In: Dem Schweizer Liberalismus auf der Spur /
Sur les traces du libéralisme suisse
Edition Liberales Institut, Zürich 2011
S. 29 – 42
In der Geschichte der politischen Ideen und der darauf abgestützten Parteien gibt es zwei typische Grundpositionen. Die einen deuten die Parteien als ein politisches Phänomen, das frühestens auf die Entstehungszeit moderner europäischer Territorialstaaten also im 17. und 18. Jahrhundert zurückgeführt werden kann und eigentlich erst seit der Einführung von Parlamenten nach der Englischen, nach der Französischen und nach der Amerikanischen Revolution zum Thema wird.
In dieser kurzfristigen Betrachtungsweise ist der Liberalismus als Bewegung gegen die absolutistische Unterdrückung, gegen die klerikale Bevormundung und gegen die konservative Erstarrung im 18. Jahrhundert im aufsteigenden Bürgertum des Aufklärungszeitalters entstanden. Er hat dann im 19. Jahrhundert im neu entstandenen Sozialismus einen zweiten Gegner gefunden und überlebt seither zwischen diesen beiden Grundströmungen als relativ elitäre Gruppierung mit schwindendem Einfluss.
Da die Geschichte der Unterdrückung, Bevormundung und Befreiung in Europa durchaus unterschiedlich und nicht synchron verlaufen ist, sind die sich jeweils liberal nennenden Parteien sehr unterschiedlich. Die Gegner der Freiheit sind keineswegs überall dieselben und beim gemeinsamen Kampf um mehr Freiheit sind sehr unterschiedliche Koalitionen und Zweckbündnisse geschlossen worden. Die Frage, welche aktuellen politischen Strömungen in Zukunft mit liberalen Grundsätzen kompatibel sind, bleibt offen. Die Chance der Liberalen liegt aber nicht in der opportunistischen Anpassung, sondern in der Grundsatztreue zur generellen Skepsis gegenüber Zwang und zentralstaatlicher Macht.
Den typischen Schweizer Liberalen gibt es darum so wenig wie den typischen deutschen Liberalen oder den typischen italienischen Liberalen. Der Liberalismus hat sich in Europa im 19. Jahrhundert als Partei zwischen dem Konservatismus und dem Sozialismus etabliert. Er hat sich in Europa und in der Schweiz in unterschiedlichen historischen und regionalen Umfeldern ebenfalls unterschiedlich profiliert.
Eine längerfristige Betrachtungsweise des Liberalismus knüpft an einem anthropologischen Urbedürfnis zur individuellen Selbstentfaltung und zur Ablehnung von Zwang und von subtileren Formen der Fremdbestimmung an. In dieser Sicht ist der Liberalismus als Ablehnung von Fremdherrschaft, Zwang und Bevormundung so alt wie die Geschichte der Menschheit.
Wenn man die zweite Betrachtungsweise bevorzugt, ist die Schrumpfung der Freisinnigen Partei der Schweiz von über 60 Prozent Wähleranteil 1848 auf 15 Prozent 2011 noch kein Grund, den Untergang des Liberalismus zu prognostizieren. Liberales Gedankengut ist in den letzten 50 Jahren auch in andere Parteiprogramme eingeflossen. Aber die traditionellen liberalen Parteien der Schweiz haben als «staatstragende Parteien» auch viel etatistisches und sozialdemokratisches Gedankengut assimiliert und damit an liberalem Profil verloren. Insgesamt stehen sie auch in der Schweiz nicht in der Gunst der Wählerschaft. Das ist aber kein Grund, eine liberale Götterdämmerung zu prognostizieren.
Der grosse liberalkonservative Basler Historiker Jacob Burckhardt hat in seinen «Weltgeschichtlichen Betrachtungen»1 darauf hingewiesen, dass uns Geschichte zwar nicht «klug für ein andermal» aber «weiser für immer» machen kann. Im folgenden werden drei Persönlichkeiten in Erinnerung gerufen, die jede in einer besonderen Art und Weise auf den Schweizer Liberalismus eingewirkt haben und deren Botschaft auch über ihre Lebenszeit hinaus wegweisend sein kann.
