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Wohlfahrtsstaat: Der geordnete Rückzug

Lesedauer: 13 Minuten

Zehn Thesen und drei Reflexionen

These 1: Der Staat kann als Zwangsmonopolist soziale Probleme nicht befriedigend lösen

Der Staat ist nicht nur ungeeignet, um wirtschaftliche Aufgaben zu erfüllen, er ist auch unfähig, soziale Probleme zu lösen, die Kultur zu tragen und weiter zu entwickeln, ethische Werthaltungen und Verhaltensweisen zu garantieren, religiöse Bekenntnisse zu verbreiten und Lebenssinn zu vermitteln. Ohne ethisches Fundament und ohne die wirtschaftlichen Voraussetzungen der Unterstützung Notleidender sind soziale Probleme nicht lösbar. Der Staat kann letztlich nicht sozial sein, und es ist unmöglich, soziales Verhalten von allen Menschen durch die Gesetzgebung zu erzwingen. Eine Ethik des gegenseitigen Helfens basiert immer auf Freiwilligkeit. Die wahre Förderung sozialen Verhaltens braucht eine freie Gesellschaft und eine freie Marktwirtschaft, welche auf freiwillig eingegangenen vertraglichen Beziehungen beruht.

These 2: Demokratie und Wohlfahrtsstaat sind auf die Dauer nicht nachhaltig kombinierbar

Demokratie kann nur in einem Staat nachhaltig praktiziert werden, der seine eigene Zuständigkeit limitiert und vor allem die zulässige Steuerlast, die Steuerprogression und die Quote der Umverteilung begrenzt. Die Notwendigkeit einer Begrenzung des Wohlfahrtsstaates und eines Ausstiegs aus dem Teufelskreis unbegrenzter wohlfahrtsstaatlicher Umverteilung ergibt sich nicht aufgrund ideologischer und parteipolitischer Überlegungen und auch nicht ausschliesslich wegen finanzieller Engpässe. Sie ist eine Folge der Logik kollektiver Entscheidungen, die, wenn sie fehlerhaft ist, die Existenz einer Organisation gefährdet. Der Wohlfahrtsstaat ist nicht einfach “zu teuer”, er führt zu einem Zusammenbruch des politischen und sozialen Gefüges. Wenn wir die rechtsstaatliche Demokratie erhalten wollen, müssen wir den Wohlfahrtsstaat abbauen und umbauen. Die Schwierigkeit besteht darin, dass dieser “geordnete Rückzug” auf demokratischem Weg sehr anspruchsvoll ist, vor allem wenn bereits mehr als die Hälfte der Stimmbürgerschaft zu den Leistungsempfängern gehört. Am Ende einer Sackgasse bleibt nur der Rückweg offen.

These 3: Der Staat kann als Umverteiler des Wohlstands nie gerecht sein

Der Staat muss als “Hort des Rechts” stets den Anspruch einlösen können, in dem Sinn “gerecht” zu sein, dass er alle Bürger gleich behandelt. Dieser Anspruch ist bestenfalls im Bereich der öffentlichen Ordnung und der Justiz erfüllbar. In allen andern Bereichen führt das politische Versprechen “gerecht” oder “gerechter” zu sein in die grenzenlose Unzufriedenheit und in die grenzenlos wachsenden Ansprüche: in den Teufelskreis der Enttäuschungen und Frustrationen, die schliesslich auch das Vertrauen in das Funktionieren des Staats als Hüter der Ordnung unterminieren. Das Versprechen der Verteilungsgerechtigkeit ist nicht einlösbar und wird finanzpolitisch früher oder später zu einem „Fass ohne Boden“.

