Präsentiert auf dem internationalen Kolloquium „Liberalismus und Kommunale Selbstverwaltung“ des Liberalen Instituts der Friedrich-Naumann-Stiftung für die Freiheit in Potsdam am 18. September 2009. Deutschsprachige Version des auf Englisch gehaltenen Vortrages.
Robert Nef ist Präsident des Stiftungsrates des Liberalen Instituts in Zürich und Mitglied weiterer liberaler europäischer Institutionen. Seine Forschungsschwerpunkte sind die Grundfragen des Liberalismus, des Föderalismus und des institutionellen Wettbewerbs. Er war Herausgeber verschiedener Zeitschriften, darunter des Magazins „Reflexion“ und der „Schweizer Monatshefte“. Neben einer Vielzahl von Veröffentlichungen zu Fragen des Liberalismus und der Kritik des Wohlfahrtsstaates ist er Autor des 2006 bei der Friedrich-Naumann-Stiftung für die Freiheit erschienenen Buches „Lob des Non-Zentralismus“.
Inhalt
Einleitung
- Die Schweiz als erfolgreiches Experiment
- Staatenbund, Bundesstaat und Zentralstaat
- Das Subsidiaritätsprinzip
- Föderalismus und Subsidiarität
- Umverteilung, Subsidiarität und Mehrheitsprinzip
- Die Zukunft der Subsidiarität
- Non-Zentralismus und Steuersystem
- Wege zum Steuerabbau
- Steuerwettbewerb und direktdemokratisch limitierte Besteuerung
- Wettbewerb als Entdeckungsverfahren und als Lernprozess
- Literaturhinweise
Einleitung
Lassen Sie mich mit einer kleinen Geschichte beginnen, die zeigt, wie in der Schweiz die kantonale und kommunale Autonomie in einer gelebten Tradition verankert sind. Ich kenne den Gemeindepräsidenten einer mittelgrossen Gemeinde in der Ostschweiz. Mit diesem Gemeindepräsidenten diskutierte ich kürzlich, ob die Schweiz der EU beitreten solle oder nicht, und da kam – typisch schweizerisch – die Rede auf die Kosten und Nutzen eines solchen Schritts. Wir waren uns einig, dass es gute Gründe gibt, um skeptisch zu sein. Etwas überraschend schloss er die Diskussion mit dem Hinweis, ein allfälliger Beitritt würde die Gemeindekasse ohnehin höchstens mit 15 Schweizerfranken (ca. 10 Euro) belasten. Ich fragte natürlich, warum er gerade auf 15 Franken komme. Er gab mir dazu folgende, durchaus einleuchtende Erklärung: „In meinem Büro stehen zwei grosse Papierkörbe für die eingehende Post, die ich nicht zu lesen pflege, weil ich besseres zu tun habe als unnütze Weisungen und Vorschriften zu lesen. In den einen Papierkorb werfe ich alles Papier, das mir die kantonale Regierung zustellt, in den andern werfe ich alles, was von „Bern“, d.h. von der Bundesregierung kommt. Wenn wir nun Mitglied der EU werden, brauche ich einen weiteren Papierkorb für alle Post aus Brüssel! Das wird mich etwa 15 Franken kosten, denn ich leiste mir einen schönen, grossen“. Natürlich hat er wohl etwas übertrieben, aber die Gemeindeautonomie, die auch einen Teil der Steuereinnahmen betrifft, ist die finanzielle Basis dieses Selbstbewusstseins, das ihm erlaubt, die übergeordneten Behörden bis zu einem gewissen Grad zu ignorieren. Das schweizerische Steuersystem ist dreistufig, und die Gemeinden erhalten direkt ca. einen Drittel der Einkommenssteuern. Das bedeutet, dass die Gemeinden über „eigene öffentliche Mittel“ verfügen. Sie können diese für die Finanzierung kommunaler Einrichtungen und Dienstleistungen verwenden, werden aber dabei von den Steuerzahlern beaufsichtigt, die identisch sind mit den Benützern und den Wählern, welche auch über Sach- und Finanzvorlagen an der Urne oder an der offenen Gemeindeversammlung durch Mehrheiten demokratisch abstimmen.
1. Die Schweiz als erfolgreiches Experiment
Für die administrative Organisation eines Staates gibt es keine wissenschaftlich definierbare ”beste Lösung”. Auch hier gibt es nur den Erfahrungsaustausch aufgrund verschiedener historischer Erfahrungen. Die Zeit, in der man immer wieder an das neueste ”Wundermittel” aus den USA glaubte, ist definitiv vorbei, und auch in Europa interessiert man sich zunehmend für alternative Lösungsmodelle.
