Beitrag zum 50sten Geburtstag von Christoph Frei, 2011
«Über den Wolken, muss die Freiheit wohl grenzenlos sein, alle Ängste alle Sorgen, sagt man, blieben darunter verborgen». Der deutsche Liedermacher Reinhard Mey hat mit seinem Lied 1974 wohl darum einen bis heute beliebten Hit lanciert, weil er darin eine Grundstimmung seiner Zuhörerschaft widerspiegelt. Man möchte, wenigstens für Stunden, den Boden einer Realität verlassen, in der es mehr Schranken als Freiheit gibt. Mit dem wichtigen Einschub «sagt man», hat er aber gleichzeitig auch eine kleine Warnung vor den Folgen jedes grenzenlosen «Abhebens» angemerkt. Eine Generation vorher liess ein ähnlicher Schlager mit demselben Drang zur Flucht die Herzen höherschlagen: «Fliege mit mir in den Himmel hinein, mein Mädel, mein Mädel steig‘ ein…»
Fünf Generationen vorher hat der Arzt und Kinderbuchautor Heinrich Hoffmann in seinem klassischen Kinderbuch «Struwwelpeter» die riskante Sehnsucht nach unbegrenzter Freiheit mit dem «Fliegenden Robert» exemplifiziert. Der Autor dieses Beitrages ist dieser Figur nicht nur als Namensvetter durchaus sympathisch gesinnt. Die Freiheit beginnt mit einem Nein zu dem, was generell als hübsch (=höfisch) gepredigt wird, Freiheit als Flucht aus dem Käfig verzagter und überholter Konventionen: «Wenn der Regen niederbraust, Wenn der Sturm das Feld durchsaust, bleiben Mädchen oder Buben hübsch daheim in ihren Stuben. — Robert aber dachte: Nein! Das muss draussen herrlich sein!» Hans Magnus Enzensberger hat die generell als individueller und kollektiver Eskapismus gebrandmarkte Mentalität in seinem Gedicht «Der fliegende Robert» selbstbiographisch und pädagogisch in ein positives Licht gerückt: «Ich hinterlasse nichts weiter als eine Legende, mit der ihr Neidhammel, wenn es draussen stürmt, euren Kindern in den Ohren liegt, damit sie euch nicht davonfliegen.»
Die Grenzen der Freiheit liegen dort, wo das Ideal, das im weitesten und besten Sinn in der Luft liegt, mit der Realität auf dem Boden in Konflikt gerät. Auf diesem Boden gilt es in erster Linie die Grenzen des Privateigentums zu respektieren: meine Freiheit als Privateigentümer mit dem meinigen zu verfahren wie es mir beliebt, endet an der Grenze meines Nachbarn und Mitmenschen, der dasselbe mit gutem Recht auch für sich selbst beansprucht. Freiheit als Selbstbestimmung darf auf dem Boden der Realität nicht zur widerrechtlichen Fremdbestimmung anderer werden. Wer aber definiert das Widerrechtliche? Die Politik auf dem Wege der Gesetzgebung. In einer Demokratie ist es eine Mehrheit, die für die Bestimmung der Freiheitsschranken zuständig ist. Ihrerseits unbeschränkt? Auch mehrheitlich beschlossene Freiheitsschranken sind ein politischer Eingriff in das spontane Geschehen, das heisst es wird dadurch die Selbstbestimmung von Minderheiten fremdbestimmt. Die Zuständigkeit der Politik, das Zusammenleben der Menschen zwingend zu bestimmen, muss darum ihrerseits eingeschränkt sein, sonst riskieren wir, dass schliesslich via Mehrheitsprinzip alle allen permanent vorschreiben wollen, was sie tun und lassen sollen: der Staat als eine selbstgebaute Festung. In seinen durch Überregulierung stickig gewordenen Stuben, sollen vor allem bei schlechtem Wetter möglichst alle als brave Mädchen oder Buben «hübsch daheim» bleiben. Dann kommt aber der Moment, in dem nicht nur der Fliegende Robert als Individuum, auf und davon will. Es ist die Idee der Freiheit, die den Stürmen ihrer Anfechtungen trotzen will, die dann abhebt und in den Wolken verschwindet, und «wo der Wind sie hingetragen, Ja, das weiss kein Mensch zu sagen».
