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Die Liberalen und ihre falschen Freunde

Lesedauer: 5 Minuten

(NZZ – MEINUNG & DEBATTE – Dienstag, 1. November 2011, Nr. 255, Seite 21)

Die Idee der Freiheit wurde im 19. Jahrhundert von Freunden der nationalen Einheit lanciert. Rückblickend muss es wohl als Fehler bezeichnet werden, dass sich die Liberalen damals mit Nationalisten und Zentralisten ins ideologische Lotterbett gelegt haben.

Dass der politische Liberalismus sich im 19. und 20. Jahrhundert mit dem nationalen Zentralismus verbündet hat, ist eine historische Tatsache und wohl auch einer der Gründe für den damaligen Er- folg in den USA und in der Schweiz. Die Liberalen waren zwar in Koalition mit den Befürwortern der nationalen Einheit erfolgreich, haben aber einen Überschuss an nationalistischer Energie entfesselt und tragen eine Mitverantwortung an den Katastrophen der Weltkriege, die ja Nationenkriege waren. Die Liberalen des 19. Jahrhunderts waren in der Schweiz und auch in Deutschland und Italien mehrheitlich Anhänger des nationalen Zusammenschlusses durch Zentralisierung. Hätten diese Liberalen doch etwas mehr Benjamin Constant gelesen! In seiner originellen Fünf-Gewalten-Lehre brechen der «pouvoir municipal» und der «pouvoir neutre» jene politische Macht, die sich in den drei Gewalten heute auf allen Stufen immer mehr zugunsten der zentralen Exekutive akkumuliert.

Folgenreiche Verirrung

Die Vermischung von Liberalismus und nationalem Zentralismus im 19. Jahrhundert lässt sich nicht auf freiheitliches Gedankengut zurückführen und ist eine folgenreiche Verirrung. Die damals von den Liberalen angestrebte (und nur z. T. voll verwirklichte) Trennung von Kirche und Staat war hingegen aus liberaler Sicht für beide Beteiligten ein Fortschritt, die damit verknüpfte weitgehende Ersetzung des Gottesglaubens durch den Glauben an den Staat ein folgenreiches Unglück. Die ebenfalls strikt liberale Trennung von Staat und Wirtschaft bzw. Staat und Kultur ist im 20. Jahrhundert, einem Jahrhundert der (Welt-) Kriege und Krisen, (aus liberaler Sicht: leider) kaum vorangekommen.

Rückblickend war es wohl ein Fehler, dass sich die Liberalen im 19. Jahrhundert mit Nationalisten und Zentralisten ins ideologische Lotterbett gelegt haben. Folgenreich war auch die auf dem Kontinent (und auch in der Schweiz) vorherrschende Ablehnung des wirtschaftsfreundlichen Manchester-Liberalismus, der als Zerrbild auch innerhalb der liberalen Parteien zum eigentlichen Feindbild wurde. Die Manchester-Liberalen waren mit ihrer seinerzeit als überholt, vaterlandslos und asozial angeprangerten antiinterventionistischen und antiimperialistischen Politik nicht rückständig, sondern hellsichtig. Sie befürworteten schon damals den globalen Freihandel und kritisierten die wachsende Staatsmacht, die zwangsweise Umverteilung, den Interventionismus, den Zentralismus, die Bürokratie, die Hochbesteuerung, den Imperialismus und den Bellizismus. Sie waren nicht «paläo-liberal», sondern postnationalistisch. Nationalismus führt – vor allem in Kriegs- und Krisenzeiten – zu einer nationalen korporatistischen Ökonomie und, in Kombination mit progressiver Besteuerung und dem Mehrheitsprinzip, zum entmündigenden Sozialstaat.

Die europaweite und auch in der Schweiz eingegangene Koalition der Liberalen mit den Nationalisten war im 19. Jahrhundert zwar erfolgreich, aber aus ideengeschichtlicher Sicht verfehlt. Nationale Vereinheitlichung und Zentralisierung schafft mehr Macht, und diese Macht kann als Gegenmacht auch gegen Freiheitsfeinde eingesetzt werden. Was in der Startphase aussenpolitisch das Überleben in einem freiheitsfeindlichen Umfeld ermöglichte, trug den Keim des ebenfalls freiheitsfeindlichen innenpolitischen Etatismus in sich.

Fragwürdige partei- und machtpolitische Allianzen gab es auch im 20. Jahrhundert. In den siebziger Jahren lancierte die FDP den damals erfolgreichen Slogan «Mehr Freiheit und Selbstverantwortung – weniger Staat». Die Partei hat in der Folge ihren eigenen Slogan wenig beherzigt, und sie hat in den achtziger und neunziger Jahren den Ausbau des Sozialstaates und den teils interessenpolitisch, teils aussenpolitisch und teils ökologisch motivierten staatlichen Interventionismus aktiv mitgetragen. Auch wenn heute in der FDP da und dort wieder liberalere Töne angeschlagen werden, hat das Image der Partei als Vorkämpferin der Eigenverantwortung und einer vom Staat unabhängigen Wirtschaft und Kultur stark gelitten. Die Partei bekundet Mühe, sich echt liberal zu profilieren und sich vom jahrzehntelangen Taktieren mit einer «Koalition der Vernunft» genannten Mitte-Links-Schuldenmacherpolitik zu distanzieren. Es gibt zwar Anzeichen einer Wende, aber sie scheint mehr in Richtung des heute populären nationalen Strukturkonservatismus zu gehen als in Richtung einer selbstbewussten Zivilgesellschaft, die auf Eigenverantwortung, technischen Fortschritt und Weltoffenheit setzt. Einmal mehr wird der strikte Liberalismus dem parteipolitischen Opportunismus vermeintlich vorherrschender Tendenzen der Beschränkung der individuellen Freiheit und der internationalen Anpassung geopfert.