These 4: Die Umverteilung hat nicht zwei, sondern drei Gruppen von Beteiligten und Betroffenen

Umverteilung ist nicht einfach ein Verfahren, bei dem den relativ Reichen Geld weggesteuert wird um es an die relativ Armen zu verteilen (Robin Hood – Prinzip). Die entscheidende Gruppe ist der Umverteilungsapparat, in dem erhebliche Anteile des Umverteilungskuchens als Umverteilungskosten versickern. Sie werden zur Erhöhung der Popularität der aktuellen Regierung als Überbau des Umverteilungsapparates und zur Stabilisierung der Macht missbraucht. Die Umverteiler haben sich als eigenständiger Sozialindustrie etabliert, die ihre eigenen Gruppeninteressen verteidigt, die darin bestehen, dass die Probleme verewigt, statt gelöst werden.

These 5: Umverteilung senkt auf die Dauer den Lebensstandard, ist unökologisch und asozial

Was bei den hohen Einkommen und Vermögen weggesteuert und via Umverteilung vom Staat ausgegeben wird, erhöht zwar die Kaufkraft der wirtschaftlich Schwächeren. Sie können so auch den Verbrauch von Ressourcen überproportional steigern. Die umverteilten Mittel setzen falsche Signale, indem sie ein Einkommen generieren, das nicht durch eine wirtschaftliche Leistung gerechtfertigt ist. Wer in seiner wirtschaftlichen Existenz unbegrenzt von vereinbarten und leistungsbezogenen finanziellen Zuwendungen Dritter abhängig ist, verliert die materielle Basis seiner Eigenständigkeit, die Bestandteil der Menschenwürde ist. Der Zustand des Sozialstaatsklienten ist freiheitsfeindlich und er soll daher als nicht erstrebenswerte Ausnahme konzipiert sein, die für eine Mehrheit grundsätzlich vermeidbar ist. Die zum Zweck der sozialpolitischen Umverteilung weggesteuerten Mittel fehlen bei den Investitionen in Risikokapital und behindern und verzögern so den auch für die Ökologie entscheidenden technischen Fortschritt und die Zunahme des wirtschaftlich fundierten Wohlstandes für alle.

These 6: Die Finanzkrise des Wohlfahrtsstaates ist das Symptom einer tiefer liegenden Krise

Die wirkliche Krise des Wohlfahrtsstaates ist nicht primär finanziell sondern kulturell. Es ist die Krise der totalen Überforderung durch nicht mehr einzulösende politische Versprechungen und durch die Übertragung von Aufgaben an den Staat, in der Hoffnung, dass er deren Erfüllung in alle Zukunft erzwingen könne. Dieser Zwang stört und zerstört aber jene Bereitschaft, auf der Spontaneität, Gegenseitigkeit, und Freiwilligkeit beruhen, die einzigen langfristigen Garanten sozialen Verhaltens. Dieses Verhalten entsteht und besteht aufgrund von bewährten immer wieder neu verankerten und weiter entwickelten kulturellen und sozialen Traditionen, ohne die keine Gesellschaft längerfristig überleben kann.

These 7: Familien müssen selbsttragend sein

Familien und vergleichbare Kleingruppen müssen im Normalfall selbsttragend funktionieren und sich dem entsprechenden Wohlstandsniveau ohne staatliche Umverteilung anpassen können. Sie sind die Versorgungs- und Vorsorgeinstitution “für die alltäglichen Not- und Wechselfälle des Lebens”. Sie können und sollen ergänzt und entlastet werden durch ein vielfältiges und massgeschneidertes Angebot auf dem Versicherungsmarkt. Die familiale Solidarität zwischen den Generationen sollte – früher oder später – wieder aufgrund selbstbestimmter sozialer und wirtschaftlicher Beziehungen funktionieren, ohne dass dafür Zwangsabgaben erhoben werden und ohne dass ein obligatorisches Sozialversicherungssystem ein lebenslängliches kollektives Sparen erzwingt. Die seit Menschengedenken funktionierende Vorsorge innerhalb der Familie beruht auf dem Gebot der Elternehrung, das als solches von Generation zu Generation weitergegeben werden muss. „Ehre Vater und Mutter, aufdass Du lange lebest“. Staatliche Sozialhilfe sollten höchstens für jene 10 Prozent der Bevölkerung vorgesehen werden, die ohne sie nicht in der Lage wären zu überleben.