Die Schweiz ist ein erfolgreiches Land. Wir hatten das Glück, von den beiden Weltkriegen des 20. Jahrhunderts verschont zu bleiben. Das Land figuriert in zahlreichen internationalen Ranglisten unter den ersten zehn, beispielsweise bezüglich Pro-Kopf-Einkommen, Lebenserwartung, Lebensqualität und Glück (sofern sich letzteres überhaupt sinnvoll messen und vergleichen lässt, was ich persönlich bezweifle).
Die Schweiz zählt 7,7 Millionen Einwohner, über 20 Prozent davon sind in den letzten 30 Jahren eingewandert. Insgesamt gibt es etwa 2000 Gemeinden und 26 Kantone unterschiedlichster Größe. Die kleinste Gemeinde zählt weniger als 100 Einwohner und die größte, die Stadt Zürich, mehr als 380 000.
Die Schweiz ist nicht Mitglied der EU, was meiner Ansicht nach sowohl für die Schweiz als auch für die EU von Vorteil ist. Wir kooperieren auf der Basis von bilateralen Verträgen und zahlen den Preis, nicht mitentscheiden zu können. Aber als ein kleines und reiches Land würden wir sowieso Gefahr laufen, ständig zu unseren Ungunsten überstimmt zu werden, vor allem wenn es um Umverteilung geht.
Der Markt ist eine „Schule ohne Lehrer“ und der wichtigste Markt ist der Handel mit Ideen. Auf diesem internationalen Markt ist es wichtig, Ideen und Erfahrungen auszutauschen und zwar sowohl über funktionierende als auch über nicht funktionierende Lösungen. Das ist wichtiger als jede internationale Vertragsbindung auf Regierungsebene.
Was ist das Geheimnis eines erfolgreichen Landes? Ich werde häufig eingeladen, über „The secrets oft he Swiss success“ zu referieren, ein Thema das vor allem in Asien interessiert. Ich meine, eines der Geheimnisse bestehe darin, dass es so etwas wie eine konstruktivistische Erfolgsformel gar nicht geben kann. Das wichtigste ist, dass man offen ist und bereit, von andern zu lernen und einen möglichst intensiven friedlichen Austausch zu pflegen mit dem Ziel, das aufgeklärte Eigeninteresse zu wahren, gegenseitig Verträge zu schließen und Freundschaften zu festigen. Der „richtige Weg“ kann auch in der Politik nur durch den Wettbewerb von Ideen, Modellen, Vorschlägen und Experimenten gefunden werden. Man muss stets Schüler bleiben und sollte nicht zu penetrant in der Rolle des Lehrers auftreten.
2. Staatenbund, Bundesstaat und Zentralstaat
Deutschland ist heute ein ziemlich zentralistischer Staat. Das ist eine Erfahrung, die uns aus jedem Bundesstaat vertraut ist, die USA und die Schweiz nicht ausgenommen. Es gibt den offenbar unaufhaltsamen Trend vom Bundesstaat zum Zentralstaat. Der Unterschied zwischen einem Staatenbund, einem Bundesstaat und einen Zentralstaat ist sowohl gradueller als auch prinzipieller Art.
Der Hauptunterschied zwischen Staatenbund und Bundesstaat besteht darin, dass ersterer das Recht zur friedlichen Sezession zulässt, was dazu führt, dass die Autonomie grösser und das Partnerschaftsverhältnis flexibler ist. Für den mächtigeren Partner ist es in der Regel vorteilhafter, Mitglied eines Bundesstaats zu sein als Mitglied eines Staatenbundes.
Aber einflussreichere und mächtigere Mitglieder einer Föderation tendieren nach noch mehr Einfluss und favorisieren den Zentralstaat mit einheitlicher Währung, einheitlichem Steuer- und Sozialversicherungssystem und einer Hauptstadt. Der Preis für diese Zentralisierung ist aber vor allem für die kleineren zu hoch. Eine mächtige Zentrale verliert schrittweise die Bereitschaft zur Kooperation, zum friedlichen Wettbewerb und schlimmstenfalls sogar zum inneren Frieden.
Die Schweiz hat den Weg vom lockeren auf komplexen vertraglichen Netzwerken beruhenden Bündnis zum Staatenbund und schließlich zum Bundesstaat beschritten. Dabei konnte vermieden werden, dass ein einziger Gliedstaat dominierend wurde. Die erste Phase dauerte 500 Jahre, die zweite Phase 50 Jahre (1798 -1848) und die letzte bis jetzt 150 Jahre.
