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Was Europa soll – und was nicht

Lesedauer: 4 Minuten

(Finanz und Wirtschaft – Meinungen)

Die EU befindet sich mit einem Mehr an Regulierung und Zentralisierung auf dem Holzweg, der sie in eine Legitimitätskrise führen wird. Sie braucht offene, in Konkurrenz stehende Strukturen. Ein Kommentar von Robert Nef.

«Europa muss seine Vielfalt wahren und den Weg zu einer neuen Efta gehen.»

Auch in der Aussenpolitik und in der Aussenwirtschaftspolitik gilt das in der Marktwirtschaft bewährte Prinzip des wettbewerblichen Nonzentralismus, in dem Gebietskörperschaften friedlich kooperieren. Wirtschafts- und sozialpolitisch entwickeln sie auf demokratischer Basis ihre eigenen, unterschiedlichen Ordnungsmodelle weiter.

Die Schweiz hat nach der Ablehnung des EWR-Beitritts gegenüber der EU den bilateralen Weg beschritten, also eine Kooperation auf Basis von themen- und branchenbezogenen Verträgen ohne institutionelle Einbindung. Dieser Bilateralismus ist aber bei näherer Betrachtung für eine Mehrheit lediglich das kleinere Übel. Für die Anhänger einer möglichst umfassenden, nationalen Souveränität (die schätzungsweise gut ein Viertel der Bevölkerung ausmachen) belastet jede internationale Verpflichtung die Eigenständigkeit. Für die vorbehaltlosen Beitrittsbefürworter (schätzungsweise ebenfalls ein Viertel) ist der Bilateralismus als halbherzige Improvisation ohne institutionalisierte Mitbestimmung höchstens die zweitbeste Lösung. Einzig für die Anhänger einer schrittweisen Annäherung an die EU ohne Ausklammerung der Beitrittsoption (wohl ein weiteres Viertel) gilt er als Königsweg.

Aber was vertritt das letzte, schwer definierbare Viertel, das je nach Koalition über das weitere Schicksal der Bilateralen entscheiden wird und zu dem sich auch der Verfasser dieses Beitrags zählt? Es ist eine grundsätzliche, gemischt rational-emotionale Skepsis gegenüber allen zentralistischen und bürokratischen Organisationen mit politischer Macht. Diese Skepsis existiert auch gegenüber der politischen Macht im eigenen Lande und hat mit Nationalismus und Fremdenangst, den beiden Promotoren des Rechtspopulismus, überhaupt nichts zu tun.

Offene Zivilgesellschaft

Das favorisierte Modell des friedlichen Zusammenlebens ist aus dieser Sicht eine Zivilgesellschaft, die weltweit durch private Verträge vernetzt ist und die das Universalitätsprinzip der Weltoffenheit und den möglichst liberalen globalen Freihandel vertritt. In einer offenen zivilgesellschaftlichen Weltordnung würden unterschiedliche politische und religiöse Konzepte friedlich konkurrieren und koexistieren. Militärische Gewalt käme nur zur Selbstverteidigung und zur Wahrung des internationalen Friedens zur Anwendung.

Dass man aus dieser Sicht keine Sympathien hat für einen politischen Zusammenschluss, der seine eigene Intensivierung und Zentralisierung zum erklärten Ziel macht und durch Regulierung und Harmonisierung einen Binnenmarkt politisch organisiert, liegt auf der Hand. Die hier grob vereinfachend dargestellten vier Gruppen lassen sich im schweizerischen Parteiensystem nicht eindeutig zuordnen.

Klar ist die Präferenz für möglichst viel nationalstaatliche Souveränität, verknüpft mit einer restriktiven Einwanderungspolitik, bei der Schweizerischen Volkspartei (SVP, Wähleranteil 27%). Die Sozialdemokraten (SP, Wähleranteil 19%) sind offiziell langfristig für den Beitritt, sind sich aber bewusst, dass ihre Parteibasis die gegenüber den europäischen Genossen privilegierte Position nicht durch eine Öffnung des Arbeitsmarktes gefährden will. Viele Arbeiter und Angestellte wählen übrigens mehrheitlich SVP. Die Freisinnig-Demokraten (FDP, Wähleranteil 15%), ursprünglich die staatstragende liberale Partei, haben aber – nicht zuletzt wegen ihres Schwankens in der Europafrage – massiv Wähleranteile an die SVP verloren. Die Christdemokraten, die ihre Stammlande in der katholischen Innerschweiz hatten, kommen aus dem gleichen Grund heute nur noch auf 12%.