Freiheit lässt sich nicht erzwingen

Freiheit kann auf die Dauer nicht durch den Staat von oben erzwungen und nach aussen verteidigt werden. Sie entsteht in vielfältigen experimentell offenen kommunikativen Lern- und Wettbewerbsprozessen immer wieder neu. Auch die von Liberalen gehandhabte nationale Zentralmacht korrumpiert die Regierenden, vor allem wenn das Mehrheitsprinzip ohne wirksame Bremsen etabliert ist. Das Gegenmittel sind ein Wettbewerb von kleinen politischen Einheiten, der konsequente Minderheitenschutz und der Vorrang der Privatautonomie vor dem politischen Zwangsapparat. Die Idee der Freiheit, die von den Freunden der nationalen Einheit lanciert wurde, muss also aus der Umklammerung des nationalen und des kontinentalen Zentralismus gelöst werden. Die permanente Entgiftung der Macht ist durch friedlich konkurrierende kleine politische und fiskalische Gebietskörperschaften (mit Exit-Option) zu gewährleisten und durch eine möglichst wenig politisierte offene Zivilgesellschaft.


Robert Nef präsidiert den Stiftungsrat des Liberalen Instituts und war bis 2008 Mitherausgeber der «Schweizer Monatshefte».

(NZZ – MEINUNG & DEBATTE – ZUSCHRIFTEN VON LESERINNEN UND LESERN – Freitag, 4. November 2011, Nr. 258, Seite 22)

Traum des Liberalismus

Robert Nef präsidiert den Stiftungsrat des Liberalen Instituts und schreibt über die Liberalen und ihre falschen Freunde (NZZ 1. 11. 11). Was die «falschen Freunde» betrifft, teile ich Nefs Meinung. Die Verbindung mit nationalistischen und zentralistischen Kräften hatte verheerende Folgen. Seine Ansicht, dass die Macht durch friedlich konkurrierende kleine politische und fiskalische Gebietskörperschaften gewährleistet und entgiftet werden könne und eine möglichst wenig politisierte offene Zivilgesellschaft dies ermögliche, ist aber ein Traum. Seine Sicht des Manchester-Liberalismus ist geradezu naiv. Wer sich nur etwas mit den Tatsachen Ende des 18. und zu Beginn des 19. Jahrhunderts befasst, die Geschichte der damals global tätigen Firmen mit ihrer rücksichtslosen Ausnützung der Preisgefälle bei der von Sklaven angebauten Baumwolle, von zu Hungerlöhnen während 12 und mehr Stunden am Tag in der Baumwollverarbeitung schuftenden Kindern und den hohen Preisen in den sich bildenden Grossstädten nur einigermassen berücksichtigt, und wer weiss, dass Manchester mit über 150’000 Einwohnern noch die staatliche Organisation eines Dorfes hatte und bei Protestaufläufen die Armee rief, der erahnt, wie falsch der Ruf nach weniger Staat ist, wie hoffnungslos das Mantra der Eigenverantwortung. Es sind nicht nur die Nationalisten und die Nationalstaaten für die Kriege verantwortlich zu machen. Das soziale Elend trieb die Massen solchen Leuten zu. Und warum kamen die kommunistischen Ideen überhaupt auf? Auf welchem Humus gediehen sie? Noch so gerne sähe ich liberales Gedankengut verwirklicht, nur fehlt mir der Glaube. Die aufgeführten Rezepte sind untauglich, da der kleine, ohnmächtige Staat die von Adam Smith verlangte Garantie für einen freien Markt, geschweige denn den Schutz der Menschen vor einer Übervorteilung niemals erbringen kann.

Claude Ruedin, Männedorf

Robert Nef beklagt, dass sich im 19. Jahrhundert die Liberalen «mit Nationalisten und Zentralisten ins ideologische Lotterbett» gelegt hätten. Das müsse nun im 21. Jahrhundert rückgängig gemacht werden. Nef übersieht, dass im 19. Jahrhundert liberale und nationale Postulate nicht völlig, aber weitgehend deckungsgleich waren. Der Übergang der Schweiz vom Staatenbund zum Bundesstaat (1830–1848) zeigt dies deutlich: Die Anhänger des Bundesstaates wollten die kantonalen Zollgrenzen und die von Kanton zu Kanton wechselnden Währungen beseitigen, weil sie die wirtschaftliche Entwicklung behinderten. Das war eine liberale Forderung, aber gleichzeitig eine nationalstaatliche, weil dazu ein Bundesstaat mit Zoll- und Währungshoheit geschaffen werden musste. Die Anhänger eines Bundesstaates forderten die Durchsetzung von Grundrechten wie Pressefreiheit, Glaubensfreiheit und Niederlassungsfreiheit in der ganzen Schweiz – liberale Begehren, die aber nur durch die Schaffung einer entsprechenden Bundesverfassung verwirklicht werden konnten. Die damaligen Liberalen hätten auch Nefs These, Freiheit könne «nicht durch den Staat (. . .) nach aussen verteidigt werden», kaum zugestimmt, strebten sie doch durch die Schaffung einer schweizerischen Armee eine unabhängigere Stellung gegenüber den absolutistischen Nachbarstaaten an. Wilhelm Tell war für die Gründer des Bundesstaates nicht nur ein Freiheitskämpfer, sondern auch ein Nationalheld.

Helmut Meyer, Zürich

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