Robert Nef, Stiftungsratspräsident des Liberalen Instituts Zürich und der Stiftung für Abendländische Ethik und Kultur
ANMERKUNGEN:
- Willi Nef, Die Macht und ihre Schranken, Fehr`sche Buchhandlung, St. Gallen 1941
- Reinhard Mey
Wind Nord-Ost, Startbahn null-drei,
Bis hier hör ich die Motoren.
Wie ein Pfeil zieht sie vorbei,
Und es dröhnt in meinen Ohren.
Und der nasse Asphalt bebt,
Wie ein Schleier staubt der Regen,
Bis sie abhebt und sie schwebt
Der Sonne entgegen.Refrain:
Über den Wolken
Muss die Freiheit wohl grenzenlos sein.
Alle Ängste, alle Sorgen, sagt man,
Blieben darunter verborgen und dann
Würde, was hier gross und wichtig erscheint,
Plötzlich nichtig und klein.Ich seh ihr noch lange nach,
Seh sie die Wolken erklimmen,
Bis die Lichter nach und nach
Ganz im Regengrau verschwimmen.
Meine Augen haben schon
Jenen winz’gen Punkt verloren.
Nur von fern klingt monoton
Das Summen der Motoren.Refrain
Dann ist alles still, ich geh’,
Regen durchdringt meine Jacke,
Irgend jemand kocht Kaffee
In der Luftaufsichtsbaracke.
In den Pfützen schwimmt Benzin
Schillernd wie ein Regenbogen.
Wolken spiegeln sich darin.
Ich wär gerne mitgeflogen.Refrain
- Am Strande von Rio
Am Strande von Rio
da stand ganz allein
ein kleines Mädel im Abendschein.
Ach, komm, blonder Flieger,
komm, bring’ mich hier fort,
Bring’ mich an meinen lieben, alten Heimatort
Refrain:
Fliege mit mir in die Heimat,
fliege mit mir über’s Meer!
Fliege mit mir in den Himmel hinein,
mein Mädel, mein Mädel, steig’ ein!Hörst Du die Motoren?
Hörst Du ihren Klang?
Er tönt in den Ohren
Wie Heimatgesang
Komm mit zur Donau
Komm mit zum Rhein
Komm mit in unser schönes altes Städtchen heim.Text: Golm//Göhler/Galm; Musik: Baader Ernst, Nagel Willi, Sülwald Paul, 40er Jahre
- Die Geschichte vom fliegenden Robert
Wenn der Regen niederbraust,
Wenn der Sturm das Feld durchsaust,
Bleiben Mädchen oder Buben
Hübsch daheim in ihren Stuben. —
Robert aber dachte: Nein!
Das muss draussen herrlich sein! —
Und im Felde patschet er
Mit dem Regenschirm umher.
Hui, wie pfeift der Sturm und keucht,
Dass der Baum sich niederbeugt!
Seht! den Schirm erfasst der Wind,
Und der Robert fliegt geschwind
Durch die Luft so hoch, so weit;
Niemand hört ihn, wenn er schreit.
An die Wolken stösst er schon,
Und der Hut fliegt auch davon.
Schirm und Robert fliegen dort
Durch die Wolken immerfort.
Und der Hut fliegt weit voran,
Stösst zuletzt am Himmel an.
Wo der Wind sie hingetragen,
Ja! das weiss kein Mensch zu sagen.Hermann Hoffmann, Die Geschichte vom Fliegenden Robert, in: Der Struwwelpeter, 1846 , 3. Auflage der zuerst 1844 erschienenen »Lustigen Geschichten und drollige Bilder für Kinder von 3-6 Jahren”
- Hans Magnus Enzensberger
Der Fliegende RobertEskapismus, ruft ihr mir zu
vorwurfsvoll,
Was denn sonst, antworte ich,
bei diesem Sauwetter!–,
spanne den Regenschirm auf
und erhebe mich in die Lüfte.
Von euch aus gesehen,
werde ich immer kleiner und kleiner,
bis ich verschwunden bin.
Ich hinterlasse nichts weiter
als eine Legende,
mit der ihr Neidhammel,
wenn es draussen stürmt,
euren Kindern in den Ohren liegt,
damit sie euch nicht davonfliegen.aus: Die Furie des Verschwindens, Gedichte, Suhrkamp, Frankfurt am Main 1980.
vgl. dazu: Derselbe, Der fliegende Robert, Gedichte Szenen Essays, Suhrkamp, Frankfurt am Main 1989