Die Schweizerische Bundesverfassung ist mehr oder weniger eine Kopie der Verfassung der Vereinigten Staaten. Es gibt immerhin mindestens drei wichtige Unterschiede. Wir verzichten auf einen mächtigen Präsidenten und praktizieren (wie in der EU) das Rotationsprinzip. Der Bundespräsident versieht sein Amt als „primus inter pares“ d.h. als ein Mitglied der 7-köpfigen Kollegialregierung und wechselt jedes Jahr, sodass viele Schweizer gar nicht wissen, wer im Moment gerade Amtsinhaber ist.
Die Schweiz hat auch kein Bundesverfassungsgericht, das die Verfassungsmässigkeit von Bundesgesetzen überprüfen könnte. Anders als in den USA gibt es in den Kantonen und Gemeinden auch keine Bundesfunktionäre.
3. Das Subsidiaritätsprinzip
Nach dem Subsidiaritätsprinzip sind gemeinsame Probleme grundsätzlich auf der tiefstmöglichen Ebene zu lösen: auf der privaten und auf der kommunalen. Die höhere Ebene sollte nur auf Verlangen der unteren Ebene eingeschaltet werden, wenn diese nicht mehr in der Lage ist, das Problem zu lösen. Das Prinzip gehört zu den wichtigsten Grundregeln des Zusammenlebens in marktwirtschaftlichen, konföderalistischen und föderalistischen Systemen.
Das Subsidiaritätsprinzip ist seit seiner Verankerung im Amsterdamer Vertrag der EU in Europa ein Modethema. Alle reden davon und niemand weiss genau, was darunter zu verstehen ist. In der Schweiz gehört es zu den Grundprinzipien unserer Staatsorganisation, allerdings mit einer betont zentrumsskeptischen Spielart. Unter den gegenwärtigen Verhältnissen verlangt es eine Rückgabe von Kompetenzen an kleinere Gemeinwesen und an Private. Das Prinzip selbst basiert auf einer fundamentalen Unterscheidung von Individuum, Gesellschaft und Staat. Es ist das eigentliche Gegenprinzip zum Sozialismus und zum National- Sozialismus, die beide davon ausgingen, dass die große Gemeinschaft wichtiger sei als die kleine und das Individuum. Subsidiarität postuliert genau das Gegenteil: Individuelle Probleme brauchen individuelle Lösungen und die gemeinsame Lösung gemeinsamer Probleme muss im kleinstmöglichen Rahmen erfolgen.
4. Föderalismus und Subsidiarität
Subsidiarität ist tendenziell darauf angelegt, möglichst individuelle Lösungen oder Lösungen im möglichst kleinen Kreis zu suchen. Aber sämtliche Formulierungen ”im Zweifel”, ”möglich-nötig”, ”soweit fähig”, sind im höchsten Grad interpretationsbedürftig. Die Gefahr, dass das Prinzip durch Interpretation der Bedingungen, unter denen dann doch der übergeordnete Verband ”geeigneter” ist, zentralisierend angewendet wird, höhlt das Prinzip aus. Es gibt immer sogenannt „gute Gründe“ für zentralistischere Lösungen.
Zahlreiche Verfassungen garantieren eine möglichst ”einheitliche Verteilung” des Wohlstands und subventionieren Rand- und Problemgebiete. Das deutsche Grundgesetz fordert landesweit möglichst einheitliche Lebensbedingungen, und das ist wohl aus föderalistischer Sicht ein Schwachpunkt und zur Zeit einer der Gründe für die aktuellen Strukturprobleme der in den letzten 50 Jahren generell erfolgreichen Bundesrepublik. Die Förderung und die Umverteilung durch Regionalfonds, Strukturfonds und Subventionen gehört zu den wichtigsten und beliebtesten Funktionen des Zentralstaates. Politik degeneriert dann zu einem Gerangel um möglichst viele Subventionen. Deshalb bin ich als Liberaler gegenüber allen Arten von Umverteilung, aber speziell gegen interregionale Umverteilung, skeptisch eingestellt. Es lässt sich nachweisen, dass ein Teil der Steuergelder, die in die Peripherie als Unterstützungsmittel fließen, schließlich wieder in die Zentrale zurückkehren und im Effekt nur die Abhängigkeit der Peripherie von der Zentrale verstärken und den Wettbewerb verfälschen. Doch dies ist ein eigenes Thema, das ich hier nur antönen wollte.