Adolf Gasser, Vorkämpfer für die Gemeindefreiheit
«Eine Welt der föderativen Selbstverwaltung, die vorab durch sittlich-gewissensmässige Bindungen zusammengehalten wird, ist naturgemäss ganz etwas anderes als eine Welt der hierarchischen Befehlsverwaltung, in der mechanisch-apparatmässige Bindungen vorherrschen.»2
Der schweizerische Föderalismus ist dreistufig. Von der untersten Stufe, der Gemeinde, wird in Föderalismusdiskussionen kaum gesprochen. Wer «Föderalismus» und «Subsidiarität» aber ernst nimmt, der muss die Gemeindeautonomie miteinbeziehen. Nur im lokalen Bereich können sich Gemeinsinn und Bürgertugenden optimal entfalten, ist das Verhältnis zwischen Aufgaben und Ausgaben sichtbar, besteht eine institutionelle wie personelle Machtkontrolle. Das Funktionieren einer direkten Demokratie bleibt mit den Voraussetzungen verknüpft, welche erst der non-zentrale Föderalismus und die Gemeindeautonomie hervorbringen, weil nur in diesen Strukturen die tatsächlichen Bedürfnisse und Interessen der Bürger wirksam zur Geltung kommen.
Der schweizerische Historiker Adolf Gasser verfasste zur Zeit des Zweiten Weltkriegs ein fundiertes und richtungsweisendes Werk über die «Gemeindefreiheit als Rettung Europas». Mit gedanklicher Schärfe und sprachlicher Brillanz entwickelt Gasser seine zentrale These, dass demokratisch verfasste Staaten nur von Bestand sein können, wenn sie föderalistisch aufgebaut sind und über eine umfassende und rechtlich garantierte Gemeindeautonomie verfügen. «Der Zusammenbruch der freiheitlichen Staatsverfassungen erfolgte», so schreibt Gasser, «durchaus aus innenpolitischen, nicht aus aussenpolitischen Gründen. Und zwar versagte die Demokratie durchwegs in Staaten, wo man sich an politische Freiheit noch von alters her gewohnt war. Weil es nicht gelang, Freiheit und Ordnung zu organischer Verbindung zu bringen, überbordeten notwendig die sozialen und politischen Gegensätze und verunmöglichten eine gedeihliche Entwicklung der demokratischen Einrichtungen.»3
Unter Freiheit und Ordnung versteht Gasser eine politisch-soziale Verfassung, welche auf der Gemeindefreiheit ruht und darauf aufbaut. Gemeindefreiheit meint die freie gesellschaftliche Zusammenarbeit und Einordnung des Einzelnen. Der Wille zur Mitgestaltung und Mitverantwortung im kleinen Bereich ist ausschlaggebend. Staaten, welche von alters her ein System der Lokalautonomie ererbten, erwiesen sich sowohl gegen monarchisch-bürokratische Zentralisierung in Form des Absolutismus als auch gegen den Totalitarismus jeder Ausprägung resistent. Zu diesen «altfreien» Staaten zählt Gasser Grossbritannien und die Vereinigten Staaten, die nordeuropäischen Staaten, die Niederlande und die Schweiz.
