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Der Einfluss Wilhelm Röpkes auf die Neudeutung des Schweizer Liberalismus nach 1945

Lesedauer: 13 Minuten

Robert Nef, Beitrag zum Kolloquium des Liberalen Instituts zum Thema „Der Schweizer Liberalismus“, Bern 12./13. November 2010

Teil 1: Röpkes ideelles Vermächtnis

Wilhelm Röpkes Einfluss auf das liberale Denken seiner Epoche ist gross und wird heute allzu oft noch unterschätzt. Er gehörte zum engsten Beraterkreis von Konrad Adenauer und Ludwig Erhard und hat Wesentliches zur Überwindung der zentral verwalteten Kriegswirtschaft zur sozialen Marktwirtschaft der Nachkriegszeit beigetragen. In der Schweiz ist jene „Aktivdienstgeneration“ von Liberalen, die sich von seiner Lehr- und Forschungstätigkeit am Institut Universitaire des Hautes Etudes Internationales in Genf 1937-1966, von seinen zahlreichen Büchern und Artikeln in der Neuen Zürcher Zeitung in den Schweizer Monatsheften, aber auch im Journal den Genève und der Gazette de Lausanne sowie durch seine Beratung in der Politik bestärkt fühlten und auch leiten liessen. Röpke selbst war ein grosser Bewunderer der freiheitlichen Tradition der Schweiz und trug dazu bei, sie wiederzubeleben. Als 1941 seine deutschen und österreichischen Institutskollegen aus Angst vor einer deutschen Invasion der Schweiz in die USA emigrierten, blieb er seinem neuen Wohn- und Arbeitsort Genf treu und verzichtete auch nach dem Krieg auf eine Rückkehr nach Deutschland.

Nach 1945 stand auch die Schweizer Wirtschaft vor einer Weichenstellung. Die Exportwirtschaft und die internationalen Dienstleister hatten im Krieg gegenüber der Binnenwirtschaft an Boden verloren. Sollte man den Protektionismus weiterführen oder auf internationale Arbeitsteilung und Freihandel setzen? Röpke gehörte neben einflussreichen Genfer Politiker William Rappard und dem Zürcher Staatsrechtsprofessor Giacometti zu den Vordenkern einer liberalen Offensive für den raschen Abbau des kriegwirtschaftlichen Dirigismus und für den Freihandel als Basis einer antitotalitären und antisozialistischen Zivilgesellschaft.

Für Röpke war die Ökonomie keine wertfreie Wissenschaft sondern Bestandteil einer Gesellschaft, die auf einem ethischen Fundament „Jenseits von Angebot und Nachfrage“ ruht (wie der Titel eines seiner bekanntesten Werke lautet). Sein Lebenswerk sind die in Genf verfassten und auch auf Französisch und Englisch erschienen Werke zur Kulturphilosophie und zu einer freien Gemeinschaft freier Menschen. Ausgangspunkt bildet für Röpke die Familie und ein föderativer nach dem das Subsidiaritätsprinzip aufgebauter Staat. Als Musterbeispiel galt dem Wahlgenfer die Schweiz. Von der Familie über Ortsgemeinden, Kreise, Kantone und Länder galt es föderale Strukturen in Europa aufzubauen, die Kleinräumigkeit und Individualität förderten und Staatlichkeit nonzentral organisierten Demokratie war für ihn Volkswahl auf Zeit mit einer ausgesprochenen Leistungs- und Elitenhierarchie, einer Herrschaft der Besten und eben nicht einer Massendemokratie. Folglich ist Röpkes Freiheitsbegriff humanistisch und individuell geprägt und nicht wie bei Rousseau auf das Kollektiv bezogen. Der einzelne Mensch genießt Vorrang vor der Gemeinschaft, er ist niemals bloss Mittel zum Zweck, auch wenn der Einzelne im Dienst der Gemeinschaft seine Erfüllung findet. Zugleich ist der Liberalismus universal, weil er Nationalismus und Imperialismus ablehnt. Im Zentrum der Erneuerung steht die geistig-moralische Basis, d.h. sich wieder „auf das Natürliche, Menschliche, Spontane, Ausgeglichene und Mannigfaltige“ zurück zu besinnen.