5. Umverteilung, Subsidiarität und Mehrheitsprinzip
Gemeinwesen, die von einer Zentralen finanziert werden, sind in der Regel sowohl abhängig als auch korrumpierbar. In der Politik kommt es immer wieder zu Situationen, in denen Maßnahmen das Gegenteil von dem bewirken, was sie beabsichtigen und was von den Propagandisten behauptet wird. Das Subsidiaritätsprinzip wird dadurch sehr häufig bei der Anwendung in sein Gegenteil verkehrt, weil und immer wieder neue Argumente für die ”bessere” Zuordnung an zentralere und höhere Instanzen gefunden werden.
Noch schwieriger wird es, wenn man in Anwendung des Subsidiaritätsprinzips die Fähigkeit zur Problemlösung auch an der Finanzierbarkeit misst. Ein zentralisiertes Steuersystem, bei dem zunächst alle Steuergelder in die Zentrale geleitet werden, wird notwendigerweise eine ”Unfähigkeit” zur Erfüllung von Infrastrukturaufgaben untergeordneter Instanzen hervorbringen und praktisch eine Einbahnstraße zur Zentralisierung signalisieren. Es ist natürlich paradox, wenn man das zentralisierte Steuersystem aufrecht erhält und nur die Aufgaben dezentralisiert, ohne den Gemeinden und Gliedstaaten die nötigen Mittel zur Verfügung zu stellen. Diese perfide Form der Dezentralisierung hat vielerorts zur Diskreditierung des Subsidiaritätsprinzips und der Dezentralisierung beigetragen.
6. Die Zukunft der Subsidiarität
Das Subsidiaritätsprinzip muss daher heute in dem Sinn präzisiert und radikalisiert werden, dass es für die Rückgabe von Kompetenz, Verantwortung und Finanzierung an die möglichst kleine bzw. problemnahe, autonome bzw. privatautonome Trägerschaft optiert, sobald ein Problem auf der höheren, zentraleren Stufe nicht mehr adäquat gelöst bzw. nachhaltig finanziert werden kann. Angeblich „unlösbare Probleme“ können gelöst werden, wenn man sie in kleinere Stücke zerschneidet und den kleineren Einheiten Gelegenheit gibt, zu experimentieren, was die bestmögliche Lösung ist, die man dann allerseits kopieren und adaptieren kann. Ich weiß, dass dies ein sehr utopisches Programm ist, denn welche Zentralgewalt ist zu einem „geordneten Rückzug” bereit? Ein großer Teil der Probleme, die man in den letzten dreißig Jahren durch Regionalisierung, Zweckverbände, Finanzausgleich und Zentralisierung glaubte organisieren und reglementieren zu müssen, sind in Zukunft durch Privatisierung (nach dem Konzept: Benützer zahlt, Staat leistet allenfalls Subjekthilfe) zu lösen.
Auch die Schweiz hat es nicht geschafft, den Trend zum Wohlfahrtsstaat zu stoppen und sowohl die interpersonellen als auch die interregionale Umverteilung abzubauen. Beide sind mehrheitsfähig und extrem populär, auf jeden Fall populärer als alles Engagement gegen den Zentralismus und für den Non- Zentralismus.
7. Non-Zentralismus und Steuersystem
Man sollte die finanzielle Dimension eines Problems nicht verabsolutieren, aber man sollte sie auch nicht verdrängen. Wer zahlt, befiehlt, und wer keine finanzielle Autonomie hat, hat wenig, das er wirklich selbst bestimmen kann.
Jedes gesunde Steuersystem sollte auf vier Prinzipien aufbauen: 1. Keine Besteuerung ohne Mitbeteiligung (No taxation without representation); 2. Je betroffener desto beteiligter; 3. Keine Mitbeteiligung ohne Besteuerung (No representation without taxation; 4. Keine Staatsausgaben ohne Staatseinnahmen (No tax spending without tax paying).
Niemand zahlt gerne Steuern, und das Thema ”Fiskus” ist auch in der sozial- und wirtschaftswissenschaftlichen Diskussion eine Materie, in der sich die Spezialisten tummeln. Gemessen am zentralen historischen Stellenwert, den Steuersysteme haben und hatten, ist es erstaunlich, wie wenig Allgemeinverständliches darüber publiziert worden ist. Es gibt zwar ganze Bibliotheken über die technischen Belange des Besteuerns, einerseits über die vielfältigen und phantasievollen Methoden alles und alle immer mehr zu besteuern, und auf der andern Seite über die ebenso vielfältigen Methoden des legalen oder illegalen Widerstands. Dass die Geschichte der politischen Systeme mindestens zur Hälfte eine Geschichte der Steuersysteme ist und eine große Zahl von historischen Veränderungen als Steuerrevolten begonnen haben, wird zu wenig beachtet.