Die EU ist von ihrer Entstehungsgeschichte und von ihren Strukturen her ein Versuch, die Krisen des national strukturierten, sozialdemokratischen Industriezeitalters auf supranationaler bzw. kontinentaler Ebene zu überwinden. Eigentlich werden aber die durch eine allgemeinverbindliche, demokratisch legitimierte, nationale Gesetzgebung auf den ersten Blick nicht mehr lösbaren Probleme, zum Beispiel in der Währungspolitik, in der Migrationspolitik und der tickenden Zeitbombe der kollektiven Altersvorsorge, einfach auf die europäische Ebene gehoben.

Ein veraltetes Projekt

Die grosse Schwäche der EU im Bereich der Legislativen hängt mit der Tatsache zusammen, dass in einem Staatenverbund, der an sich noch weniger zentralistisch sein sollte als ein Bundesstaat, mit der EU-Kommission eine einzige, schlecht legitimierte, zentralistische Institution geschaffen wurde, die angeblich die auf den Verfassungsvertrag gestützten allgemeinverbindlichen Gesetze erlassen soll. Der Streit über die Gewichtung der nationalen Stimmenanteile in der kollektiven Meinungsbildung lässt nichts Gutes ahnen. Was daraus folgt, ist eine Verstärkung der heutigen Exekutiv- und Richterherrschaft.

Das täuscht darüber hinweg, dass man einem Kontinent einen Zentralstaat aufzwingen will, dessen historisch-politische Strukturen allenfalls eine nach aussen offene Freihandelsassoziation und einen auf Frieden und gemeinsame Sicherheit ausgerichteten Staatenbund nahelegen. Schon ein Bundesstaat mit einem funktionierenden Zweikammersystem, in dem die Kleinen, Bevölkerungsschwachen gleiche Mitbestimmungsmöglichkeiten hätten wie die Grossen, wäre – anders als in den USA und der Schweiz – in der EU nicht konsensfähig. Weder die USA noch die Schweiz kennen übrigens die höchst fragwürdige Praxis des zentralstaatlichen Bail-out eines bankrotten Gliedstaates.

Die EU ist ein veraltetes Projekt, das im strukturkonservativen Denken des Merkantilismus, der korporatistisch gezähmten bzw. gefesselten Marktwirtschaft, des Kalten Krieges und des entmündigenden Daseinsvorsorgestaats verhaftet geblieben ist und das für die globalen Herausforderungen des 21. Jahrhunderts schlecht gerüstet ist. Die Europäer stehen vor der Wahl, ob sie durch noch mehr Regulierung, Zentralisierung, Umverteilung und Harmonisierung eine Legitimitätskrise und eine Vollzugskrise ansteuern wollen. Oder ob sie noch rechtzeitig den Aufbruch wagen zu offenen Strukturen, in denen autonome Zivilgesellschaften mit kleinen, eigenständigen, schlanken und kostengünstigen politischen Gebilden und weitgehend privatisierten Infrastrukturen friedlich konkurrieren und kooperieren.

Die Zukunft der europäischen Idee

Mit dieser in der bürgerlichen Tradition verankerten Option hat die europäische Idee Zukunft. Die Europäer müssen ihre Vielfalt wahren und pflegen und den Weg zu einer neuen Efta im ursprünglichen Sinn – New European Free Trade Association – beschreiten, einer nach innen und aussen offenen Gemeinschaft, in der die Mitglieder hohe Autonomie geniessen. Aus diesem Grund sollten wir Europäer die Ambitionen der politisch-administrativen, nationalstaatsähnlichen Megastruktur und allfällige Weltmachtträume hinter uns lassen. Europa braucht enge und flexible wirtschaftliche und kulturelle Kontakte auf der Basis des fremdherrschaftsfreien Tauschs. Europa braucht auch den Frieden, den es im Lauf der Jahrhunderte immer wieder selbst zerstört hat. Als Basis einer gemeinsamen Sicherheitspolitik genügt ein robustes Friedensbündnis, gestützt auf nationale Streitkräfte, welche die Defensive sicherstellen und interne sowie allenfalls gegenseitig wieder aufflammende Aggressionsgelüste im Keim ersticken können.

Statt des unlesbaren Verfassungsvertrags von Lissabon wäre ein kurzes Dokument wie die Magna Charta Libertatum oder der Bundesbrief der alten Eidgenossen in Erwägung zu ziehen. Freihandel entsteht nicht durch neue komplizierte bilaterale und multilaterale Regeln, sondern durch den von den Beteiligten selbstbestimmten, im eigenen Interesse offerierten und vollzogenen schrittweisen Abbau bestehender Schranken.

Zum Autor
Robert Nef ist Präsident des Stiftungsrats des Liberalen Instituts.

Quelle: https://www.fuw.ch/article/was-europa-soll-und-was-nicht/

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