These 8: Keine Besteuerung ohne Begrenzung – No taxation without limitation

Die heutige Steuer- und Abgabenlast ist ein Relikt aus Kriegs- und Krisenzeiten. Wir müssen wieder zu einer für Zivilgesellschaften in Zeiten relativen Friedens tragbaren Belastung zurückkehren, indem die Kompetenz zur Besteuerung auf allen Staatsebenen verfassungsrechtlich beschränkt wird. Die Europäer mit ihrer von blutigen Kriegen geprägten Geschichte, welche auch das Steuersystem massgeblich beeinflusst hat, sind diesbezüglich – global gesehen – weder Vorbild noch Massstab. Unser Abgaben- und Sozialversicherungssystem ist ein Relikt aus einer Kriegs- und Krisenzeit, und wir haben es bisher nicht geschafft, zur Normalität der nicht-interventionistischen Privatautonomie und einer nicht-inflationären Währung zurückzukehren. Als fiskalisch zwangsrekrutierbare Steuerzahler leben wir auch in der so genannten freien Welt immer noch wie in Kriegs- und Krisenzeiten, und die “fiskalische Abrüstung” hat noch nicht stattgefunden. Der Hochsteuerstaat behandelt seine Bürger nicht besser als der Feudalstaat seine Leibeigenen. In einer friedlichen Zivilgesellschaft mündiger Bürger sollte die Staatsquote wieder auf den berühmten “Zehnten” des Mittelalters zurückkehren, der in Epochen galt, die nicht periodisch von totalen Kriegen heimgesucht worden sind (anstelle von gut 40 Prozent in der Schweiz, über 50 Prozent in der Bundesrepublik und über 70 Prozent in Schweden). Es gibt eine faktische Obergrenze der Besteuerung, bei der durch das „Anziehen der Steuerschraube“ letztlich weniger Steuereinnahmen generiert werden. Steuererhöhungen führen dann zu effektiv weniger Staatseinnahmen. Diese Erfahrung wird durch die sog. Lafferkurve ausgedrückt; der Teufelskreis ist aber schon vom islamischen Gelehrten Ibn Khaldun (1332 -1406) entdeckt worden.

These 9: Gesucht ist eine “Strategie des geordneten Rückzugs” aus nicht nachhaltig praktizierbaren Fehlstrukturen

Politik wird häufig als “die Kunst des Möglichen” definiert. Im Zusammenhang mit dem Abbau und Umbau des Wohlfahrtsstaates geht es aber um mehr. Wir stehen vor der Herausforderung, vor “der Kunst, das Unmögliche möglich zu machen”. Das “Wie” dieser Kunst, die Strategie, welche von einem als unbefriedigend empfundenen Zustand A zu einem als besser erhofften Zustand B führt, kann nur von Praktikern und Theoretikern, von Realisten und Utopisten gemeinsam erarbeitet und in die Tat umgesetzt werden. “Die Strategie des geordneten Rückzugs” tönt vielleicht etwas konservativ und ist als Motto eines politischen Programms zu wenig attraktiv. Man kann dieselbe Strategie auch “Aufbruch zu neuen Ufern” nennen, denn Freiheit und Autonomie sind Ziele, die vor uns liegen und nie definitiv erreichbar sind.

These 10: Der aktuelle Zustand unseres Wohlfahrtsstaates ist nicht einfach ein Engpass sondern eine Sackgasse

Die heutige Konstellation ist nicht zukunftstauglich, weil sie weder auf die Herausforderungen der Zukunft reagieren kann, noch die sozialen Leistungen erbringt, die gefordert und versprochen werden.