Auf der Gegenseite stehen die kontinentaleuropäischen «liberalisierten Obrigkeitsstaaten» Spanien, Frankreich, Italien und Deutschland. «Die grossen Festlandnationen sind aufs stärkste vom administrativen Befehls- und Subordinationsprinzip und damit vom Herrschaftsgeist durchtränkt geblieben. […] Demgemäss vollzog sich auch die Bildung des modernen Staates in Italien, Spanien-Portugal, Frankreich, Deutschland, Österreich ganz einseitig von oben her. Damit wurden die einzelnen Volksschichten rein mechanisch, durch einen administrativen Befehls- und Machtapparat, zu nationaler Einheit zusammengefügt, und sie bekamen keine Gelegenheit, im übersichtlichen lokalen Raume gemeinsam und selbstverantwortlich für das Gedeihen des Staates zu sorgen und einander politisch zu vertrauen.»4
«Was man als Staat bezeichnet, hat in der Welt der Gemeindeunfreiheit und in der Welt der Gemeindefreiheit einen sehr verschiedenen Begriffsinhalt. Hier beruht die Staatsordnung auf dem allgemeinen Willen zur lokalen Selbstverwaltung, dort auf der allgemeinen Unterwerfung unter den bürokratischen Apparat.» Daher sei es «grundsätzlich verfehlt, die politisch-sozialen Gegensätze der obrigkeitlich- zentralistischen Welt irgendwie mit denen der kommunal- föderativen Welt gleichzusetzen. Was im Machtbereich der Beamtenhierarchie, zumal unter freiheitlichen Verfassungen immer wieder in Leidenschaft und Hass auszuarten droht, das wird auf dem Boden umfassender Lokalautonomie durch sittliche Gegenkräfte in der Regel stark gemildert.»5
Es ist das zentrale Anliegen Gassers, die wechselseitige Angewiesenheit von Demokratie und Gemeindeautonomie als Voraussetzung für ein dauerhaft stabiles Staatswesen darzulegen. «Gemeinschaft in der Freiheit ist nur dort wahrhaft lebensfähig, wo eine Organisation ein übersichtliches Gebilde darstellt, wo man einander persönlich kennt und sich gewohnt ist, die Menschen und die selbstgewählten Behördenmitglieder nicht allein nach ihrer Parteizugehörigkeit, sondern vorab nach ihren Fähigkeiten und mehr noch nach ihrem Charakter zu beurteilen. Eine solche lebendige Bürgerschule, in der täglich verschiedene Auffassungen und Sonderinteressen miteinander um einen vernünftigen Ausgleich ringen müssen, ist immer nur in der freien kommunalen Selbstverwaltung gegeben.»6
Gassers Vision eines neuen Europa nach 1945 erscheint heute bedeutender denn je. «Europa kann nur dann eine Welt allgemeiner und wahrer Demokratie werden, wenn es gleichzeitig eine Welt des Kommunalismus, der lebendigen Selbstverwaltung wird, wenn man dazu schreitet, die zentralistisch regierten Machtstaaten vom System der Beamtenhierarchie und damit vom administrativen Befehls- und Subordinationsprinzip zu befreien und sie von unten her neu aufzubauen.» Um einen staatlichen Neuaufbau von unten nach oben durchzuführen und erfolgreich abzuschliessen, schlägt Gasser vor, «die Bezirksbürokratie schon bald strikt anzuweisen, sich mit bestimmten kommunalen Verwaltungsangelegenheiten in keiner Weise mehr zu befassen. Allmählich müsste sodann die dadurch gesicherte Teilautonomie durch Zuweisung immer weiterer Obliegenheiten zu einem rechtlich gegen alle Eingriffe fest gesicherten «pouvoir communal» ausgestaltet werden. Im Zusammenhang damit wäre dafür zu sorgen, dass die Kommunen in die Lage kommen, sich ausreichende Einnahmequellen zu sichern und über ihr Budget in vollverantwortlicher Selbstdisziplin zu bestimmen. Ohne eine umfassende finanzielle Selbstverantwortung kann kein lebendiger Selbstverwaltungswille und damit auch keine kommunale Gemeinschaftsethik neu emporwachsen.»7
Allerdings räumt Gasser ein, dass eine «Strategie des geordneten Rückzugs» auf etliche, schwer überwindbare Hindernisse treffen werde. «Dort, wo man sich von alters her an ein System der zentralistischen Beamtenhierarchie gewohnt ist, gelten Forderungen nach vermehrter Gemeindeautonomie gar nicht als besonders populär. […] An ein Umlernen ist eben nur zu denken, wenn das Volk von oben her, kraft der Einsicht einer starken und stabilen Regierung, planmässig dazu angehalten und Schritt für Schritt dazu erzogen wird.»8 Ob dieser, von Gasser aufgezeigte Weg wahrscheinlich ist, oder ob nicht vielmehr der Druck «von unten» zur Veränderung zwingt, bleibe dahingestellt.