Der „ewige Liberalismus“

Röpke sieht den Liberalismus geistesgeschichtlich tief verwurzelt: „Jene eigentliche ‚bürgerliche’Philosophie, die man in einem sorgfältig zu definierenden Sinne auch die ‚liberale’ nennen kann, hat uns dazu erzogen, den Selbstentfaltungs- und Selbstbehauptungsdrang des für sich und seine Familie sorgenden Individuums ehrlich anzuerkennen und den ihm entspringenden Tugenden der Arbeitsamkeit, der Rührigkeit, der Sparsamkeit, des Pflichtgefühls, der Zuverlässigkeit, Pünktlichkeit und Vernünftigkeit den gebührenden Rang gegeben.“

Viele Entscheidungsträger bekannten sich in der Folge zum ideellen Erbe Wilhelm Röpkes: seinem Ethos der Marktwirtschaft, den Grundsätzen des Eigentums und des Wettbewerbs, dem nonzentralen Föderalismus sowie den Grenzen des Steuerstaates (die weit unter dem heutigen Niveau lagen). Obwohl der Geist Röpkes bis heute in der Schweizer Politik Spuren hinterlässt, sind ordnungspolitisch orientierte Liberale schon in den 1970er Jahren schrittweise durch eine neue FDP-Politikergeneration abgelöst worden, die sich ziemlich unkritisch mit dem von Röpke kritisierten Wohlfahrts-, Umverteilungs- und Bevormundungsstaat abgefunden und gelegentlich sogar angebiedert hat.

Die erfolgreiche und an Röpke anklingende Wahlparole „Mehr Freiheit und Verantwortung – weniger Staat“ ist damals leider durch eine wenig transparente Anpassung an den subventions- und interventionsfreudigen vorherrschenden Publikumsgeschmack ersetzt worden. Die 68er forderten generell ein Primat der Politik und eine staatliche Förderung von kollektiven Selbstverwirklichungswünschen. Sie erwarteten den Fortschritt von mehr Zwangssolidarität und Mitbestimmung, von einer zentralisierten Sozial- und Wirtschaftspolitikpolitik und von einem Anschluss an die EU. Gegenüber diesen von den meisten Medien lautstark unterstützten Postulaten verhielt sich die FDP zum Teil anpasserisch und zum Teil zu passiv. Das lag ziemlich weit weg von den Wertvorstellungen Wilhelm Röpkes.

Unmissverständlich hat Röpke die in der Ideengeschichte verhängnisvolle Koalition der Liberalen mit Zentralisten und Nationalisten angeprangert, die in der Schweiz auch bei der Gründung des Bundesstaates festzustellen ist, und die den Liberalismus in Deutschland immer wieder diskreditiert hat. „Wie kam es nun, dass diese liberalen Deutschen als mit der Revolution von 1848 ihr Traum, eine Einheit in Freiheit zerrann, sich bereit fanden, die Freiheit für die Einheit zu geben und so schliesslich zu jenem unrühmlichen Typus wurden, den man am Ende des Jahrhunderts den Nationalliberalen nannte?“ In seinem Buch „Die deutsche Frage“ (3. Aufl. S. 213) versucht er, darauf zu antworten und geisselt das Zusammengehen der Liberalen mit den Zentralisten als einen Verstoss gegen Freiheit, Vielfalt und Individualismus.

Wilhelm Röpke hat mit seinen Bezügen zu den Herausforderungen seiner Epoche und durch seine zahlreichen Werke dem Liberalismus Impulse verliehen, die bis heute nachwirken und sogar zunehmend aktuell werden.

Es ist zu hoffen, dass man sich auch in Genf, an seiner akademischen Wirkungsstätte mit internationaler Ausstrahlung wieder vermehrt mit seiner grundlegenden Kritik an der Massengesellschaft, und am Bevormundungs-und Umverteilungs- und Schuldenmacherstaates auseinandersetzen wird.