Reflexion 1: Die Unterscheidung von Engpässen und Sackgassen

Es geht im Folgenden um eine Weichenstellung bei der Krisenanalyse, die ihnen – vermutlich in anderen komplizierteren Fachterminologien – vertraut ist. Ich unterscheide zwei Grundtypen von Problemen: Engpässe und Sackgassen. Meine Terminologie knüpft an einen der Begründer der organischen Chemie an, an Justus Liebig (1803 bis 1873). Es geht um jene Gesetzmässigkeit, welche Justus von Liebig, einer der Entdecker des Kunstdüngers, vor über hundertfünfzig Jahren anhand des Pflanzenwachstums beobachtet und beschrieben hat: Das Wachstum wird durch die jeweils entscheidenden Engpässe gesteuert, und die ganze Strategie des Überlebens von Individuen und Gemeinschaften beruht auf dem richtigen Umgang mit dem jeweils entscheidenden Engpass. Eines der politischen Grundprobleme im Umgang mit Engpässen besteht darin, dass es in vielen Situationen sehr schwierig ist zu ermitteln, was der jeweils systemsteuernde Engpass ist. Wie beim Pflanzenwachstum ist dies wohl nur experimentell durch Versuch und Irrtum herauszufinden. Das Experimentieren mit sozialen Organisationen ist aber schwieriger und oft schmerzlicher als das Laborexperiment, und es bringt weniger eindeutige Resultate hervor. Das Labor der Sozialwissenschaft ist die Geschichte und um aus der Geschichte lernen zu können, muss man sich intensiv mit ihr befassen, und ein Phänomen wie „Wachstum“ ist in historischer Perspektive wohl noch komplexer als bei den Pflanzen. Was geschieht nun in den vielen Fällen, bei denen es nicht gelingt, den ökonomischen und politischen Wachstumsengpass durch etwas mehr und anders zusammengesetzte Dünger zu beseitigen, weil der Organismus sich gar nicht in einem Engpass, sondern in einer Sackgasse befindet. In einem Engpass hilft die Strategie „more oft he same“ weiter. In einer Sackgasse ist „more of the same“ verheerend, weil sie zum sinnlosen Kräfteverschleiss führt.

In einer Sackgasse muss man umkehren und die Richtung, das heisst die Methode wechseln. Ein grosser Teil der politischen Fehlentwicklungen und Krisen beruhen darauf, dass man alle Probleme wie Engpässe behandelt und zu wenig Bereitschaft zeigt, Sackgassen zu erkennen, umzukehren und die Methode zu wechseln. Zwar wird in der Politik häufig von der Notwendigkeit einer Wende geredet, vollzogen wird sie aber sehr selten. Sie kennen möglicherweise das folgende Gebet, dessen Ursprung nicht voll geklärt ist:

„Herr, gib mir die Kraft, die Dinge zu ändern, die ich ändern kann und die Gelassenheit, die Dinge hinzunehmen, die ich nicht ändern kann und die Weisheit, beides voneinander zu unterscheiden.“

Abgewandelt auf Engpässe und Sackgassen müsste das Gebet wie folgt lauten:

„Herr, gib mir die Kraft, bei Engpässen beharrlich weiterzukämpfen, und den Mut in Sackgassen umzukehren und die Weisheit Engpässe und Sackgassen voneinander zu unterscheiden.“

Auch die heutige Sozialpolitik befindet sich nicht in einem Engpass, sondern in einer Sackgasse. Der sozialpolitische Hick-Hack der Tagespolitik besteht darin, dass man links „more of the same“ fordert und rechts „less oft he same“. Die Intelligenten unter den Linken, wissen, dass sie damit lediglich den Kollaps hinauszögern, und die Intelligenten unter den Rechten wissen, dass sie als Bremser in einem Staat, bei dem eine Mehrheit vom heutigen System profitiert und abhängig ist, ihre Popularität riskieren. Dies führt zu einer fatalen Konkordanz des konzeptlosen sozialpolitischen Weiterwurstelns. Für den Weg aus der Sackgasse braucht zwei politische Strategien: eine Strategie des geordneten Rückzugs aus Fehlstrukturen und eine klare Vorstellungen über die Richtung, die man zu einem späteren Zeitpunkt einschlagen sollte. Ein fertiges Konzept einer funktionierenden Sozialpolitik gibt es m.E. nicht. Es muss auf dem Subsidiaritätsprinzip beruhen und durch Versuch und Irrtum in kleineren Strukturen immer wieder neu ermittelt werden. Wenn jeder für sich sorgen würde, wäre für alle gesorgt. – Chacun pour soi, Dieu pour tous. In der real existierenden Welt gibt es aber immer vielfältige Ausnahmen von dieser Regel, und wer diese ausblendet, landet beim blanken Zynismus. Gegenseitige Hilfe und Unterstützung sind ein Bestandteil der Arbeitsteilung, die auch im sozialen Bereich Frieden und Wohlstand ermöglicht. Liberale sind nicht grundsätzlich gegen Sozialhilfe, auch nicht grundsätzlich gegen jede staatliche Sozialhilfe, aber sie muss auf jeden Fall – im Interesse der Hilfebedürftigen und der Helfenden – drei Voraussetzungen erfüllen:

  1. Sie muss subsidiär sein, d.h. als Ausnahme und nicht die Regel konzipiert sein.
  2. Sie muss grundsätzlich zeitlich befristet sein.
  3. Sie muss personenbezogen, zwischen natürlichen Personen und durch non-zentrale möglichst lokale Formen der Verteilungsorganisation erfolgen.

Umverteilung und Sozialpolitik sind seit Jahrzehnten und zum Teil sogar seit Jahrhunderten Bestandteil aller politischen Systeme. Umverteilung und Sozialpolitik können daher nicht abrupt abgeschafft werden. Sie sollen zunächst plafoniert, dann saniert und schliesslich auf eine nachhaltige Basis gestellt werden. Das Grundproblem besteht darin, dass die Sozialpolitik durch Umverteilung im kriegs- und krisengeschüttelten 20. Jahrhundert (mit jeweils plausiblen und konsensfähigen Begründungen) in einem Ausmass ausgebaut worden sind, das sie die finanziellen Grundlagen des Systems sprengt und nachhaltig nicht mehr praktizierbar ist. Man hat die Ausnahme zur Regel gemacht und kann das nicht nachhaltig finanzieren. Wer angesichts dieser Prognose einen Totalausstieg aus der Umverteilung fordert und die Sozialpolitik zur privaten Fürsorge zurückführen möchte, hat zwar theoretisch nicht Unrecht, aber seine Forderungen sind nicht konsensfähig und haben in einer Demokratie keine Chance. Man muss die Umverteilung als politische Förderung eines Suchtverhaltens erkennen, dem eine demokratische Gesellschaft erliegt, wenn, wie dies heute der Fall ist, eine Mehrheit auf der Empfängerseite steht. Es ist eine Tatsache dass in der Politik als ganze heute nicht mehr die Garantie einer freiheitlichen Ordnung im Zentrum steht, sondern der sozialpolitische Ausgleich zwischen Arm und Reich, den man in der bürgerlichen Terminologie auch die „Herstellung der Chancengleichheit“ nennt. Es gibt kaum mehr einen Politikbereich, der nicht auch mit Umverteilung verbunden wäre. Die Sozialpolitik ist als solche nicht nur zum wichtigsten und teuersten und am schnellsten wachsenden Politikbereich geworden, sie hat als Pandemie fast alle andern Politikbereiche infiziert. Heute ist die gesamte Politik immer auch ein wenig Sozial- und Umverteilungspolitik. Das so genannte Giesskannenprinzip beherrscht das Feld. Das Negativbild der Giesskanne, das traditionellerweise einer gezielten Sozialhilfe (Targeting) gegenübergestellt wird, ist meines Erachtens nicht gut gewählt. Mit der Giesskanne kann man nämlich doch recht gezielt jene Pflanzen wässern, die es besonders nötig haben. Besser wäre das Negativbild von einem Sprinkler, der dauernd läuft, öffentliche Mittel wie Wasser ausschüttet und ohne auf die Jahreszeit und auf die spezifischen Feuchtigkeitsbedürfnisse der Pflanzen zu achten, schliesslich alles in einen Sumpf verwandelt.

Im Gesundheitswesen wird umverteilt.

In der Bildungspolitik wird umverteilt.

Beim öffentlichen Verkehr wird umverteilt.

ln der Landwirtschaftspolitik wird umverteilt.

