(NZZ – MEINUNG & DEBATTE – Dienstag, 2. September 2014, Nr. 202, Seite 18)
Zum Initiativprojekt betreffend die Hierarchie von Völkerrecht und Landesrecht.
Das Spannungsfeld zwischen Völkerrecht und Landesrecht gehört zu den zentralen Verfassungsfragen. Die revidierte Bundesverfassung hat sie nicht abschliessend beantwortet. In der Botschaft des Bundesrates vom 20. November 1996 zur Reform der Bundesverfassung wird es sogar ausdrücklich als «offene und umstrittene Frage» bezeichnet.
Jetzt soll dieses Verhältnis durch eine Volksinitiative geklärt werden. Damit würde diese Grundsatzfrage durch den Verfassungsgeber selber (d. h. durch eine Volks- und Ständemehrheit) beantwortet und nicht durch richterliche Interpretationen. Die Initiative würde nach dem vorgeschlagenen Wortlaut lediglich das in der Verfassung verankern, was während Jahrzehnten sowohl dem geltenden Verfassungsrecht als auch der bisher darauf abgestützten Gerichtspraxis entsprochen hat: Nur zwingendes Völkerrecht steht über der Verfassung. Die Behauptung, diese Initiative beabsichtige eine «Abschaffung der Menschenrechte» und sei ein reines Wahlkampfmanöver, verkennt somit den grundsätzlichen Stellenwert des Themas.
«Das Völkerrecht ist zu beachten», so lautet der Artikel 5 Absatz 4 der Bundesverfassung. Nach langjähriger bewährter Praxis bedeutete dies Folgendes: Die von Volk und Ständen beschlossene Bundesverfassung gilt als rechtliche Grundordnung unseres Staates grundsätzlich vorbehaltlos. Nur bei einem Widerspruch zum zwingenden Völkerrecht, das (analog zur lancierten Initiative) bisher bewusst eng definiert worden ist, geht Völkerrecht vor und ist auch eine Schranke der Verfassungsrevision. Wenn die Völkerrechtsenthusiasten den allgemeinen Grundsatz «Völkerrecht bricht Landesrecht» in die Verfassung aufnehmen wollen, sollten sie eine Initiative mit dieser Zielsetzung lancieren und eine Volks- und Ständemehrheit von ihrem Anliegen überzeugen. Die Tatsache, dass eine solche Initiative wohl wenig Chancen hätte, zeigt, dass die schrittweise eingeleitete Verfassungsänderung durch höchstrichterliche Interpretation keine hinreichende demokratische Legitimation hat. Kurz: Die Initianten wollen keine materielle Verfassungsänderung, sie wollen vielmehr verhindern, dass die Verfassung auf dem Weg der grenzenlosen Auslegung europäisiert, internationalisiert und entdemokratisiert wird und nicht mehr Volk und Stände, sondern ein weltfremdes Richtergremium in Strassburg Inhalt und Schranken der Menschenrechte definiert.
Interessanterweise ist die Formulierung «ist zu beachten» nicht nur beim Völkerrecht verfassungsrechtlich verankert, sondern auch beim Subsidiaritätsprinzip, das sich anerkanntermassen nicht nur auf das Verhältnis zwischen dem Bund und den Kantonen bezieht, sondern auch auf völkerrechtliche Vertragspartnerschaften. Die Zuständigkeit für Gesetzgebung und für richterliche Gesetzesanwendung und -auslegung wird bei der untergeordneten bzw. bürgernäheren Gebietskörperschaft vermutet, und die übergeordnete Instanz hat dies zu respektieren. Der Grundsatz richtet sich übrigens nicht nur an den Gesetzgeber. Er gilt auch für Gerichte aller Stufen, die erfahrungsgemäss weltweit mehr dem Trend zur Zentralisierung und zur Harmonisierung folgen als dem Prinzip der Subsidiarität. Leider findet das Prinzip weder in der Staatsrechtslehre noch in den Medien jene Anerkennung und Unterstützung, die es aus grundsätzlichen Überlegungen verdienen würde.
Es geht bei der angekündigten Initiative nicht um einen «Ausstieg aus den Menschenrechten», sondern um eine «Notbremsung» bei der grenzenlosen Auslegung von immer freiheitsfeindlicher konzipierten neuen Generationen von Menschenrechten. Ursprünglich waren die Menschenrechte mit den Freiheitsrechten als negative Ansprüche an den Staat zur Respektierung der individuellen Freiheit identisch. Durch eine schrittweise Ausweitung auf positive Ansprüche an den Staat (d. h. durch eine zweite und dritte Generation von sozialen und kollektiven, entwicklungspolitischen Menschenrechten) werden sie zum politischen Vehikel kaum mehr begrenzbarer Ansprüche an den Daseinsvorsorgestaat, der immer mehr zum Bevormundungs- und Verwöhnungsstaat wird. Aus liberaler Sicht ist dies kein Fortschritt.
—
Robert Nef ist Stiftungsratspräsident des Liberalen Instituts und der Stiftung für Abendländische Ethik und Kultur.