«Die Abwendung vom Obrigkeitsstaat, vom administrativen Befehls- und Subordinationsprinzip, wie sie jeder wahrhaften Kommunalisierung zugrunde liegt, erfordert im Endergebnis den Sieg einer neuen Rechtsauffassung. Und zwar darf der Staat nicht länger als Quelle allen Rechts gelten; vielmehr muss man dazu gelangen, entsprechend den ureuropäischen- mittel-alterlichen Rechtsanschauungen auch die Glieder des Staates als Träger selbständiger Eigenrechte zu betrachten: vorab die Individuen, Familien und Gemeinden, später auch Bezirke und Provinzen. Auf keinen Fall darf man sich damit begnügen, einen grossräumigen Föderalismus ins Leben zu rufen, ohne in Folge für die Ausbildung einer umfassenden und rechtlich fest gesicherten Gemeindeautonomie besorgt zu sein.»9
Es stellt sich die Frage, ob Gemeindeautonomie und Demokratie in einer von Mobilität, von komplexer Arbeitsteilung und Interdependenz geprägten Dienstleistungs- und Informationsgesellschaft noch angemessen sind. Wurzeln kleinräumige, demokratische Gemeinwesen und kommunale Autonomie nicht eher in statischen, ländlich-bäuerlichen und kleinstädtischen Gesellschaften, welche heutzutage kaum mehr vorhanden sind? Gasser hat es verneint und vor allem die Gemeindeautonomie als ausgleichendes Element in einer sozial- und wohlfahrtsstaatlichen Ordnung verstanden, denn lediglich in überschaubaren, lebensnahen Verhältnissen vermag sich der Bürger das zu erwerben, «was man als politisches Augenmass, als Sinn für menschliche Proportionen zu bezeichnen pflegt, […] nur hier entwickelt sich auf dem Boden der Freiheit jenes Minimum an Gemeinschaftsgläubigkeit, das den Hang zum Autoritarismus wie zur Anarchie wirksam einzudämmen pflegt».10 Eine immer differenziertere und hoch spezialisierte Gesellschaft und Wirtschaft kann nur aufgrund dezentraler und letztlich lokaler Entscheidung funktionieren, indem Personen Initiativen ergreifen und bereit sind, Verantwortung zu übernehmen. Dies favorisiert politisch nonzentrale Lösungen und verweist auf die zunehmende Bedeutung von Gemeinde- und Privatautonomie.
Wilhelm Röpke: ein ethisch fundierter Liberalismus
Der deutsche Ökonom Wilhelm Röpke (1899-1966) wurde als Kritiker des Naziregimes schon in den 1930er Jahren nach Istanbul ins Exil verbannt, wo er am Aufbau einer modernen Universität mitwirkte. 1937 wurde er von William Rappard ans Institut universitaire des hautes études internationales nach Genf berufen, wo er bis zu seinem frühen Tod 1966 lehrte und forschte und zahlreiche international beachtete Bücher publizierte. Wilhelm Röpkes Einfluss auf das liberale Denken seiner Epoche ist gross und wird heute allzu oft noch unterschätzt. Er gehörte zum engsten Beraterkreis von Konrad Adenauer und Ludwig Erhard und hat in der Nachkriegszeit Wesentliches zur Überwindung der zentral verwalteten Kriegswirtschaft und zum raschen Übergang zur sozialen Marktwirtschaft beigetragen. In der Schweiz ist es jene «Aktivdienstgeneration» von Liberalen, die sich von seinen zahlreichen Büchern und Artikeln in der Neuen Zürcher Zeitung, in den Schweizer Monatsheften aber auch in der Gazette de Lausanne und im Journal de Genève sowie durch seine Beratung in der Politik bestärkt fühlten und auch leiten liessen. Röpke selbst war ein grosser Bewunderer der freiheitlichen Tradition der Schweiz und trug dazu bei, sie wiederzubeleben. Als 1941 seine deutschen und österreichischen Institutskollegen in Genf aus Angst vor einer deutschen Invasion der Schweiz in die USA emigrierten, blieb er seinem neuen Wohn- und Arbeitsort Genf treu und verzichtete auch nach dem Krieg auf eine Rückkehr nach Deutschland.
Nach 1945 stand auch die Schweizer Wirtschaft vor einer Weichenstellung. Die Exportwirtschaft und die internationalen Dienstleister hatten im Krieg gegenüber der Binnenwirtschaft an Boden verloren. Sollte man den Protektionismus weiterführen oder auf internationale Arbeitsteilung und Freihandel setzen? Röpke gehörte neben dem einflussreichen Genfer Wirtschaftshistoriker und Diplomaten William Rappard und dem Zürcher Staatsrechtsprofessor Giacometti zu den Vordenkern einer liberalen Offensive für den raschen Abbau des kriegswirtschaftlichen Dirigismus und für den Freihandel als Basis einer antitotalitären und antisozialistischen Zivilgesellschaft.