In der Medien- und Kulturpolitik wird umverteilt.

In der Regional- und Strukturpolitik wird umverteilt.

Die Ordoliberalen unterscheiden subtil zwischen marktgerechten und nicht-marktgerechten Regulierungen und Subventionen. Diese Unterscheidung ist problematisch, weil sie uns mit dem so genannten Förderungsparadox konfrontiert. Man kann zwar nach einer Alphabet-Skala A, B, und C, fördern, weil sie den Förderungskriterien entsprechen und D bis Z nicht. Ob sich aber zwischen D und Z, selbst nach denselben Kriterien, nicht ebenso Förderungswürdige befinden, ist eine offene Frage. Dasselbe gilt bei Restriktionen nach dem Massstab der volkswirtschaftlichen Schädlichkeit. In vielen Fällen ist die Vermeidung einer kurzfristigen Schädlichkeit mittel- und langfristig schädlicher als das Laisser-faire. Die sozialpolitischen Komponenten aller Politikbereiche müssen analysiert und isoliert werden. Wir müssen besser wissen, welche öffentlichen Subventionsströme und Investitionsströme welchen Nutzniessern tatsächlich zugute kommen. Dafür gibt es drei Lösungsansätze, die weltweit diskutiert werden:

Erstens: Die Ersetzung der gesamten Sozialpolitik durch ein allgemeines Bürgergeld bzw. durch eine negative Einkommenssteuer (Milton Friedman). Das ist eine radikale Forderung, die auf den ersten Blick nicht gleich als etatistisch und freiheitsfeindlich abgetan werden sollte. Sie wäre Gegenstand eines eigenen Vortrags. Ich halte das Konzept des „bedingungslosen Grundeinkommens“, auch „Bürgergeld“ genannt, wenn es wirklich konsequent umgesetzt würde, auch aus liberaler Sicht für interessant, aber für äusserst utopisch. Es würde zu einer totalen Umkrempelung aller traditionellen Politikbereiche führen. Wenn es über Mehrwertsteuern zu finanzieren wäre, müssten diese eine Höhe erreichen, die zu vielfältigen Strategien der Steuervermeidung verleiten. Deren Folgen sind nicht abschätzbar. Wenn es nur als Teillösung realisiert wird, ersetzt man die bestehende Sozialpolitik durch einen zusätzlichen Umverteilungsapparat: Das ist das Letzte, was wir heute brauchen.

Zweitens: Die Privatisierung der gesamten öffentlichen Dienste. Der gesamte Bereich der sozialpolitisch motivierten Vergünstigungen würde entweder wegfallen, oder durch ein System von Subjekthilfen ersetzt. Dies würde eine Rückkehr zum Staat als Hort des Rechts und der kollektiv garantierten Nothilfe mit sich bringen. Aus liberaler Sicht wäre dies ein höchst wünschenswertes Ziel. Aber ist es realistischerweise konsensfähig? Die bisherigen Erfahrungen mit der generellen Privatisierung sind nicht durchwegs positiv. Privatisierung ist ihrem Wesen nach nichts anderes als ein Verkauf öffentlicher Unternehmen an Private, die möglicherweise längerfristig zwar besser, möglicherweise aber auch kurzfristig schlechter wirtschaften, Als Liberale müssen wir uns davor hüten, zu behaupten, Private würden in jedem Fall und sofort bessere und günstigere Dienstleistungen erbringen als gut geführte öffentliche Dienstleistungsunternehmen.