In der Folge werden hier einige Testimonials wiedergegeben, die den bis heute wirksamen Einfluss Röpkes belegen:

Ernst Buschor, emeritierter Professor für Betriebswirtschaftslehre an der Universität St. Gallen und ehemaliger Bildungsdirektor des Kantons Zürich zählt Röpke in einem Weltwoche-Interview neben Erasmus von Rotterdam und Max Weber zu seinen prägenden Bildungserlebnissen:

„Der Ökonom Wilhelm Röpke ist interessant, ein Neoliberaler im ursprünglichen Sinn des Wortes, denn der Neoliberalismus umfasste in seiner klassischen Definition ja ganz eindeutig ein ethisches Fundament. Mich interessieren Figuren, die in schwierigen Zeiten den Paradigmenwechsel vorgelegt und vorgelebt haben.“

Hans Jörg Hennecke zeigt in seiner 2009 erschienenen Röpke-Biographie wie dieser in seinem Leben mehrere Rollen zugleich spielte.

„Wilhelm Röpke (1899-1966) lieferte als Nationalökonom bahnbrechende Beiträge zur modernen Konjunktur-, Ordnungs- und Aussenwirtschaftstheorie, als streitbarer Politikberater und glänzender Publizist, der der «Neuen Zürcher Zeitung» eng verbunden war, gewann er immensen Einfluss auf die politischen Weichenstellungen seiner Zeit, und als tiefschürfender Deuter der geistigen Strömungen des 20. Jahrhunderts zeigte er bereits 1942 Wege aus der moralischen Katastrophe Europas auf. Unbeirrt verteidigte er die Weimarer Republik gegen den Nationalsozialismus, ging ins Exil und kämpfte von der Schweiz aus um die Rettung der europäischen Zivilisation vor dem braunen und dem roten Totalitarismus. An der Seite Ludwig Erhards war Röpke der führende Kopf der Sozialen Marktwirtschaft und warnte vor den Gefahren eines die Freiheit und Würde des Menschen erstickenden Wohlfahrtsstaats. Schon zu Lebzeiten stand er in dem Ruf, die «geistige Vaterschaft» (Hans-Peter Schwarz) der Bundesrepublik beanspruchen zu können. Er war ein glühender Verfechter einer marktwirtschaftlichen Ordnungspolitik und zugleich Humanist und Moralist. Seine Mahnungen sind zu Beginn des 21. Jahrhunderts aktueller denn je.“

Karen Horn weist mit Nachdruck auf Röpkes Bedeutung für das ordoliberale Konzept der „Sozialen Marktwirtschaft“ hin:

„Die globale Wirtschafts- und Finanzkrise hat einen unvermuteten Nebeneffekt: Das Modell der «Sozialen Marktwirtschaft» erlebt eine Renaissance. Und auch seine ordoliberalen Vordenker sind wieder en vogue. Auf einmal gelten sie nicht mehr als unerträglich normativ, romantisch und altmodisch. Im Gegenteil, man ist betroffen von der Parallelität der Fragen, die sich damals stellten und heute stellen. Vor allem aber zieht man den Hut vor ihrem moralischen Ernst, der philosophischen Breite ihres Blicks und ihrem Engagement. Derlei ist heute rar.“

Gerhard Schwarz auf die subtilen Berührungspunkte und Differenzen zwischen Liberalen und Konservativen hin, die Röpke thematisiert hat:

„Für die meisten Ökonomen aber ist klar – und Röpke hat dies geradezu exemplarisch herausgearbeitet -, dass eine liberale Ordnung in Politik und Wirtschaft letztlich nur den Raum schafft für die Moral, diese aber nur in begrenztem Umfang selbst erzeugen kann. Vielen Liberalen sind Tugenden wie Fairness, Ehrlichkeit, Achtung vor dem andern, Familiensinn, Selbstdisziplin, Gerechtigkeits- und Gemeinsinn oder Mut genauso wichtig wie den Konservativen, und sie versuchen, diesen nachzuleben. Nur werden Liberale die Allgemeingültigkeit der von ihnen verfochtenen Normen stets mit Selbstzweifel und Skepsis vertreten – es könnten ja auch andere Grenzziehungen zwischen Gut und Böse richtig sein. Und deshalb werden sie nicht versuchen, ihre Vorstellungen von Moral mittels Gesetz und sozialer Kontrolle durchzusetzen, sondern dafür sorgen, dass jeder nach seiner Façon selig werden kann, solange er nicht in die Privatautonomie seiner Mitmenschen eingreift.“

