mehr lösbaren Probleme, zum Beispiel in der Währungspolitik, in der Migrationspolitik und in der tickenden Zeitbombe der kollektiven Altersvorsorge, einfach auf die europäische Ebene gehoben. Es geht um einen Versuch, das im Zeitalter der Globalisierung fragwürdig gewordene wohlfahrtsstaatliche „ancien régime“ des auf National-Ökonomie basierenden Industriezeitalters künstlich noch eine Weile am Leben zu erhalten.

Die grosse Schwäche der EU im Bereich der Legislativen hängt mit der Tatsache zusammen, dass in einem Staatenverbund, der an sich noch weniger zentralistisch sein sollte wie ein Bundesstaat, eine einzige schlecht legitimierte zentralistische Institution geschaffen wurde (die EU-Kommission), die angeblich die auf den Verfassungsvertrag abgestützten allgemeinverbindlichen Gesetze erlassen soll. Der Streit um die Gewichtung der Stimmenanteile lässt nichts Gutes ahnen. Was daraus folgt, ist eine Verstärkung der heutigen Exekutiv- und Richterherrschaft. Dies täuscht darüber hinweg, dass man einem Kontinent einen Zentralstaat aufzwingen will, dessen historisch-politische Strukturen allenfalls eine nach aussen offene Freihandelsassoziation und allenfalls noch einen auf Frieden und gemeinsame Sicherheit ausgerichteten Staatenbund nahelegen. Schon ein Bundesstaat mit einem funktionierenden Zweikammersystem, in dem die Kleinen, Bevölkerungsschwachen gleiche Mitbestimmungsmöglichkeiten hätten wie die Grossen, wäre – anders als in den USA und in der Schweiz – in der EU nicht konsensfähig.

Die EU ist mithin ein veraltetes Projekt, das im strukturkonservativen Denken des Merkantilismus, der korporatistisch gezähmten bzw. gefesselten Marktwirtschaft, des Kalten Krieges und des entmündigenden Daseinsvorsorgestaates verhaftet geblieben ist und das für die globalen Herausforderungen des 21. Jahrhunderts schlecht geeignet ist. Die Europäer stehen vor der Wahl, ob sie durch noch mehr Regulierung, Zentralisierung und Harmonisierung eine Legitimitätskrise und eine Vollzugskrise ansteuern wollen, oder ob sie noch rechtzeitig den Aufbruch wagen zu offenen Strukturen, in denen autonome Zivilgesellschaften mit kleinen, schlanken und kostengünstigen politischen Strukturen und weitgehend privatisierten Infrastrukturen friedlich konkurrieren und kooperieren.

Mit dieser durchaus in der bürgerlichen Tradition verankerten Option hat die europäische Idee Zukunft. Die Europäer müssen ihre Vielfalt wahren und pflegen und den Weg zu einer neuen EFTA im ursprünglichen Sinn einer – New European Free Trade Association (NEFTA) – beschreiten, einer nach innen und aussen offenen Gemeinschaft in der die Mitglieder hohe Autonomie geniessen. Aus diesem Grund sollten wir Europäer die Ambitionen der politisch-administrativen nationalstaats-ähnlichen Megastruktur und allfällige Weltmachtträume hinter uns lassen. Europa braucht enge und flexible wirtschaftliche und kulturelle Kontakte auf der Basis des fremdherrschaftsfreien Tauschs. Europa braucht auch jenen Frieden, den es im Lauf der Jahrhunderte immer wieder selbst zerstört hat. Als Basis einer gemeinsamen Sicherheitspolitik genügt ein robustes militärisches Friedensbündnis mit nationalen Streitkräften, welche die Defensive sicherstellen und interne und allenfalls gegenseitig wieder aufflammende Aggressionsgelüste im Keim ersticken können. Anstelle des unlesbaren Verfassungsvertrags von Lissabon wäre ein kurzes Dokument wie die Magna Charta Libertatum oder der Bundesbrief der alten Eidgenossen in Erwägung vorzu ziehen. Freihandel entsteht nicht durch neue komplizierte bilaterale und multilaterale Regeln, sondern durch den von den Beteiligten selbstbestimmten, im eigenen Interesse offerierten und vollzogenen schrittweisen Abbau bestehender Schranken.


* Erschien etwas gekürzt 2014 in einer Publikation der TeldsersStichtig Stiftung auf Holländisch, Liberal Reveil, 55 e jaargang, maart 2014, p. 30ff.

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