Drittens: Der schrittweise Übergang zur Benutzerfinanzierung aller öffentlichen und sprinkler-subventionierten Infrastruktur-Angebote und zur Entmonopolisierung durch die Ermöglichung privater Konkurrenz. Das könnte bei Bildung, Verkehr, Gesundheit und Kultur funktionieren und ist nicht allzu weit von dem entfernt, was in Ansätzen bereits praktiziert wird. Dieses Vorgehen ermöglicht eine Strategie des geordneten Rückzugs. Man kann von allen Benützern volle Preise verlangen und gleichzeitig jenen, die auf die Dienstleistung angewiesen sind, sie aber nachweisbar nicht mehr bezahlen könnten, durch Direktzahlungen subsidiär und temporär unter die Arme greifen. Solche Direktzahlungen haben nicht den Charakter eines Almosens, sondern sind eine Investition ins Humankapital. Das ist für einen geordneten Rückzug aus den heutigen Fehlstrukturen und für einen Übergang zu einer zivilgesellschaftlichen Sozialpolitik entscheidend. Gezielte personenbezogene Investitionen sollen an die Stelle von Pauschalsubventionen an bürokratische Institutionen treten. Auch dieses Rezept ist kein Sonntagsspaziergang. Ich meine aber, es lohne sich, es weiter zu entwickeln. Das vorgeschlagene Rezept der konsequenten Benutzerfinanzierung in Kombination mit einem Konzept der gezielten Sozialpolitik durch Subjekthilfe hat auch eine zukunftsträchtige ökonomische Komponente. Sie hat das Potenzial, im Dienstleistungsbereich (vor allem bei Gesundheit und Bildung) mehr private Arbeitsmöglichkeiten zu schaffen.

Reflexion 2: Wo liegen die Spielräume jenseits von Engpässen und Sackgassen?

Entscheidend für die Zukunft der selbstbestimmten Arbeitsteilung ist, dass die an sich expansionsfähigen qualifizierten Dienstleistungsmärkte nicht weiterhin als „öffentliche Dienste“ („service public“) einer zunehmenden Kontingentierung und Rationierung ausgeliefert werden. Gesundheit und Bildung sollen in Zukunft nicht mehr als rationiertes und subventioniertes staatliches Angebot bereitgestellt werden. Sie sollen sich vielmehr zu Kernbereichen einer florierenden Dienstleistungsökonomie entwickeln können. In beiden Bereichen ist heute die Balance von Angebot und Nachfrage massiv gestört, was zu einer Fehl- und Unterversorgung führt. Die Menschen des 21. Jahrhunderts werden durch staatliche Bildungsinstitutionen geschleust, die aus dem 19.Jahrhundert stammen. Wenn noch mehr öffentliche Mittel, die in die grossen Kassen dieser planwirtschaftlich strukturierten Institutionen fliessen, fördert dies lediglich die Verschwendung und die Bürokratisierung. Das Angebot soll sich marktwirtschaftlich durch eine Nachfrage weiterentwickeln, die auf der Bereitschaft potenzieller Nutzniesser basiert, dafür den entsprechenden Preis zu bezahlen. Sozialpolitisch motivierte staatliche Mittel wären nicht Top-down über die Institutionen, sondern Bottom-up über die Benützer einzuspeisen und die direktsubventionierten Benützer hätten den Beweis zu erbringen, dass sie die Voraussetzung für die Investition öffentlicher Mittel erfüllen. Dies würde in allen Infrastrukturbereichen einer Fehl- und Unterversorgung und einer verschwenderischen Nutzung entgegenwirken und im Dienstleistungsbereich neue vielfältige Arbeitsmöglichkeiten eröffnen.

