(Schweizer Monat – Dossier: «Stop – mein Konto!» – Ausgabe 976 – März 2010)
Anonymität wird mit dunklen Geschäften assoziiert. Und mit rechtlichem Graubereich. Zu Unrecht. Ohne Anonymität wäre die heutige Grossunternehmung nicht denkbar.
Die Schweizer mögen Bargeld. Wer – natürlich aus gebührend diskreter Distanz – die Gesichtszüge von Geldautomatenbenützern studiert, stellt fest, dass die Verwandlung von Plasticgeld in Banknoten eine gewisse Befriedigung auslöst. Da kommt tatsächlich bares Geld aus dem Schlitz, und das ist nun «mein Geld». Der Automat verwandelt Geld in mein Geld, wenn ich ihn mit den richtigen Daten füttere. Wer diese Handlung selbst schon einmal in Begleitung eines neugierigen Kindes vollzogen hat, weiss um die Schwierigkeiten, die mit der Erklärung dieses technisch an sich einfachen Vorgangs verknüpft sind.
Tatsächlich spielt sich da etwas ab, das nicht nur mit einer komplexen elektronischen Infrastruktur, sondern auch mit einem erheblichen rechtstheoretischen und ökonomischen Erklärungsbedarf verbunden ist. Man löst Bestandteile seines Vermögens aus einem vertraglichen Netzwerk mit der Bank und dem Kreditkartenunternehmen heraus und verwandelt multilaterale Vertragsbeziehungen in eine räumlich isolierte Sache, deren Besitz man gegenüber jedermann geltend machen kann. Wo vorher lediglich Verpflichtungen zwischen Personengruppen waren, entsteht Besitz, und man wird gegenüber jedermann uneingeschränkter Herr der Sache.
Das Gewicht zwischen den zwei tragenden Säulen des Privatrechts (Eigentum und Vertrag bzw. Haftung) wird verlagert. Dabei entstehen plötzlich unendlich viele neue, eigenständige Tauschmöglichkeiten: Bargeld ist tatsächlich gemünzte Freiheit, indem es dem Besitzer alle Optionen eröffnet, die gegen Geld zu haben sind. Zudem werden die Spuren der Herkunft unterbrochen: eine Anonymisierung als Entpersönlichung und Versachlichung. Der Bezug des Geldes ist zwar registriert, was aber danach dagegen getauscht wird, entzieht sich der elektronischen (und damit auch der fiskalischen) Fremdkontrolle.
Mit Bargeld (wie auch mit andern Inhaberpapieren) gerät ein Individuum buchstäblich «ausser Kontrolle». Daher erstaunt es nicht, wenn heute von verschiedensten Bevormundungs- und Überwachungsinstanzen mit unterschiedlichsten Motiven ein eigentlicher Feldzug gegen die Barzahlung geführt wird. Da man in der Schweiz, anders als in den USA, einige Mühe hat, dem Konsumenten im Alltag die Verwendung von Bargeld abzugewöhnen, haben die Grossverteiler andere Formen der elektronischen Kontrolle des individuellen Konsumverhaltens entwickelt. Mit der Kundenkarte kann gegen Gewährung kleiner Vergünstigungen der Konsum auch bei Barzahlung erfasst werden. Damit verliert der Kunde seine Anonymität.
Viele mögen dies unbedenklich finden oder sogar eine Chance zur Verbesserung des Kundendienstes wittern. Andere nehmen aber die Warnung von Datenschützern ernst, wonach der Konsument auch legitime persönliche Gründe dafür haben kann, dass seine Daten nicht allgemein transparent werden. Vor allem die Weitergabe an Straf- und Steuerbehörden, die mit angeblich überwiegenden öffentlichen Interessen, wie der Bekämpfung von Terrorismus und Steuerflucht, schnell einmal gerechtfertigt werden können, widersprechen dem Gebot des Persönlichkeitsschutzes. Wer wann was und wo konsumiert hat, geht eigentlich niemanden etwas an.
Je direkter der Bezug einer Person zu einer Sache ist, desto klarer sind die Eigentumsverhältnisse und desto leichter wird das Erzwingen und Vollstrecken einer Forderung. Klare und nichtanonyme Zuordnung von Personen und Sachen, also eindeutig definierte Eigentumsverhältnisse, ist Grundvoraussetzung einer funktionierenden Marktwirtschaft, weil man ja nur über das unbeschränkt verfügen kann, was einem wirklich ganz gehört.
Neben diesem permanenten, allseitigen Hang zur Schaffung klarer Eigentumsverhältnisse, welcher der Anonymität zuwiderläuft, gibt es im Wirtschaftsverkehr ein zweites, konkurrierendes Grundbedürfnis, nämlich dasjenige der Wahrung der Privatsphäre: das Recht, in Ruhe gelassen zu werden, das man auch als «Eigentum an der eigenen Person» definieren könnte. Während Dritte ein Interesse haben mögen, den Eigentümer, d.h. den Herrn über eine Sache, persönlich zu kennen, gibt es Situationen, in denen der Eigentümer daran gerade nicht interessiert ist, Einblick in seine persönlichen Verhältnisse zu gewähren. Seine Freiheit, spontan das zu tun und zu lassen, was ihm beliebt, soll nicht durch eine permanente Beobachtung möglicher Optionen beeinträchtigt werden.
