Zum Inhalt springen

Der sozialstaatliche Dionysos gegen den Gekreuzigten

Lesedauer: 4 Minuten

Peter Ruch

Wer von der Theologie her ein Wort über die Freiheit, die Robert Nef ein Leben lang beschäftigt hat, sagen will, muss sich erinnern, dass es in der Theologie um die Offenbarung Gottes geht. Gott offenbart sich in unzähligen Facetten und gestaltet Geschichten und Geschichte. In jeder Lage bleibt die Souveränität bei ihm, und es kostet ihn reichlich Ärger, den Subjektwechsel, den der Mensch laufend anstrebt, um selber Gott spielen zu können, abzuwehren. Dieser Subjektwechsel findet oft innerhalb des Volkes Gottes statt. Das Alte Testament strotzt von Beispielen, wie Untreue, Versagen und Missverständnisse die Relation zu Gott trübten. Meistens ging das Versagen von den religiösen Amtsstellen aus. Im neuen Gottesvolk, das von den Jüngern Jesu abgebildet wird, sieht es nicht besser aus. Und wirft man einen Blick auf die Kirchengeschichte, so fällt auf, dass während 1’000 Jahren – vom Zusammenbruch des römischen Reiches bis zur Reformation – die Kirche weniger an den biblischen Zeugnissen als an der orientalischen Despotie orientiert war. Der Papst war bis in die Phänomenologie hinein zum Erben altägyptischer und mesopotamischer Despoten geworden. Allerdings gab es auch Kontrapunkte. Im Alten Testament waren es die Propheten, die der religiösen Elite charismatisch ins Handwerk pfuschten. Im Neuen Testament werden Petrus, Paulus und andere einem Gesinnungswandel durch den Heiligen Geist unterworfen. Im Mittelalter wurde die mächtige Kirche von Reformbewegungen erschüttert. Auf den überfälligen Durchbruch der Reformation, die mit den Namen Luther, Zwingli und Calvin verbunden ist, darf man als Protestant stolz sein.

Doch sollte niemand dem Irrtum verfallen, der reformatorische Geist blase durch die Jahrhunderte bis zum heutigen Tag. Seit rund 300 Jahren hat im Protestantismus nicht die Offenbarung Gottes Vorrang, sondern die Frage, welche Bedingungen erfüllt sein müssen, damit Offenbarung möglich ist. Die theologische und kirchliche Zunft stellte sich in die Mitte zwischen Gott und die Menschen mit dem Anspruch, sie wüsste über diese Bedingungen Bescheid. Das läuft darauf hinaus, dass eine Elite – der Vatikan lässt grüssen – über Gott verfügt. Gott ist dann nicht mehr freier Herr und seine Offenbarung nicht mehr freie Barmherzigkeit. Frömmigkeit wird zur Andacht des Menschen zu sich selbst als höchstes Wesen. Das Thema der Theologie wurde humanisiert, und das bedeutete 1. seine Verstaatlichung, 2. seine Moralisierung, 3. seine Verwissenschaftlichung und 4. seine lndividualisierung und Verinnerlichung. Der neuprotestantische Mensch, egal ob Rationalist oder Pietist, setzte die Forderung durch, das Christentum habe nützlich zu sein.

Vielleicht ist der Mensch im 18. Jahrhundert tatsächlich etwas manierlicher geworden. Aber dies für die “Umsetzung” des Christentums zu halten, wäre eine allzu kühne These. Denn gerade beim zentralen Glaubensinhalt, der Christologie, machte der Neuprotestantismus hemmungslos Abstriche. Christus als Mensch und Gott erschien nicht mehr plausibel und wurde zum Vorbild herabgestuft. Auch so konnte er ja von Herzen gefeiert werden. Diese Moralisierung und Philosophierung des Christentums war nicht böse gemeint. Aber wie alles gut Gemeinte brachte sie Früchte hervor, über die ihre Urheber erschrocken wären. Wie ein Krebsgeschwür ausgiebig wächst, ehe es entdeckt wird, hat der Nihilismus, der bei Nietzsche ungeschminkt zutage tritt, eine verdeckte Vorgeschichte. 100 Jahre vor Nietzsche lebte die wohl intelligenteste deutsche Geistesgrösse, der man keine Ähnlichkeit mit Nietzsche zutrauen würde: Johann Wolfgang von Goethe. Er bezeichnete a1s seine vier Widrigkeiten den Tabakrauch, Wanzen, Knoblauch und das Kreuz. Obwohl ein konsequenter Heide wie Nietzsche, war seine Ablehnnng des Christentums heiter und milde. Ähnliches gilt für seine Zeitgenossen Kant, Fichte, Schelling und Hegel. Und doch steckte in ihnen der Keim eines Daseins ohne Leiden und Mitleiden. Ohne Empathie. Wie wäre es sonst möglich, dass Goethe seiner Frau Christiane Vulpius, als sie schwer krank war, konsequent auswich und nach ihrem Tod der Beerdigung fernblieb?