In einem Artikel zu Röpkes 100. Geburtstag habe ich mich zu seiner kulturpessimistischen Kapitalismuskritik wie folgt geäussert:

„Moral wird zwar von Etatisten durchaus gepredigt und vor allem „von den andern“ in Form von Solidarität gefordert, nötigenfalls unter Nachhilfe durch staatlichen Zwang und wohlfahrtsstaatliche Umverteilung. Aber auch das moralische Defizit, das „Moralversagen“, soll aus dieser etatistischen Sicht durch staatliche Vorschriften ausgeglichen werden. Diese Tendenz steht im Widerspruch zu dem, was Röpke als „Dritter Weg“ vorschwebte. Die Hoffnung, man könne „mehr Moral“ durch „mehr Staat“ herbeizwingen, dürfte sich als gefährliche Illusion erweisen. Möglicherweise ist der Fortschrittsskeptiker Röpke gegenüber dem Verhältnis von Markt und Moral zu pessimistisch gewesen. Er hat die Chancen des Übergangs von der Industriegesellschaft zur Dienstleistungsgesellschaft gegenüber den Gefahren der Vermassung in der Konsumgesellschaft meines Erachtens unterschätzt. Der Markt kann zwar auch in einer Dienstleistungsgesellschaft ohne moralische Basis nicht funktionieren, aber vieles deutet darauf hin, dass Märkte und vor allem Dienstleistungsmärkte, im Wettbewerb nicht primär die Aggressivität fördern, sondern die Fähigkeit, sich in die Bedürfnisse anderer einzufühlen. Sympathie wird — auch wirtschaftlich — lohnend, moralische Verhaltensweisen werden vom Markt nicht nur benötigt und genutzt, sondern auch generiert. Dies gilt zwar nicht in allen Fällen, aber in der Tendenz. Moral steht prinzipiell nicht im Widerspruch zum Wirtschaftlichen, selbst wenn dieses — wie bei Röpke — in einem engeren, vorwiegend an materielle Bedürfnisse anknüpfenden Sinn definiert wird.“

Teil II: Röpke – ein liberaler Wertkonservativer

Wilhelm Röpke gehört zu den grossen Liberalen des 20. Jahrhunderts. Freiheitliches Gedankengut stand für ihn im Zentrum seines wissenschaftlichen und publizistischen Wirkens und sein Name bleibt für Kenner der Ideengeschichte unauslöschlich mit dem Begriff des Neoliberalismus verbunden, auch wenn dieser Begriff heute in einer anderen Bedeutung im Umlauf ist, mit der sich Röpke kaum identifiziert hätte. Neoliberalismus war für ihn gerade nicht die vorwiegend im 19. Jahrhundert entwickelte Lehre vom Freihandel, von der durch Marktprozesse gewährleisteten Interessenharmonie und vom „Laissez faire“, sondern ein an die Gegebenheiten und Widerwärtigkeiten des 20. Jahrhunderts adaptiertes Ordnungsprinzip, ein „Dritter Weg“ zwischen Moralismus und Ökonomismus. „Nationalökonomisch dilettantischer Moralismus ist genau so abschreckend wie moralisch abgestumpfter Ökonomismus, und leider ist das eine so verbreitet wie das andere“ („Wirtschaft und Moral“, in: Wort und Wirkung, Ludwigsburg 1964, S. 73). Röpke unterscheidet einen „unvergänglichen Liberalismus“, welcher für ihn als Idee „im Grunde das Wesen der abendländischen Kultur schlechthin ausmacht“ von einem „vergänglichen Liberalismus, welcher als wirtschaftspolitische Doktrin aus dem letzten Jahrhundert seine Aktualität weitgehend eingebüsst habe.