Die Forderung nach Transparenz und nach einem Wissen, wer es denn letztlich mit wem zu tun habe, ist wahrscheinlich die ursprünglichere, die «dörflichere» Form der Eigentümergesellschaft, und die gegenseitige Gewährung einer möglichst grossen Privatsphäre die urbanere, global geöffnete. Im Dorf wird Eigentum vorwiegend vererbt oder für alle sichtbar verkauft. Es ist in erster Linie Erb und Eigen. In der Stadt hingegen ist das Eigentum darum attraktiv, weil es als flüssiges Vermögen möglichst viele Optionen für Investitionen (auch über alle Grenzen hinweg) öffnet, bei denen eine gewisse Anonymität von erheblichem Vorteil ist.
Diese zwei unterschiedlichen Auffassungen zum Stellenwert von Privateigentum und Privatheit haben im 20. Jahrhundert zu innerliberalen Diskussionen um die Weiterentwicklung personenbezogener Gemeinschaften von Privateigentümern auf der einen Seite und kapitalbezogener anonymer Grossgesellschaften auf der andern Seite geführt. Wilhelm Röpke hat vor allem das Konzept von «Erb und Eigen» vertreten, während Friedrich August von Hayek die zunehmende Bedeutung der weltweiten anonymen Grossgesellschaft erkannt hat (er vermied bewusst den im Deutschen negativ gefärbten Begriff «kapitalistisch»).
Der von Hayek subtil beobachtete kulturhistorische Trend zur Entpersönlichung hat mindestens zwei praktische Triebfedern. Das Verwirklichen ökonomischer Grossprojekte ist nur dann möglich, wenn die Unternehmer und die Investoren das Risiko des Scheiterns teilen, was in verschiedenen Rechtskulturen zum Entstehen von Kapitalgesellschaften mit beschränkter Haftung geführt hat, und zur Société Anonyme, wie die Aktiengesellschaft auf französisch genannt wird. Es entstehen komplizierte Konstruktionen gestaffelter und geteilter Solidarität, bei der – nicht nur in letzter Zeit – auch die öffentliche Hand oft mit hineingespielt hat. Das gesamte nationale und internationale Gesellschafts- und Handelsrecht ist der permanente Versuch, diese Formen der Risikoteilung funktionsfähig (und auch besteuerungsfähig) zu normieren.
Eine weitere Triebfeder der Anonymisierung ist direkt damit verknüpft, hat aber andere Ursachen. Es geht dabei nicht um das Urbedürfnis der Haftungsbegrenzung, sondern um das Bestreben, finanzielle Forderungen vom ursprünglich persönlichen Netzwerk zwischen Gläubiger und Schuldner zu lösen und damit handelbar zu machen. Das Wesensmerkmal einer Sache ist ihre Isolierbarkeit (ohne Schädigung eines Gesamtzusammenhangs), und die Schaffung einer mindestens relativen Isolierbarkeit von Schulden hat zum Entstehen vielfältiger Wertpapiere und Derivate geführt, deren verklausulierte Sicherheiten und Risiken man als Laie kaum mehr zu überblicken vermag.
Der Nutzen der Entpersönlichung ist zu sehen in einer neuen, grossen Welle von Geldschöpfung unter Privaten, einer Flexibilisierung des Zahlungsverkehrs und der Förderung des technischen Fortschritts durch Bereitstellung von Risikokapital. Ihr Preis ist der Verlust der Übersicht über tatsächliche Eigentumsverhältnisse. Wenn ein Netzwerk anonymer Grossgesellschaften untereinander so komplex mit Schulden vernetzt ist, kann es geschehen, dass der Konkurs der einen Unternehmung alle anderen mit in den Abgrund reisst. Zudem sind über Zwangssparsysteme auch Kleineigentümer und Rentner mit von der Partie, sodass der anonyme Kapitalismus definitiv das ökonomische Schicksal aller bestimmt.
Eine Rückkehr zu Röpkes Idylle einer personenbezogenen mittelständischen Eigentümerwirtschaft ist angesichts der heutigen Globalisierung utopisch. Möglicherweise ist Röpke aber für die Organisation der politischen Gemeinschaft auf der richtigen Spur gewesen: es geht um jenen politischen Non-Zentralismus, bei dem die Betroffenen und Beteiligten die Machtausübung und die Umverteilung kontrollieren können, weil sie sich persönlich kennen. Und wenn die Politik ihre Flucht in die Entpersönlichung und Versachlichung auf höherer Ebene überwindet, schwindet hoffentlich auch der Druck auf die Unternehmungen, immer grösser und anonymer zu werden.
Robert Nef
ist Publizist und Autor, Mitglied der Mont Pèlerin Society sowie der Friedrich August von Hayek-Gesellschaft. Nef war von 1991 bis 2008 Redaktor und Mitherausgeber der «Schweizer Monatshefte». Er lebt als freier Publizist in St. Gallen.
Quelle: https://schweizermonat.ch/grosse-gute-anonyme-gesellschaft/