Für Röpke war die Ökonomie keine wertfreie Wissenschaft, sondern Bestandteil einer Gesellschaft, die auf einem ethischen Fundament «jenseits von Angebot und Nachfrage» ruht (wie der Titel eines seiner bekanntesten Werke lautet)11. Sein Lebenswerk sind die in Genf verfassten und auch auf Französisch und Englisch erschienenen Werke zur Kulturphilosophie und zu einer freien Gemeinschaft freier Menschen. Ausgangspunkt bildet für Röpke die Familie und ein föderativer, nach dem Subsidiaritätsprinzip aufgebauter Staat. Als Musterbeispiel galt dem Wahlgenfer die Schweiz. Von der Familie über Gemeinden, Bezirke, Kantone und Länder galt es im Europa der Nachkriegszeit föderale und nonzentrale Strukturen aufzubauen.
Obwohl der Geist Röpkes bis heute in der Schweizer Politik Spuren hinterlässt, sind ordnungspolitisch orientierte Liberale schon in den 1970er Jahren schrittweise durch eine neue Politikergeneration abgelöst worden, die sich ziemlich unkritisch mit dem von Röpke kritisierten Wohlfahrts-, Umverteilungs- und Bevormundungsstaat abgefunden und gelegentlich sogar angebiedert hat.
Röpke gehört zu den frühen Kritikern einer politisch verfassten und zentralistisch gesteuerten Europäischen Gemeinschaft. Dieses antizentralistische Bekenntnis, das heute weniger unzeitgemäss erscheint als in den 1970er und 1980er Jahren, hat wohl dazu beigetragen, dass man ihn als liberal-konservativen Nostalgiker abstempelte und seine zukunftsträchtigen Ideen nicht weiterverfolgte.
Die Generation der 68er forderte generell ein Primat der Politik und eine staatliche Förderung von kollektiven Selbstverwirklichungswünschen. Sie erwarteten den Fortschritt von mehr Zwangssolidarität und Mitbestimmung, von einer zentralisierten Sozial- und Wirtschaftspolitik und von einem Anschluss an die EU. Gegenüber diesen, von den meisten Medien lautstark unterstützten Postulaten verhielten sich auch bürgerliche Parteien zum Teil anpasserisch und zum Teil zu passiv. Das lag ziemlich weit weg von den Wertvorstellungen Wilhelm Röpkes.
Unmissverständlich hat Röpke die in der Ideengeschichte verhängnisvolle Koalition der Liberalen mit Zentralisten und Nationalisten angeprangert, die in der Schweiz auch bei der Gründung des Bundesstaates festzustellen ist. In seinem Buch Die deutsche Frage12 kritisiert er das Zusammengehen der Liberalen mit den Zentralisten als einen Verstoss gegen Freiheit, Vielfalt und Individualismus. Jedenfalls steht sein Gedankengut näher bei den ursprünglich föderalistisch gesinnten Westschweizer Liberalen als bei den Befürwortern einer starken nationalen Zentralregierung, die im Freisinn der Deutschschweiz mehrheitlich den Ton angeben.
Wilhelm Röpke hat mit seinen Bezügen zu den Herausforderungen seiner Epoche und durch seine zahlreichen Werke dem Liberalismus Impulse verliehen, die bis heute nachwirken und sogar zunehmend aktuell werden. Es ist zu hoffen, dass man sich in der Schweiz wieder vermehrt mit seiner grundlegenden Kritik an der Massengesellschaft, und am Bevormundungs-, Umverteilungs- und Schuldenmacherstaat auseinandersetzen wird.
Zaccaria Giacometti, der Anwalt der Freiheit
Der aus dem Bergell stammende und als Nachfolger von Fritz Fleiner an der Universität Zürich wirkende Staats- und Verwaltungsrechtler Zaccaria Giacometti (1893-1970) war als akademischer Lehrer und als Verfasser eines Lehrbuchs zum Staatsrecht der Kantone, als Verfasser wichtiger Aufsätze und Reden und nicht zuletzt als Gutachter von Kantonsregierungen und der Landesregierung während Jahrzehnten ein einflussreicher Verfechter einer liberalen Staatsauffassung. Er hat den Versuch gewagt, die Freiheitsidee nicht auf das Naturrecht abzustützen, sondern auf einen historisch gewachsenen föderativen und demokratischen Grundkonsens.
