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Begrenzung der Demokratie durch Begrenzung der Politik

Lesedauer: 4 Minuten

(NZZ – MEINUNG & DEBATTE – Mittwoch, 13. Januar 2010, Nr. 9, Seite 21)

Die Frage, ob sich Demokratie mit Freiheit und mit dem Rechtsstaat verträgt, ist falsch gestellt. Es geht nicht um die Schranken der Demokratie, sondern um die Schranken der Regierungsgewalt. Je mehr Lebensfragen via Politik und Zwang gelöst werden sollen, desto fragwürdiger wird das Mehrheitsprinzip.

Eine lebendige und freie Gemeinschaft beruht auf dem friedlichen Wettbewerb in Vielfalt und nicht auf dem durch das Mehrheitsprinzip legitimierten Zwang. Staatlicher Zwang, und vor allem der Zwang zum Guten, oder zu dem, was eine Mehrheit für gut hält, macht Vielfalt zur Einfalt und hat insgesamt eine auch für die Gemeinschaft destruktive Wirkung. Der Gegenpol zum allgemeinverbindlichen Zwang ist der individuell vereinbarte Tausch, der unter Wettbewerbsbedingungen das Lernen, Entdecken und Erfinden ermöglicht. Er bildet die Basis des Wirtschaftsliberalismus, der seinerseits auf eine freiheitliche Rechtsordnung mit beschränkter Zuständigkeit für den Erlass von Zwangsnormen und Zwangsabgaben angewiesen ist. Der Markt als Ort und Prinzip des Austauschs wird von vielen tonangebenden Intellektuellen immer noch mit Materialismus oder gar mit reiner Geldgier in Verbindung gebracht, und der Wettbewerb gilt vielerorts als Motor einer aggressionsfördernden Ellbogengesellschaft.

Die Überbewertung des Politischen

Ethik und Moral werden irrtümlicherweise primär mit allgemeinverbindlichen Vorschriften, Umverteilung und Zwangsregulierung in Verbindung gebracht und nicht mit jenen Lernprozessen zur gegenseitigen Verträglichkeit, die in der Familie und in privat-autonomen Vereinbarungen stattfinden. Während der ökonomische Bereich pauschal dem individuellen Gewinnstreben zugeordnet wird, geniesst die Politik, spätestens seit der Französischen Revolution, den Ruf einer Institution zur Förderung des Gemeinwohls. Dies führt zu einer aus liberaler Sicht ungerechtfertigten Überbewertung des Politischen und Staatlichen. Der Staat ist als Inhaber des Zwangsmonopols kein Selbstzweck, sondern als Hort des allgemeinverbindlichen Rechts ein notwendiges Übel zur Gewährleistung des friedlichen Zusammenlebens.

Die Wirtschaftskrise ist als Folge von zu wenig Schranken und zu wenig Politik gedeutet worden. Eine sorgfältigere Analyse zeigt nun aber, dass die Ursachen tiefer liegen: Fehl- und Überregulierungen begünstigten eine Ökonomie, die statt der Realität ein immer absurderes Netzwerk von nationalen und internationalen wirtschaftspolitischen und steuerlichen Randbedingungen bewirtschaftet hat und dabei in kollektiver Blindheit fast weltweit in eine Krise schlitterte.

Demokratie bleibt nur als beschränkte Demokratie problemlösungsfähig, und das gilt sowohl für die direkte als auch für die indirekte Demokratie. Die indirekte Demokratie ist, was die Überbewertung der Politik anbelangt, sogar noch gefährlicher, weil sich dort die professionellen und halbprofessionellen Politiker tummeln, die sich für den Nabel der Welt halten, und suggerieren, sie könnten weltweit alle Probleme durch mehr Politik, mehr Machtausübung und mehr Besteuerung lösen.

Wenn das Mehrheitsprinzip lediglich dazu missbraucht wird, unliebsame Lösungsvarianten auszuschalten, degeneriert es zur Herrschaft der jeweils tonangebenden Populisten. Demokratie kann gerade nicht dadurch erhalten werden, dass man immer «mehr Demokratie wagt» und immer mehr Probleme via Politik lösen will. Im Gegenteil, man muss es wagen, den Staat insgesamt und damit auch das Mehrheitsprinzip in engere Schranken zu weisen und in kleinere Einheiten zu gliedern.

Was heute nottut, ist nicht die Ersetzung von Volksentscheiden durch Entscheide von Berufspolitikern und Richtern, die erfahrungsgemäss möglicherweise anders, aber insgesamt nicht weniger irren, sondern die Ersetzung von zentralen, schwer korrigierbaren Kollektiventscheiden durch nonzentrale, konkurrierende Entscheide auf der unterstmöglichen Stufe. Dort ist ein permanentes Lernen und Anpassen möglich, dort sind auch Irrtümer relativ unschädlich und leicht korrigierbar.

