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Wohlstand und Reichtum

Lesedauer: 3 Minuten

(NZZ – MEINUNG & DEBATTE – Dienstag, 22. Juli 2014, Nr. 167, Seite 15)

Historisch gesehen wirkte der Kapitalismus als rasante Überwindung der generellen Massenarmut, die man vorher als gottgegeben hingenommen hatte. Dass nun die Reichen immer reicher werden, ist so lange kein Problem, als die Armen dadurch ebenfalls schneller der Armut entkommen.

Ältere Semester mögen sich noch daran erinnern, dass man an Geburtstagen in der Schule nicht das internationale und interkulturelle «Happy Birthday» mehrsprachig gesungen hat, sondern den Kanon «Viel Glück und viel Segen auf all deinen Wegen». Das war nicht nur musikalisch anspruchsvoller, sondern auch in Bezug auf das Gewünschte. Die Schlusszeile des Kanons lautete nämlich: «Gesundheit und Wohlstand sei auch mit dabei.»

Reiche als «Knautschzone»

Die Reihenfolge der Wünsche ist wohl nicht zufällig. Heute brauchen sich die Schülerinnen und Schüler nicht mehr gegenseitig Gesundheit und Wohlstand als Folge von Glück und Segen zu wünschen, denn der Wohlfahrtsstaat ist für die allgemeine Wohlfahrt zuständig, und dazu gehören nach gängiger Definition alle Massnahmen, die zum Wohlbefinden eines Menschen beitragen. Da ist materieller Wohlstand inbegriffen. Dieser gilt als erstrebenswert, besonders dann, wenn der Pegel für alle steigt, möglichst gleichmässig. Reichtum ist hingegen kein positiv besetzter Begriff. Reich sein ist auch aus religiöser Sicht nicht erstrebenswert, denn die Reichen kommen – mindestens im Neuen Testament – nicht gut weg. Darum hat sich hierzulande ein Ideal herausgebildet, das eine möglichst kontinuierliche, ausgeglichene, nicht zu schnelle Zunahme des allgemeinen Wohlstands zum Ziel hat. Die technologische und ökonomische Entwicklung verläuft aber erfahrungsgemäss eher sprunghaft, was weltweit nicht nur zu Konjunkturschwankungen, sondern auf allen Märkten auch zu ungleichen Einkommens- und Vermögensverhältnissen führt. Da etabliert sich schnell die Vorstellung, es sei eine Staatsaufgabe, diese Entwicklungssprünge durch zwangsweise antizyklische Korrekturen und vor allem durch fiskalische Umverteilung auszugleichen. Der Traum von einem weltweit durch Egalitarismus, Etatismus und Interventionismus gezähmten Kapitalismus und einer politischen Bekämpfung «unverdienten Reichtums» ist kein zukunftstaugliches ökonomisches und soziales Entwicklungsmodell. Es dient der Befriedigung des Neides, schadet aber dem globalen Ausstieg aus der Massenarmut. Die Reichen spielen als Leistungselite, als Investoren von Risikokapital, als volkswirtschaftliche «Knautschzone» bei Konjunkturschwankungen und als Promotoren des zivilisatorischen Fortschritts durch anspruchsvollen Konsum für die Überwindung der Armut eine entscheidende Rolle.

Der Kapitalismus war, historisch gesehen, eine rasante Überwindung der Massenarmut, die man vorher gar nicht wahrgenommen hatte oder als gottgegeben hinnahm. Man versprach den Armen dafür das Himmelreich nach dem Tod. Relikte dieses Feudalismus gibt es heute noch in Ländern, in denen unter der falschen Etikette des Kapitalismus verschiedene Spielarten des Korporatismus und des sozialpolitischen Klientelismus praktiziert werden. Zur Hebung des allgemeinen Wohlstands braucht es in den Schwellen- und Entwicklungsländern den raschen Anschluss an die technische Zivilisation, die bekanntlich nur von jenen als Fluch bezeichnet wird, die ihre Vorzüge seit Generationen genutzt haben und selber weder bereit noch in der Lage wären, wirklich auf sie zu verzichten. Dieser Anschluss wird nicht durch soziale und technische Entwicklungshilfe von aussen, sondern durch wertsteigernde Investitionen einer mit dem Land vertrauten Mittelschicht vorangetrieben, die – wenn sie Erfolg hat – eben schnell reich wird und diesen Reichtum im Lande reinvestiert, sofern dieses nicht eine reichtumsfeindliche Politik betreibt oder im Sumpf der Korruption versinkt.

Hinter der populären Kritik am Reichtum steckt die tief verwurzelte Vorstellung einer statischen feudalistischen Wirtschaft und Gesellschaft, in der tatsächlich viele Reiche auf Kosten der Armen reich waren. Diese Auffassung ist heute nicht nur falsch, sie ist verhängnisvoll. Die Überwindung der Armut ist in marktwirtschaftlichen Ordnungen kein Verteilungs- und Umverteilungsproblem in einem Nullsummenspiel, sondern Gegenstand einer nachhaltig produktivitätssteigernden Arbeitsteilung. Politökonomische Grossexperimente, bei denen die Kollektivierung des Privateigentums und die Enteignung der Reichen mit der planwirtschaftlichen Verteilung und Umverteilung kombiniert wurden, sind bisher in all ihren Spielarten gescheitert. Nicht der Reichtum als solcher ist problematisch, sondern der Neid derjenigen, die nicht müde werden, sich als «relativ Arme» mit den «absolut Reichen» zu vergleichen. Dass die Reichen immer reicher werden, ist so lange kein Problem, als die Armen dadurch auch schneller (aber nicht ganz so schnell) der Armut entkommen.

Das falsche Bild der Schere

Um beim beliebten, aber letztlich falschen Bild der Schere zu bleiben: Der obere Teil darf nach oben gehen, wenn der untere Teil nicht nach unten, sondern ebenfalls nach oben geht, allenfalls etwas langsamer und zeitverschoben.

Das Erfolgsgeheimnis einer wirksamen Armutsbekämpfung und einer schrittweisen Wohlstandsvermehrung ist die Duldung des Reichtums, das Akzeptieren von Spannweiten und eine gewisse Immunität gegenüber Neidgefühlen.

Entscheidend für den Wohlstand ist es nicht, ob es Unterschiede gibt zwischen «Arm» und «Reich» und wie gross diese sind, entscheidend ist, wie erträglich das Leben der wirtschaftlich Schwächsten ist und welche Chancen sie haben, ihre Armut durch jenes Glück und jenen Segen zu überwinden, zu dem man durch Leisten, Lernen, Tauschen, Sparen und Erfinden selber etwas beitragen kann.


Robert Nef ist Präsident des Stiftungsrates des Liberalen Instituts und der Stiftung für Abendländische Ethik und Kultur und Vizepräsident der Stiftung Freiheit und Verantwortung.

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