Dem Konzept des allgegenwärtigen „homo oeconomicus“, der die ganze Welt nur unter dem Gesichtspunkt von Kosten und Nutzen evaluiert, stellte er das Konzept des „homo religiosus“ gegenüber, der Mensch, der zwischen Einbindung und Abgrenzung nach „Mass und Mitte“ strebt, der Mensch, dessen seelische Bedürfnisse in der säkularisierten Massengesellschaft zu kurz kommen. Dieses tiefe Unbefriedigtsein der Seele führt, so Röpke, zur Suche nach einem Glaubensersatz und „zur immer totaleren Ideologisierung und Politisierung unseres Lebens. Dieser Entwicklung kann man immer schwerer entrinnen, und vielleicht ist es sogar ein eigentlicher Fluch unserer Zeit, von der die Pest des Kommunismus nur ein besonders bösartiger Spezialfall ist. Beobachten sie die pseudoreligiöse Inbrunst der Utopisten, der Weltverbesserer, die dann die Welt nur schlimmer machen und eigentlich Weltverschlimmerer heissen sollten“ („Wirtschaftspolitik im politischen Raum“, in: Wort und Wirkung, Ludwigsburg 1964, S.29).

Röpke ist 1966 im 67. Altersjahr viel zu früh gestorben. Er hat – anders als sein Jahrgänger Friedrich August von Hayek, dem er trotz grundlegender Meinungsverschiedenheiten freundschaftlich verbunden war – weder den Wandel im sozialwissenschaftlichen Umfeld (70er Jahre) noch den Übergang von den Europäischen Gemeinschaften zur Europäischen Union (80er Jahre) noch den Konkurs des Sowjetkommunismus und den Zerfall des Sowjetimperiums (ab 1989) noch die „Neue Weltordnung unter der Vormacht der USA“ miterlebt. Er hätte wohl kaum zu den voreiligen und zum Teil auch gefährlichen Optimisten und Enthusiasten gehört, welche bei jedem Wandel gleich überall das Ende alles Schlechten und den Anfang alles Guten wittern und die Macht der Altlasten sträflich unterschätzen. Wenn wir heute nach einem Adjektiv suchen, welches das Lebenswerk Röpkes besser charakterisiert als das heute missverständliche „neoliberal“, so ist es „wertkonservativ“.

Röpke gehörte zusammen mit Friedrich August von Hayek zu den Gründern der „Mont-Pèlerin-Society“, welche zum weltweit einflussreichen Kontaktgremium der Exponenten freiheitlicher, marktwirtschaftlicher Ideen wurde. Es gab in dieser Gesellschaft, nicht nur in der Starphase, immer wieder erhebliche Meinungsdifferenzen über die Abgrenzung von Wirtschaft, Staat und Gesellschaft, aber sie bewährte sich über Jahrzehnte als internationales Forum liberaler Reflexion.

Röpke gehörte zu den Befürwortern eines starken, handlungsfähigen Rechtsstaats als Voraussetzung und Rahmenordnung funktionierender Märkte. Sein wissenschaftliches und publizistisches Lebenswerk ist beeindruckend. Es kreist um den Themenbereich „Gesellschafts- und Wirtschaftsreform“ und umfasst vom Lehrbuch über den Aufsatz bis zur Rede und zum Zeitungsartikel verschiedenste Gattungen der Publizistik.

Röpkes in der „Neuen Zürcher Zeitung“ publizierte Leitartikel haben wie bereits erwähnt, eine ganze Lesergeneration mitgeprägt. Es gehört zu den Risiken des Aktualitätsbezugs, dass solche Texte auch schneller veralten als theoretische Abhandlungen. Trotzdem hat Vieles, das Röpke im Hinblick auf aktuelle Situationen und konkrete Probleme geschrieben hat, auch über die Jahre hinaus seinen Stellenwert bewahrt. Bei jeder Art des Publizierens stellt sich die Frage: Was bleibt, und was ist zeitgebunden? Die Engländer, die eine besondere Affinität und Begabung zu einem offenen Konservatismus haben, kennen ein treffendes Sprichwort: „Systems die, instincts remain“. Systeme, auch Denksysteme sind vergänglich, Instinkte, welche anthropologische Erfahrungen speichern, überdauern, auch wenn sie oft nur in den Traditionen und nicht in den Genen gespeichert sind. Röpkes bleibende Erkenntnisse entstammen eher dieser geistigen Instinktsphäre als einem wissenschaftlich erhärteten und kritisierbaren System.