In seiner zweiten Zürcher Rektoratsrede von 1955 mit dem Titel «Die Freiheitsrechtskataloge als Kodifikation der Freiheit» hat er sein wissenschaftlich abgestütztes liberales Credo zusammengefasst und die Freiheitsrechte als den Staatsethos der Schweiz bezeichnet.
«Die Freiheitsrechte sind also der Ausdruck eines freiheitlichen politischen Wertesystems, dahingehend, dass der Staat um des Einzelnen willen da ist und nicht der Einzelne um des Staates willen. Der Sinn des Staates soll mit andern Worten darin bestehen, die Entfaltung des Individuums als des Schöpfers der geistigen, kulturellen, wirtschaftlichen Werte in der Staatsgemeinschaft zu ermöglichen und den Einzelnen zu fördern. Restlos verwirklicht erscheint dieses durch den Katalog der Freiheitsrechte konstituierte freiheitliche Wertesystem jedoch erst dann, wenn die Freiheitsrechte nicht nur nach Massgabe der Gesetze garantiert, sondern auch für den Gesetzgeber absolut verbindlich sind und wenn überdies der Menschenrechtskatalog durch die Legislative unabänderbar ist.»13
Unter dem Menschenrechtskatalog verstand Giacometti damals nicht den heute in internationalen Dokumenten mit unterschiedlicher Autorität deklarierten Mix von negativen Freiheitsansprüchen gegen den Staat als Hort des Rechts und von positiven, sozialen und letztlich materiellen Ansprüchen an den Daseinsvorsorgestaat. Die Sozialrechte, die auch als «zweite Generation» der Menschenrechte bezeichnet werden, sind nur auf Kosten der Freiheitsrechte der ersten Generation, d.h. durch Eingriffe in die persönliche Freiheit und in das Privateigentum durchsetzbar.
Giacometti verwendet den im Zusammenhang mit der Freiheitsidee nicht gerade begeisternden Begriff «Katalog». Freiheit als Katalog? Das tönt zunächst ziemlich konstruktivistisch. Giacometti erweitert dann aber diesen Gedanken in einer bemerkenswerten Weise. Leider ist ihm dabei in der Schweiz weder die heute vorherrschende Lehre noch die Gerichtspraxis gefolgt. In Deutschland hat man Giacometti aus ideologischen und im übrigen Europa aus sprachlichen Gründen meines Wissens gar nicht zur Kenntnis genommen. Auch in der Schweiz ist die negative Freiheit (die Freiheit von etwas) heute relativ schutzlos dem Gesetzgeber und dem Richter ausgeliefert, der stets eine Abwägung der sogenannten öffentlichen und privaten Interessen vornimmt, wenn er das zulässige Mass an individueller Freiheit von etwas definiert. Man findet aber praktisch immer einen Vorwand für neue Einschränkungen durch Interventionen zugunsten einer staatlich vermittelten positiven Freiheit zu etwas.
Die aus liberaler Sicht grundlegende Erkenntnis, dass es aus ökonomischen Gründen ein eminentes öffentliches Interesse an der Existenz und am Schutz privater Interessen gibt, ist leider nur bei einer kleinen Minderheit vorhanden. Giacomettis Idee ist trotz der unheroischen juristischen Terminologie bestechend: Freiheit als Negation von Zwang geschützt durch Schranke des zulässigen Zwangs. Der Rechtsstaat als Zwangsmonopolist (und gleichzeitig als der institutionell beschränkte Freiheitsbeschränker) verkörpert den «gezwungenen Zwang». Er darf nicht als allmächtiger Staat an die Stelle des allmächtigen Gottes treten.