Teufelskreis

Über ein Minarettbauverbot, das heisst über ein bau- und planungsrechtliches Problem, hätte man, wenn überhaupt, auf kommunaler oder kantonaler Ebene abstimmen sollen. Dies bedingt aber, dass den kleineren politischen Einheiten ein grosser Spielraum an politischem Ermessen zugebilligt wird, in das zentralistische richterliche Instanzen nicht eingreifen können. Die Subsidiarität muss auch in der Auslegung dessen, was als autonomer politischer Entscheid und was als Diskriminierung zu gelten hat, respektiert werden. Bei genauerem Hinsehen hat nämlich je nach Gesichtspunkt fast jeder Mehrheitsentscheid – ja, jeder Entscheid – irgendeine Diskriminierung zur Folge, die ihn bei einer zentraleren Instanz anfechtbar macht.

Jede unbeschränkte und zentral praktizierte Demokratie wird sich letztlich selbst zerstören, weil sie in den Teufelskreis von immer mehr Umverteilung und immer mehr Verboten gerät. Dies alles ist kein Anlass, die Demokratie durch eine Herrschaft von Experten, Technokraten und Richtern abzulösen. Wer jetzt in unserem Land die halbdirekte Demokratie, in der Volks- und Ständemehrheiten entscheiden, durch eine höchstrichterlich und international «gezähmte» repräsentative Demokratie ersetzen will und glaubt, damit dem Links- und Rechtspopulismus einen Riegel schieben zu können, macht den Bock zum Gärtner. Die Lösung ist das gemeinsame bewegliche Lösen von gemeinsamen Problemen auf möglichst lokaler und kantonaler Stufe sowie das, was der Wirtschaftsnobelpreisträger F. A. von Hayek in seinem Zürcher Vortrag schon vor 30 Jahren postuliert hat: «Die Entthronung der Politik». Dann wird direkte Demokratie wieder sinnvoll praktizierbar: «Die schweizerische Einrichtung der Volksabstimmung hat viel dazu beigetragen, sie vor den schlimmsten Auswüchsen der sogenannten repräsentativen Demokratie zu schützen. Aber wenn die Schweizer ein freies Volk bleiben wollen, müssen wohl auch sie in der Einschränkung der Regierungsmacht noch weiter gehen, als sie schon gegangen sind.»


Robert Nef ist freier Publizist. Er präsidiert den Stiftungsrat des Liberalen Instituts und war bis 2008 Mitherausgeber der «Schweizer Monatshefte».

(NZZ – MEINUNG & DEBATTE – Dienstag, 19. Januar 2010, Nr. 14, Seite 20)

Geringschätzung des Staates

Die Vorstellung, die Finanzkrise sei durch zu dichte gesetzliche Regulierungen verursacht worden, ist ja recht abenteuerlich und bedürfte dringend einer Begründung. Diese bleibt uns Robert Nef (NZZ 13. 1. 10) allerdings schuldig. Überhaupt finde ich es befremdlich, wie die Bedeutung des Staates von liberalen Marktwirtschaftsfreunden geringgeschätzt wird. Dabei ist es ja offensichtlich, dass sich Marktwirtschaft nur in einem funktionierenden Staat entfalten kann. Umso erstaunlicher ist die Wandlung der Kämpfer für einen «schlankeren» Staat, wenn es um Themen wie z. B. Patente oder Urheberrechte geht. Dann sind plötzlich ganz viele Gesetze gefragt und ein starker Staat, um die Interessen der Unternehmen durchzusetzen.

Daniel Heierli, Zürich

Schlagwörter:

Ein Gedanke zu „Begrenzung der Demokratie durch Begrenzung der Politik“

  1. Hubertus Hofkirchner, Wien

    Daniel Heierli, Zürich schreibt>> “Die Vorstellung, die Finanzkrise sei durch zu dichte gesetzliche Regulierungen verursacht worden, ist ja recht abenteuerlich und bedürfte dringend einer Begründung. Diese bleibt uns Robert Nef (NZZ 13. 1. 10) allerdings schuldig. ”

    SgHr Heierli, diese Begründung, die kausal problematischen Regulierungen. konnten 2010 unter Ökonomen als bekannt vorausgesetzt werden. z.B. die Basel I Recourse Rule und die durch Regulierungen verliehene realrechtliche Macht der oligopolistischen Rating-Agenturen. Dazu kommen steuergesetzliche Regelungen wie der Zinsabzug.

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