Bei Nietzsche brach es wie ein Vulkan aus. Der Mangel an Empathie zeigte sich darin, dass er, ausser wenn er polemisierte, immer nur von sich selber redete. Obwohl ein brillanter Philologe, brauchte er die Philologie nicht mehr, nachdem er Dionysos “als die eine Wurzel der ganzen griechischen Kunst” entdeckt hatte. Und dieser Dionysos war ein anderer als er selber. Stellt er Dionysos gegen den Gekreuzigten, so heisst das nach dem “Ecce Homo”, dass er ihn und damit sich selber der christlichen Moral schlechthin entgegensetzt. Nicht nur den moralistischen Auswüchsen! Schliesslich hat er “vergebens im Neuen Testament auch nur nach einem sympathischen Zug ausgespäht” (Antichrist).

Nietzsches Sturmlaufen gegen alles Leiden und Mitleiden ging nicht spurlos an der Welt vorbei. André Glucksmann ortet das Leitmotiv von Hegel bis Nietzsche in der Abschaffung des Privateigentums und damit jeder Verantwortung des Einzelnen. Sie schrieben die Intelligenz dem Staat zu und gaben damit grünes Licht für die blutigsten Massaker des Jahrhunderts. Inzwischen haben sich die Menschen so sehr an dieses Leitmotiv gewöhnt, dass auch Mittelständler ohne Murren bis in den Juli für den Staat arbeiten und erst dann für sich und die ihren. “Es kommt ja einiges wieder zurück”, lautet die betäubende Trostformel. Zurück kommt die Hälfte dessen, was weggesteuert wird. Der Rest befördert eine aufgeblähte Bürokratie allmählich in den Status von Brahmanen, Druiden und Auguren. Jeder staatliche Feldzug gegen die Reichen trifft später den kleinen Mann. Der Kleinbauer weicht dem Grossgrundbesitzer. Kleinbanken werden fallen gelassen und Grossbanken gerettet. Das ist im Kern das Programm jedes Sozialstaates.

Daneben liest sich die Offenbarung Gottes wie eine Antithese. Das Judentum begann mit dem Auszug aus dem ägyptischen Unterdrückungs- und Versorgungssystem und hatte anarchische und kommandofeindliche Züge. Zehn Gebote anstatt ein Pharao – also Recht vor Macht. Allerdings werden Befreite oft von der Vergangenheit heimgesucht und sehnen sich nach den Fleischtöpfen Agyptens zurück. Auch viele, die einst dem Ostblock entflohen, siedelten sich im Westen politisch links an. Freiheit ist mit Risiko und Leiden verbunden. Wer dazu nicht bereit ist, steigt gerne vom schwankenden Boot ins Kreuzfahrtschiff um, bei dem nicht auffällt, dass es ebenfalls schwimmt. Es braucht dort weder Solidarität noch Sympathie, weil die Reederei für alle sorgt. Aber diese Sicherheit ist eine Fiktion. Was uns frei macht, ist nicht die Sicherheit, sondern die Wahrheit (Johannes 8,32). Die Wahrheit ist, dass Gott uns nahe ist und uns nicht fallen lässt. Der moderne Mensch hat sich von Gott emanzipiert, ist seinem Atheismus nicht gewachsen und findet im Sozialstaat den allmächtigen Monster-Gott, der ihn hinten und vorn umschlossen hält.

Dionysos vereinte in der Antike verschiedene Kulte und Mythen. Gemeinsame Merkmale waren Wildheit, Ekstase und Gewalt. Für die pagane Religiosität des 19. Jahrhunderts sollte er das unverwüstliche Leben gegen den Christus am Kreuz verkörpern. Um diese Fiktion aufrechtzuerhalten, braucht es immer höhere Dosen dionysischer und bacchischer Rauschmittel. Dazu gehören kosmetische Verjüngungen ebenso wie uneinlösbare Rentenzusagen und ungedeckte Kapiialflutungen. So lässt sich die Vergänglichkeit und Begrenztheit überspielen. Betäubungen klingen jedoch ab. Bald wird die Realität uns einholen, und wir werden lernen, den Mehrwert des Gekreuzigten zu verstehen. Er zeigt uns Leiden und Wahrheit, Freiheit und Empathie – fernab aller Wahlversprechungen und aller gezinkten staatlichen Wohltätigkeit.

Peter Ruch ist Evangelischer Pfarrer in Küssnacht am Rigi. Er studier- te evangelische Theologie in Basel und Montpellier und publiziert regelmässig Artikel über Theologie, Liberalismus und Ethik.

Schlagwörter:

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert