(Stiftung für Abendländische Ethik und Kultur)
STAB-Rundbrief Nr. 185
April 2011
Unter Liberalen ist die Frage, ob man gleichzeitig «politisch und wirtschaftlich liberal» und «bekennender Christ» oder überzeugter praktizierender Katholik bzw. Protestant sein könne, ein wichtiges und trotzdem oft verdrängtes Thema.
Um die Antwort vorwegzunehmen: Das Hauptanliegen des Liberalismus ist Freiheit in Verantwortung, und dieses Hauptanliegen ist eine zwar erwünschte aber nicht notwendige Voraussetzung für eine Gesellschaft, in der sich christliche Liebe entwickeln und entfalten kann. Liberalismus und christlicher Glaube sind kompatibel, aber nicht zwingend miteinander verknüpft. Wer Freiheit ins Zentrum stellt, muss Wege zu jedem Bekenntnis vorbehaltlos offenhalten, sofern sich dieses Bekenntnis mit der Freiheit der andern verträgt: der Weg zum Glauben, zum Zweifel, zur Skepsis und zum Unglauben muss allen offenstehen. Dass sich Staatsbürgerinnen und Staatsbürger, die in Sachen Religion völlig unterschiedliche Wege beschreiten, zu einer gemeinsamen politischen Grundhaltung zusammenfinden, ist keine Selbstverständlichkeit, aber eine unabdingbare Voraussetzung für eine offene, funktionierende politische Gemeinschaft.
Liberalismus und Religion
Die religiösen Optionen verschiedener liberaler «Schulen» lassen sich vereinfachend in fünf Hauptgruppen einteilen.
Am weitesten entfernt von christlichem Gedankengut ist eine erste Gruppe, die Anhänger von Ayn Rand. Die dem sogenannten «Objektivismus» huldigenden Anarcho-Kapitalisten pochen darauf, dass wirklich freiheitlich eingestellte Menschen keine Religion brauchen und dass Religion den reinen kapitalistischen «objektivistischen» Geist «beneble». Darin – aber nur darin – sind sie mit den Marxisten einig: Religion gilt als «Opium für das Volk».
Eine zweite Gruppe, die distanziert Neutralen, betrachten Religion als reine Privatsache, die der Politik und der Wirtschaft an sich weder schadet noch nützt.
Eine dritte am gesellschaftlichen Nutzen orientierte Gruppe hält Religion für gemeinschaftsfördernd und friedensstiftend. Von einer praktizierten Moral der Nächstenliebe auf dem Hintergrund des Glaubens an eine höhere, schlechtes Verhalten sanktionierende Instanz, profitieren sowohl die Glaubensgenossen als auch die Trittbrettfahrer, die persönlich nicht daran glauben, religiöse Überzeugungen aber «für eine gute Sache» halten, weil dadurch das allgemeine moralische Niveau angehoben werde. Es ist plausibel, dass der Glaube an diesseitige und jenseitige Sanktionen gegen Sünder aller Art erfahrungsgemäss die Bereitschaft zu moralischem Verhalten erhöht.
Glücksforscher, deren Anhänger einer vierten Gruppe zugerechnet werden können, sollen auch empirisch ermittelt haben, dass Gläubige glücklicher seien als Ungläubige. Aus dieser Sicht lohnt es sich für das Individuum, eine religiöse Überzeugung zu haben, selbst wenn diese auf Illusionen aufbauen würde. (Das ist allerdings für mich kein überzeugendes Argument, weil ich nicht an die Messbarkeit und Vergleichbarkeit von «Glück» glaube.)
Eine fünfte Gruppe von intrinsisch Motivierten (zu der ich mich auch zähle), halten Freiheit für ein Geschenk Gottes und verknüpfen dies mit dem Bekenntnis, das an die «Menschwerdung Gottes» und nicht an die «Gottwerdung des Menschen» glaubt. Gottesliebe in direktem Bezug auf Nächstenliebe und Selbstliebe ist generell friedens- und freiheitsstiftend, weil Liebe das eigentliche und alles besiegende Gegenprinzip zum Zwang ist. Das ist ein auf Erfahrung und Überzeugung aufbauendes Bekenntnis, das als solches weder beweisbar noch widerlegbar ist.
Die Kurzformel von Augustin «ama et fac quod vis», «liebe, und mach was Du willst», ist durch und durch liberal, ja sogar libertär. Sie geht davon aus, dass der wirklich «von ganzem Herzen und mit ganzer Seele und ganzem Gemüte und mit aller Kraft» liebende Mensch kein Unrecht tun kann und damit alle Gesetze erfüllt und keines Zwangs bedarf. Natürlich gibt es in dieser fünften Gruppe eine grosse Vielfalt von Vorstellungen über das Verhältnis von Gott und Mensch und über den Stellenwert des Sündenfalls im Alten Testament und der den Gläubigen verheissenen Erlösung im Neuen Testament. Vereint wird diese Gruppe lediglich durch das Postulat, dass einerseits religiöse Bekenntnisse auf freien Entscheidungen beruhen sollen und nicht auf Zwang, und dass anderseits der Staat als Zwangsmonopolist in dieser Sphäre nichts zu suchen und nichts vorzuschreiben habe.
Freiheit als Voraussetzung des Glaubens
Was ein Christ an eigenem Engagement aus eigener Überzeugung in seine politischen und ökonomischen Aktivitäten einfliessen lässt, ist seine eigene Entscheidung, und wegen dieser Entscheidung sollte er sowohl von den Mitbürgern als auch von Glaubensgenossen respektiert werden. Das öffentliche Bekenntnis zum Christentum kann aber auch ein reines Lippenbekenntnis sein und bietet weder eine Garantie für eine besonders moralische Lebensführung noch für eine qualifiziert gemeinnützige Politik.
Die weltanschaulichen Wurzeln des Liberalismus reichen ziemlich tief, und lassen sich bis in die Antike zurückverfolgen. Nicht nur der bereits zitierte Augustin, auch John Locke, Adam Smith, Benjamin Constant, Frédéric Bastiat, Lord Acton, Alexander de Tocqueville, Carl Hilty, Max Huber und Theodor Heuss (um nur wenige zu nennen) haben immer wieder einen direkten Bezug zum christlichen Glauben gesucht und hergestellt. Die beste Formel zum Verhältnis von »Libertarianism” und «Christian Faith» hat meines Erachtens jener Prediger gefunden, den ich an einem Meeting der International Society of Individual Liberty (ISIL) in Costa Rica hörte. Er hat die Frage nach der Kompatibilität auf den Kopf bzw. auf die Füsse gestellt. «You can be Libertarian without being Christian, but you can not be Christian without being Libertarian» (Man kann sich zwar zur Freiheit bekennen ohne Christ zu sein, aber man kann nicht Christ sein, ohne sich zur Freiheit zu bekennen), mit andern Worten, ein Glaube der nicht freiwillig gewählt wird und nicht auf einem freien Bekenntnis beruht, ist kein echter Glaube, sondern ein pädagogischer oder sozio-kultureller Dressurakt.
Man kann Freiheit auch areligiös als ein Geschenk deuten, das sich wohlwollende Menschen gegenseitig zubilligen, oder als eine Verpflichtung, die sie sich gegenseitig zumuten. Freiheit wird von Deterministen auch als Anmassung gedeutet, die sich autonome Menschen nach dem Motto «ich bin so frei» einfach nehmen bzw. erkämpfen, als das Feuer, das nach der griechischen Sage Prometheus den Göttern geraubt hat.
Es gibt viele – auch liberale – Agnostiker, deren Lebenspraxis moralischer und – im besten Sinn – sozialer ist als das, was viele bekennende Christen vorleben, die heute schnell bereit sind, das Soziale an den Staat zu delegieren nach dem Motto «Zwang ist verlässlicher als Liebe». Wer liebt, geht aber Risiken ein. Sympathie basiert immer auf Freiwilligkeit und bleibt darauf angewiesen.
Gegen eine Vermischung von Politik und Religion
Die Vermengung von Politik, Religion und Moral (und damit auch von Zwang, Solidarität, Sympathie und Liebe) ist heute ziemlich populär. Es ist doch viel angenehmer, wenn via Steuern und staatsangestellte Sozialarbeiter das anspruchsvolle Ermitteln von mitmenschlichen Bedürfnissen und Zuwendungs-Defiziten wenigstens teilweise wegfällt.
Diese Überlegung ist die Basis der hedonistischen Single-Selbstverwirklichungs-Gesellschaft. Sie prägt das «urbane» sozialdemokratische Wählerpotential unter vielen kirchensteuerbezahlenden Christen beider Konfessionen. Sie wollen einen möglichst «christlichen Staat», ein politisch verfasstes Christentum, das den Individuen die Verantwortung und die Sorge für die Mitmenschen abnimmt und die Kosten dafür Dritten anlastet.
Sozialismus hat materialistische Wurzeln
Weit verbreitet ist die These, das Christsein müsse sich im Staat durch sozialistisches oder sozialdemokratisches Engagement bewähren, da nur dieses die Politik mit Solidarität und Mitmenschlichkeit verknüpfe. Diese Auffassung blendet aus, dass der Sozialismus ideengeschichtlich im Materialismus und im naturwissenschaftlichen Determinismus wurzelt, in dem ursprünglich weder die Religion noch die Freiheitsidee Platz hatte. Wenn das (materielle) Sein das (ideelle) Bewusstsein abschliessend bestimmt, geht es in der Politik nur darum, die Gesetze der Menschen mit den Gesetzen, die den Gang der Natur und den Gang der Geschichte bestimmen, in Einklang zu bringen. Für Phänomene wie Freiheit, Barmherzigkeit und Nächstenliebe oder gar für das Wagnis der Feindesliebe gibt es in diesem Weltbild wenig Raum.