Reflexion 3: Vertrauen in die kreative Dissidenz der Jugend

Das entscheidende für die Zukunft der Zivilgesellschaft ist aber die nächste Generation, der qualifizierte Nachwuchs bei den ökonomisch, politisch, kulturell und sozial engagierten jungen Leuten. Deren Qualität misst sich nicht am Ehrgeiz, möglichst rasch Erfolg zu haben, sondern an der langfristigen Perspektive für eine politische und wirtschaftliche Zukunft, in der sich das Lernen und das Leisten lohnt und in der es genügend Spielräume gibt, um dem eigenen Leben nach eigenen Vorstellungen einen Sinn zu geben. Ich glaube, dass es diesen qualifizierten Nachwuchs gibt, der sich immer mehr bewusst ist, dass wir die politischen Probleme allein durch Weiterwursteln und neue Kompromisse und „dritte Wege“ nicht mehr lösen können. Es wächst nach meinen Beobachtungen eine junge erfreulich unideologische Generation heran, die nicht in erster Linie Ansprüche stellt und nach mehr sozialer Gerechtigkeit strebt, sondern nach weniger Regulierung, nach einer Ordnung die offener ist und in der sich nicht alle gegenseitig dauernd dreinreden, nach informellen Kommunikationsnetzten, die nicht fesseln, sondern gegenseitig bereichern, kurz: nach mehr Freiheit, nach mehr Spielräumen eigenständiger Lebensgestaltung, weniger Zwangssparen und weniger Bevormundung. Ich traue ihr zu, in Sackgassen umzukehren und bei Engpässen durchzuhalten und die beiden Situationen voneinander zu unterscheiden, – nicht ohne Fehler, aber mit der ständigen Bereitschaft zum Lernen. Es ist zwar keine Mehrheit, die so denkt und fühlt, aber das ist auch gar nicht nötig. Bekannt ist das eher pessimistische aber sehr realitätsnahe Zitat von Hölderlin:

„Das hat den Staat zur Hölle gemacht, dass ihn der Mensch zu seinem Himmel machen wollte.“

Ich schliesse ebenfalls mit Hölderlin, nicht kritisch analytisch, sondern tröstend optimistisch: „Wo Gefahr ist, wächst das Rettende auch“.

Zum Referenten:

Robert Nef, geboren 1942, lic. iur der Universität Zürich, leitete von 1979 bis 2007 das Liberale Institut in Zürich und ist heute Präsident des Stiftungsrates. Er präsidiert auch die Stiftung für Abendländische Ethik und Kultur in Zürich. Von 1991 bis 2008 war er Mitherausgeber und Redaktor der Schweizer Monatshefte. Er publizierte mehrere Bücher und zahlreiche Aufsätze und Artikel zu politischen Grundsatzfragen in Fachzeitschriften, Sammelbänden und Tageszeitungen. Er ist Mitglied der Mont Pèlerin Gesellschaft und die Friedrich August von Hayek Gesellschaft würdigte seinen konsequenten Einsatz für liberale Werte 2008 mit der Verleihung der Hayek-Medaille. Robert Nef wohnt in St. Gallen, ist verheiratet und Vater von zwei erwachsenen Söhnen und Grossvater einer Enkelin.

Zum Text:

Der Text basiert auf dem gleichnamigen Vortrag, den Robert Nef als Redner auf dem 1. deutschsprachigen libertären Jahrestreffen „Große Freiheit 01“ in Hamburg am 12. Juni 2010 gehalten hat.

Weiterführende Literatur:

Nef, Robert: Politische Grundbegriffe, Auslegeordnung und Positionsbezüge, NZZ-Verlag, Zürich 2002.

Das Liberale Institut:

Das 1979 gegründete Liberale Institut verfolgt das Ziel der Erforschung freiheitlicher Ideen. Das Institut fördert die Schweizer Tradition und Kultur individueller Freiheit, des Friedens, der Offenheit und politischen Vielfalt und setzt sich für eine Weiterentwicklung der liberalen Geistestradition ein. Als unabhängige, privat finanzierte Stiftung beteiligt sich das Liberale Institut bewusst nicht an der Parteipolitik. Es befasst sich hingegen mit den grundlegenden politischen Fragen der Gegenwart und der Zukunft und bereichert damit die Debatte mit zivilgesellschaftlichen und marktwirtschaftlichen Perspektiven. Dabei kooperiert es schweizweit und international mit zielverwandten Organisationen. Im Rahmen seiner Veranstaltungen, Publikationen und Fachinitiativen befasst sich das Liberale Institut mit aktuellen Fragen, unter anderem des Umweltschutzes, der Finanzkrise und der Verschuldungskrise. Interessentinnen und Interessenten haben die Möglichkeit regelmässig zu den Veranstaltungen eingeladen zu werden und können sich in frei wählbaren Beitragskategorien an der Finanzierung beteiligen. Weitere Informationen: http://www.libinst.ch/

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