Der Begriff „Instinkt“ mag allzu biologistische Assoziationen wecken, möglicherweise charakterisiert er aber recht zutreffend jene Einbindung in die Menschennatur und in die kulturgeschichtlich geprägte Tradition. Darin kommt zum Ausdruck, was für Röpke den „homo religiosus“ ausmacht, den er über den „homo oeconomicus“ und über den „homo politicus“ stellt. Im Zentrum seines Lebenswerks stand die Freie Gesellschaft, welche ihrerseits auf Privateigentum und Privatautonomie und auf einer „organischen Verbindung“ bewährter moralischer Verhaltensweisen beruht. Sein Denken lässt sich – wie übrigens bei allen Liberal-Konservativen – am ehesten ex negativo beschreiben. Er war anti-etatistisch, anti-zentralistisch, anti-totalitär, anti-rationalistisch, anti-materialistisch und anti-ökonomistisch (wenn man „ökonomistisch“ als Bezeichnung für ein vorbehaltloses Primat der Ökonomie verwendet).

Röpke war ein Meister der Titelformulierung. Die Aufzählung der einzelnen Buchtitel mag bei vielen Gelehrten eine langweilige Sache sein. Bei Röpke spiegelt sich darin sein ganzes „Lebensprogramm“: Das erste grössere Werk ist ein Lehrbuch, „Die Lehre von der Wirtschaft“, dann folgen „Krise und Konjunktur“, „Die Gesellschaftskrisis der Gegenwart, Wesentliche Orientierungen im Chaos unserer Zeit“; „Civitas Humana, Grundfragen der Gesellschafts- und Wirtschaftsreform“, „Die deutsche Frage“, „Internationale Ordnung – heute“, „Mass und Mitte“, „Jenseits von Angebot und Nachfrage“, „Gegen die Brandung“, „Das Kulturideal des Liberalismus“, „Wirrnis und Wahrheit“, „Wort und Wirkung“, „Torheiten der Zeit, Stellungnahmen zur Gegenwart“. Von den vielen Zeitschriftaufsätzen sei nur ein besonders markanter Aufsatztitel erwähnt „Eigentum als Säule einer freien Gesellschaft“ (Schweizer Monatshefte 1957, S. 441). Eine der wichtigsten Reden trägt den programmatischen Titel „Marktwirtschaft ist nicht genug“ (In: Wort und Wirkung, Ludwigsburg 1964, S. 136).

Ob Röpke ahnte, dass von vielen Autoren letztlich nur noch die Titel ihrer Bücher überliefert werden? (Untersuchungen über die Frage, wie viele Bücher nur noch zitiert aber nicht mehr gelesen werden, sind ernüchternd.) Die in wenigen Worten komprimierte Hauptbotschaft des Buches finden wir etwa bei Kants „Kritik der reinen Vernunft“, Schopenhauers „Die Welt als Wille und Vorstellung“, Max Stirners „Der Einzige und sein Eigentum“ (übrigens von Röpke als „das lächerlichste Buch der Weltliteratur“ bezeichnet) Horkheimer/Adornos „Dialektik der Aufklärung“ und – last but not least – Nietzsches „Jenseits von Gut und Böse“. Letzterer hat wohl Röpke zu seinem markanten Buchtitel „Jenseits von Angebot und Nachfrage“ angeregt, zu jenem „geflügelten Wort“, welches als Motto über seinem Gesamtwerk stehen könnte und das als „minimales ideengeschichtliches Prüfungswissen“ auch in einer wenig traditionsbewussten Zeit gute Überlebenschancen hat.

Röpke war kein Wissenschafter, der im Elfenbeinturm über alten und neuen Theorien brütet, bzw. als Empiriker fleissig Daten und Fakten sammelt und interpretiert. Er war ein Professor im Sinn des Bekenners, ein Kämpfer für jene Ideen, von deren Wahrheit er zutiefst überzeugt war. Die Funktion der Ökonomie als Wissenschaft hat er wie folgt beschrieben: „Wir appellieren an die wirtschaftliche Vernunft; wir ermahnen die Menschen, Tatsachen zu respektieren. Aber das heisst, dass hier wirtschaftliche Vernunft und Respektieren von Tatsachen aufprallen auf die Gefühle und Leidenschaften der Politik, auf den blossen Enthusiasmus, auf Ideologien, von denen ich gesprochen habe. Durch diesen Appell an die wirtschaftliche Vernunft und an harte, nicht aus der Welt zu schaffende Tatsachen gewinnt die Wissenschaft vom Wirtschaftsleben, die Nationalökonomie, und das wirtschaftliche Denken, das wir alle pflegen in unserer ideologiebesessenen Zeit einen Wert, der gar nicht abzuschätzen ist.“ (In: Wort und Wirkung, S. 30).