Der Begriff «gezwungener Zwang» stammt aus dem dichterischen Werk des heute zu Unrecht vergessenen Schweizer Dichters und Literaturnobelpreisträgers Carl Spitteler (1845-1924), der nicht nur Versepen und Romane verfasst hat, sondern auch als liberaler Journalist und Publizist wirkte und sich vor und nach der Katastrophe des Ersten Weltkriegs klar sowohl gegen den konservativen und bellizistischen Nationalismus als auch gegen den schon damals unter Intellektuellen modischen gesinnungsethischen Sozialismus abgegrenzt hat. In seinem Epos «Der olympische Frühling» spielt der Kampf um die Rangordnung der Götter und schliesslich die Entmachtung der Götter (bzw. die Entlarvung ihrer angemassten Macht) eine zentrale Rolle. Die Frage des Todesgottes Hades, welche Macht denn über allen Göttern stehe, wird durch ein gemeinsames Murmeln beantwortet: «Ananke, der gezwungene Zwang». Carl Spitteler kann als typischer Schweizer gar nicht unpolitisch dichten, und der liberale Hintergrund der Entmachtungsidee, bzw. der Entgiftung der Macht, wäre wieder neu zu entdecken.14
Für Giacometti geniesst sinnvollerweise jede individuelle Freiheit, die durch noch unbekannte Formen der Bedrohung gefährdet ist, den Schutz der Verfassung.
Dazu wörtlich: «Da aber, wie gesehen, die Möglichkeit neuer staatlicher Einbrüche in die individuelle Freiheit faktisch unbegrenzt erscheint, muss dementsprechend auch der Katalog der Freiheitsrechte in der Gewährleistung von Freiheiten gegenüber dem Staat unbegrenzt sein.»
Giacometti ist als Rechtspositivist gegenüber der Naturrechtslehre skeptisch. Seine Theorie vom offenen Katalog der Freiheitsrechte ist so etwas wie eine Schranke der Zuständigkeit der politischen Gemeinschaft, überhaupt in die individuelle Freiheit einzugreifen. Was im Strafprozess die Unschuldsvermutung, und bei Gasser die auf das Subsidiaritätsprinzip abgestützte Vermutung zugunsten der kleineren Gebietskörperschaft, ist bei Giacometti im Prozess der Gesetzgebung die «Freiheitsvermutung». Freiheit ist für ihn als menschenrechtliches Postulat, d.h. als universeller und allgemeingültiger Massstab immer schon da.
Ob von Gott geschenkt oder auferlegt, ob von der Natur angelegt, ob von den Menschen gegenseitig zugemutet oder ob einfach angemasst, sie ist präexistent und muss nicht zuerst vereinbart oder angeordnet werden. In der Formulierung von Schiller werden die Freiheitsrechte «von den Sternen heruntergeholt», im Mythos von Prometheus wird das Feuer der Freiheit von den Göttern geraubt. Die Formulierung «Vox populi, vox Dei», Volkes Stimme ist Gottes Stimme geht angeblich auf Alkuin zurück, der sie in einem Brief an Karl den Grossen – allerdings kritisch – anmerkte. Lichtenberg hat in seinen Sudelbüchern die Formel gelobt und gesagt, es sei selten in vier Worten so viel Weisheit verpackt worden. Die Gleichsetzung des Volkes mit Gott und vice versa hat für Gottesgläubige etwas Arrogantes, Blasphemisches. Für den Aufklärer und Religionsskeptiker Lichtenberg war «Gott» einfach der Inbegriff des Unbegreiflichen und Unerklärlichen, das durch den Verstand nicht zu erfassen ist. Auf diesem Hintergrund versteht man seine Wertschätzung für die problematische Formel.
Die Frage nach dem tauglichen Hüter bzw. der Hüterin der Freiheit, hat Giacometti in seiner ersten Zürcher Rektoratsrede 1954 zu beantworten versucht.15 Giacometti ging es darum, die letzte Instanz zu definieren, die in der Lage ist, diese Freiheit gegen Eingriffe wirksam zu schützen. Er kommt dabei zum Schluss, dass eine Freiheit, die nicht vom mehrheitlichen Volkswillen getragen ist, letztlich nicht zu halten sei. Ob diese Erkenntnis aus heutiger Sicht eher optimistisch oder pessimistisch zu deuten ist, bleibt offen.