Ob man als Sozialist die einzige mit der Natur und mit dem richtigen Bewusstsein des Menschen kompatible soziale Ordnung auf demokratischem Weg (bei dem die Mehrheit eine Minderheit zwingt), oder auf diktatorischem Weg (bei dem die einsichtige Minderheit die uneinsichtige Mehrheit zwingt) verwirklichen will, ist lediglich eine methodische Frage, die bekanntlich zur Spaltung des Sozialismus in einen revolutionär klassenkämpferischen und einen evolutionär demokratischen Flügel geführt hat.
Selbstverständlich hat es unter Sozialisten verschiedene Versuche gegeben, die zunächst zwingend aus dem naturwissenschaftlichen Sein abgeleiteten sozialen Bedürfnisse und Ansprüche auch mit dem christlichen Liebesgebot in Übereinstimmung zu bringen. Man hat das Ideal der klassenlosen Gesellschaft mit dem Ideal einer Gesellschaft verknüpft, in der jeder dem andern aus Liebe und in Liebe dient. Aus dieser Sicht ist es aber in einer politischen Gemeinschaft unabdingbar, dass – mindestens in einer Übergangsphase – jene, die nicht aus einer im Glauben verwurzelten christlichen Liebe, sozial, hilfsbereit und solidarisch sind, notfalls eben durch politischen Zwang dazu gebracht werden – nach dem Motto «und bist Du nicht willig, so brauch ich Gewalt…»
Die christliche Liebe wirkt als der Wind in den Segeln, der das Gesellschaftsschiff ans Ufer des sozialistischen irdischen Paradieses bringen soll, und der Staat ist der Zwangsmotor, der bei allfälligen Flauten aushilft, die Fahrt beschleunigt und erträglicher macht, u.a. durch erzwungene Umverteilung und steuerfinanzierte Sozialdienste. Das tönt plausibel, ist aber höchst fragwürdig, weil sich Liebe und Zwang in letzter Konsequenz gegenseitig ausschliessen. Das ist auch der polit-psychologische Grund, warum in den gescheiterten Experimenten des real existierenden Sozialismus der Staat alles andere als abgestorben ist, sondern immer totalitärer wurde.
Es gibt keinen Zwang zum Glauben
Die Vermutung liegt nahe, dass die meisten Menschen an etwas glauben wollen, bzw. es einfach nicht schaffen, «letzte Fragen» offen zu lassen. Echte Atheisten und Agnostiker sind daher viel seltener als man gemeinhin annimmt. Die meisten fliehen in einen Aberglauben, oft in einen politischen, der dann in Verbindung mit Mehrheitsprinzip und Zwangmonopol allgemeinverbindlich werden soll. Man will ja mit seinem Aberglauben nicht allein sein.
Der Grundsatz «Es gibt keinen Zwang zum Glauben», steht sogar im Koran, was allerdings in einem krassen Widerspruch steht zu allen Sanktionen gegen Abtrünnige, die er ebenfalls fordert.
Dass eine freiheitliche moderne Gesellschaft ausschliesslich auf der Basis «christlicher Werte» gedeiht, ist unwahrscheinlich. Sie funktioniert aber besser in einem Umfeld, in dem die Bekenntnisfrage nach dem «guten Leben» gestellt wird und ernsthaft und ohne konfessionelle Scheuklappen um Antworten auf Glaubensfragen gerungen wird.
Eine Gesellschaft, die auf Liebe basiert und auf Gewalt und Zwang weitgehend verzichtet, bleibt stets zum Teil ein unerreichbares Ideal. Je mehr Menschen sich in diesem Sinn und Geist freiwillig engagieren, desto besser für die Gesellschaft. Wer aber diesen Geist auf dem Umweg über die Politik allgemeinverbindlich erzwingen will, erreicht das Gegenteil. Zwang zerstört Freiwilligkeit. Bekenntnisse müssen frei wählbar und widerrufbar sein, sie dürfen – wenn sie sich an den öffentlichen Ordnungsrahmen halten – nicht verboten werden, aber sie dürfen auch nie für allgemeinverbindlich erklärt werden, auch nicht via Mehrheitsprinzip.
Die Liebe ist eine Tochter der Freiheit und wird durch Zwang immer wieder unterdrückt. Entgegen landläufigen Vorurteilen, ist der Liberalismus als eine auf freiwilligem Tausch und auf Privatautonomie basierende, weniger Zwang und damit auch weniger Staat fordernde politische Grundhaltung mit dem christlichen Liebesgebot weit besser vereinbar als alle Parteidoktrinen, welche mit Hilfe des Staates und durch immer mehr Staat das moralische Verhalten der Bürgerschaft allgemeinverbindlich verbessern wollen und damit jene soziale Kälte herbeiführen, die zu bekämpfen sie vorgeben.