Sein Vortrag zum Thema „Umgang mit dem Bolschewismus“ (a.a.O. S. 91) beginnt mit folgendem Satz: „Wenn ich irgendwo und irgendwann in den gewiss höchst unverdienten Ruf eines ängstlichen Leisetreters gekommen sein sollte, so habe ich heute die sehr erwünschte Gelegenheit, ihnen zu beweisen, dass ich im Gegenteil, wenn es darauf ankommt im Stande bin, die Dinge beim Namen zu nennen.„ Gibt es heute noch solche Stellungnahmen von Hochschullehrern, welche als „Orientierungen im Chaos der Zeit“ „die Dinge beim Namen nennen“? Der von Röpke so leidenschaftlich und mit moralischer Argumentation bekämpfte Bolschewismus ist heute nicht mehr existent.

Aber hat die „Marktwirtschaft mit moralischem Fundament“ wie sie Röpke als Ideal vorschwebte weltweit gesiegt? Oder nähern wir uns Röpkes Horrorvision von einer entwurzelten, orientierungslosen, ökonomistischen Massengesellschaft? Die Überlegenheit der Marktwirtschaft wird heute in aller Regel durch ihre Effizienz und ihre Produktivität begründet. Anders bei Röpke. Sein Motiv ist die Freiheit, welche basierend auf Privateigentum und Privatautonomie eine tragende Säule der Gesellschaft bildet. Effizienz und Produktivität mögen positive Nebeneffekte sein, die empirisch bisher nachweisbar sind, aber die Wirtschaftsfreiheit müsste – so Röpke – als Wesenselement der Freiheit auch dann geschützt werden, wenn andere Wirtschaftssysteme effizienter und produktiver wären. „Die Freiheit ist ein so kostbarer Wert, dass wir bereit sein sollten, ihr alles zu opfern, möglicherweise auch Wohlstand und Überfluss, wenn die wirtschaftliche Freiheit uns dazu zwingen sollte.“ („Erziehung zur wirtschaftlichen Freiheit“ in: Albert Hunold, Hrsg., Erziehung zur Freiheit, Erlenbach-Zürich 1959, S. 286).

Im Zentrum der ordnungspolitischen Diskussion steht heute nicht mehr die Frage „Marktwirtschaft oder Kommandowirtschaft?“ Von höchster Aktualität ist und bleibt jedoch die These „Marktwirtschaft ist nicht genug“. Die Ergänzungsbedürftigkeit der Marktwirtschaft wird heute – anders als bei Röpke – allerdings mehrheitlich beim politischen System angesiedelt. Dem Staat wird – vor allem von linker Seite – die Aufgabe zugewiesen, sogenanntes „Marktversagen“ zu kompensieren. Er soll die Wirtschaft durch Vorschriften und Steuern „sozialer machen“. Das Primat der Wirtschaft wird einem Primat der Politik gegenübergestellt und Marktgläubige fechten gegen Politikgläubige. Röpkes Postulat nach einem Primat der Moral erscheint in diesem Diskurs als Ruf aus einer andern Welt.

Röpke bietet zahlreiche Angriffsflächen für Kritik. Seine Skepsis gegenüber der anonymen kapitalistischen Grossgesellschaft und gegenüber der technischen Zivilisation in Verbindung mit der Massenproduktion und dem Massenkonsum hat ihm den Ruf eines romantischen Fortschrittsskeptikers eingetragen.