Giacometti war als misstrauischer und knorriger Bergler eher depressiv veranlagt. Er hatte allerdings 1954 gute Gründe, an die freiheitsstützende Funktion des Mehrheitsprinzips zu glauben. Es war ihm nämlich als Rechtsberater der Landesregierung etwas gelungen, das in vielen Biographien bedeutender Rechtslehrer weltweit vergeblich gesucht wird. Er hat tatsächlich einen bemerkenswerten Schub an Deregulierung bewirkt. Es gelang ihm, die politisch Verantwortlichen dazu zu bewegen, den kriegswirtschaftlich bedingten Interventionismus, das sogenannte Vollmachtenregime (bestehend aus insgesamt 148 dringlichen Bundesbeschlüssen mit Gesetzeswirkung), grösstenteils aufzuheben, und eine Volksmehrheit hat ihn dabei gegen die Meinung vieler Experten und Funktionäre unterstützt. Sein im Titel der Rektoratsrede zum Ausdruck gebrachter Optimismus ist daher empirisch untermauert. Theoretisch ist sein Vertrauen auf freiheitlich gesinnte Mehrheiten nicht unbegrenzt. Die tragische Vernichtung der Freiheitsidee durch das demokratische Dogma wird nicht ausgeschlossen. Ob diese Randbemerkung von seiner Zuhörerschaft 1954 tatsächlich wahrgenommen worden ist, muss bezweifelt werden. Wörtlich sagte Giacometti dazu Folgendes:
«Die Frage nach der Demokratie als Hüterin der Freiheit ist nicht dogmatischer, sondern empirischer Art. Sie geht lediglich dahin, ob Volk und Volksvertretung als Gesetzgeber die Menschenrechte in der Rechtswirklichkeit, also tatsächlich gefährden oder vernichten, und nicht, ob das demokratische Dogma in seinen letzten Folgerungen, in der Idee, zur Vernichtung der Freiheitsidee führe. Das letztere wird zutreffen, damit ist aber noch nichts darüber ausgesagt, ob Volk und Parlament als empirische Gesetzgeber es dazu kommen lassen werden.»16
Implizit ist diese Rede eine Auseinandersetzung mit Hans Kelsens Plädoyer für das Mehrheitsprinzip.17 Giacometti versucht, die egalitäre Demokratietheorie des von ihm verehrten Kelsen mit seinem eigenen liberalen Ansatz auszusöhnen. Kann das gelingen? Es braucht dazu viel Optimismus. Bei Giacometti gründet dieser in erster Linie auf seinem Verständnis von einer vorverfassungsrechtlichen Verankerung der Freiheitsrechte. Wenn diese Säule herausgebrochen wird (und man hat sie herausgebrochen, bzw. nicht akzeptiert!), so verliert auch seine These von der Demokratie als Hüterin der Freiheitsrechte ihre wichtigste Stütze.
1 Jacob Burckhardt, Weltgeschichtliche Betrachtungen, München, (1905) 1982, S. 169.
2 Adolf Gasser, Gemeindefreiheit als Rettung Europas, Basel, 1947, S. 174.
3 Ebd., S. 8.
4 Ebd., S. 103.
5 Ebd., S. 181.
6 Ebd., S. 166f.
7 Ebd., S. 199.
8 Ebd., S. 204.
9 Ebd., S. 205.
10 Derselbe, «Gemeindefreiheit und Zukunft Europas», in: Ausgewählte historische Schriften 1933-1983, Basel, 1983, S. 463.
11 Wilhelm Röpke, Jenseits von Angebot und Nachfrage, 5. Auflage, Bern, Haupt, (1958) 1979.
12 Wilhelm Röpke, Die deutsche Frage, 2. Aufl., Erlenbach, Rentsch, 1945.
13 Zaccaria Giacometti, «Die Freiheitsrechtskataloge als Kodifikation der Freiheit», Zürcher Rektoratsrede 1955, in: Ausgewählte Schriften, Zürich, Alfred Kölz Hrsg., 1994, S. 24.
14 Carl Spitteler, Olympischer Frühling, 1905. Erster Teil, Erster Gesang.
15 Zaccaria Giacometti, «Die Demokratie als Hüterin der Freiheit», Zürcher Rektoratsrede 1954, in: Ausgewählte Schriften, Alfred Kölz Hrsg., Zürich, 1994.
16 a.a.O. S. 9.
17 S. Hans Kelsen, Vom Wesen und Wert der Demokratie, Tübingen, Mohr, 1920, 2. überarbeitete und erweiterte Auflage 1929.