Auch dass er aus seiner Sicht wesentliche Bereiche der Gesellschaft „Jenseits von Angebot und Nachfrage“ ansiedelte, steht im Widerspruch zur in den USA entwickelten Public-choice-Theorie, die sämtliche Lebensbereiche unter dem Gesichtspunkt des Austauschs betrachtet und damit zu einem viel weiteren Begriff von Wirtschaft gelangt. Ökonomie wird aus dieser Perspektive zu einer umfassenden Sozialwissenschaft, die weite Bereiche des Sozialen, des Psychologischen und des Politischen miteinbezieht. Röpke ist aus dieser Sicht alles andere als veraltet, und es spricht eigentlich für ihn, dass viele Fragestellungen, die er ursprünglich ausserhalb seines Fachs angesiedelt hat, heute innerhalb seiner Disziplin liegen. Auch sein Konservativismus ist inzwischen nicht obsolet geworden und er hat als politische Strömung – vor allem im Zusammenhang mit traditionellen Werten – keineswegs ausgedient.

Die Wertediskussion, die Frage nach dem Stellenwert der Moral, bleibt mindestens so aktuell wie die Frage nach der produktivsten und effizientesten Form des Wirtschaftens. Vor allem bleibt die Herausforderung bestehen, sich weiterhin mit den komplexen Zusammenhängen und Spannungsfeldern zwischen Markt und Moral und zwischen Fortschritt und Tradition zu befassen, für die uns Röpke in mehrfacher Hinsicht sensibilisiert hat.

Literatur:

Von Wilhelm Röpke sind zur Zeit aus den 1979 bei Paul Haupt herausgegebenen Ausgewählten Werken noch folgende Bände lieferbar:
Civitas Humana, 5. Aufl.;
Gesellschaftskrisis der Gegenwart, 6. Aufl.;
Internationale Ordnung heute, 3. Aufl.;
Mass und Mitte, 2. Aufl.
Lieferbar sind ferner: Wilhelm Röpke, Das Kulturideal des Liberalismus, Klostermann-Verlag, Frankfurt a.M. 1947, sowie:

Wichtige Publikationen über Wilhelm Röpke

Roland Baader, Wilhelm Röpke: Denker der Civitas humana. In: Schweizerzeit, Nr. 20.,8. Oktober 1999
Jürgen Backhaus, Wilhelm Röpke. Ein Ökonom mit Sinn für Markt, Mass und Moral, Neue Zürcher Zeitung vom 9,/10. Okt. 1999, Nr. 235, S. 19
Gerd Habermann, „Das Mass des Menschen“, Ein Wilhelm-Röpke-Brevier, Ott Verlag, Thun 1999
Hans Jörg Hennecke, Wilhelm Röpke. Ein Leben in der Brandung. Verlag Neue Zürcher Zeitung, Zürich 2005
Liberales Institut (Hrsg.),Wilhelm Röpke: Das Mass des Marktes. Mit Beiträgen von Bernhard Ruetz, Joachim Strabatty, Robert Nef, Hans Jörg Hennecke, Silvan Lipp, Zürich 2006
Helge Peukert, Das sozialökonomische Werk Wilhelm Röpkes, 2 Bde. Verlag Peter Lang, 1992
Heinz Rieter, Joachim Zweynert (Hrsg.): “Wort und Wirkung”. Wilhelm Röpkes Bedeutung für die Gegenwart., Metropolis-Verlag, 2009
Heinz Rieter, Kulturkonservativer Kämpfer für den Bürgergeist. In: Merkur 736/737, Sept./Okt 2010, S. 836
Gerhard Schwarz, Wilhelm Röpke – Morals and the Market, in: Reflexion Nr. 42, Hrsg Liberales Institut, Zürich 1999 (Lecture at the Mont Pèlerin Society Regional meeting 1999 in Potsdam, October 26)
Gerhard Schwarz, Liberalismus jenseits von Angebot und Nachfrage Betrachtungen zu Wilhelm Röpkes Wirtschaftsphilosophie aus Anlass seines 40. Todestages, in: Neue Zürcher Zeitung vom 11. Februar 2006
Zmirak John, Wilhelm Röpke, Architect of Liberty, Swiss Localist, Global Economist, 2001

Eine Neuauflage der wichtigsten Werke, insbes. von „Jenseits von Angebot und Nachfrage“ wäre erwünscht.

Der zweite Teil dieses Beitrags ist eine ergänzte und überarbeitete Fassung eines vervielfältigten „Rundbriefs“, der 1999 zum Anlass des 100. Geburtstags von Wilhelm Röpke für die „Stiftung für Abendländische Ethik und Kultur“ verfasst worden ist.

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