Das Steuersystem, das Geldsystem und das Sozialversicherungssystem sind heute die eigentliche Verfassungsgrundlage eines politischen Systems und die diesbezügliche Gesetzgebung ist für das Zusammenleben entscheidender als viele Verfassungsgrundsätze.
Eine friedliche Bürgergesellschaft wäre dadurch charakterisiert, dass sie mit wenigen öffentlichen Ordnungsvorschriften, technischen und sozialpolitischen Infrastrukturen auskommt und ihre Konflikte unter den Betroffenen und Beteiligten privatautonom lösen lässt.
8. Wege zum Steuerabbau
Es gibt drei Schritte, die zu Steuerreduktion führen: 1. Abbau der interpersonellen Umverteilung; 2. Abbau der interregionalen Umverteilung; 3. Steuerwettbewerb zwischen steuerautonomen Gebietskörperschaften.
Die Finanzverfassung ist ein Kernbereich des Verfassungsrechts, deren grundsätzliche Seite meist unterschätzt wird. Es geht nicht einfach darum, dem Staat durch ein Flickwerk von Improvisationen von Jahr zu Jahr die geforderten Mittel zu beschaffen, es geht um eine klare Limitierung der fiskalischen Zugriffsmöglichkeiten, um die wohl wirksamste Methode, die Staatsquote zu senken und die Standortqualität für die Wirtschaft zu erhöhen. Das Ausmaß der Besteuerung lässt sich durch eine Reduktion der interpersonalen und interregionalen Umverteilung, sowie durch eine Konkurrenz der Gemeinden, Gliedstaaten und Nationalstaaten bei der Besteuerungskompetenz senken.
Eine klassisch-liberale Finanzpolitik sollte den allgemeinen fiskalischen Zugriff auf das Privateigentum limitieren, die Staatsquote senken und damit der Privatwirtschaft wieder jene Mittel überlassen, die sie für die Investition in die technisch-zivilisatorische Entwicklung zugunsten aller dringend benötigt.
9. Steuerwettbewerb und direktdemokratisch limitierte Besteuerung
In der Schweiz bestimmen die jeweiligen Bürger und Steuerzahler in direkter Demokratie mit Mehrheitsentscheid über die Höhe der Steuern. Ein solches Modell kann nicht direkt auf andere Verhältnisse übertragen werden. Es wird immer wieder bezweifelt, dass Regierung und Parlament so etwas Heikles wie ”the power to tax” unvermittelt der Verantwortung der Steuerzahler anheimstellen könnten und dürften. Eine Zuständigkeit der Volksmehrheit für die Festlegung der Steuern auf allen Ebenen der Staatsorganisation setzt allerdings voraus, dass diese nicht allzu progressiv gestaltet sein dürfen, weil sonst eine ”demokratische Fremdbestimmung” der Steuerzahler mit höheren Einkommen möglich wird, die schließlich mit deren ”Vertreibung” endet. Pro-Kopf-Abstimmungen funktionieren nur, wenn auch die Betroffenheiten Pro-Kopf vergleichbar sind.
Die konkurrierenden Steuersysteme und die Aufteilung der direkten Steuern auf allen drei Staatsebenen ließ in der Schweiz ein Experimentierfeld entstehen, das gewiss nicht in jeder Hinsicht optimal ist, aber es funktioniert, und wir kombinieren relativ niedrige Steuern mit einer guten öffentlichen Infrastruktur. Es gibt bei uns so etwas wie eine ”Abstimmung mit den Füssen”. Sie ist in unserm Land eher zumutbar, weil wir so kleinräumig sind. Aber der Auszug eines reichen Steuerzahlers führt immer wieder zu Pressekampagnen, die letztlich den Neid publizistisch bewirtschaften. Schließlich darf auch noch erwähnt werden, dass wir im europäischen Rahmen natürlich wegen unserer relativ tiefen Steuern ein eigentliches Asylland sind und auch erheblich davon profitieren. Ich habe deswegen keinerlei Schuldgefühle.
Die Gefahr eines ”race to the bottom”, des Wettlaufs zum Nullsteuer- und Nullleistungsstaat, ist nicht von der Hand zu weisen, sie darf aber nicht überschätzt werden. Eine politische Unterversorgung bezüglich Ordnung und Infrastruktur ist um so unwahrscheinlicher, als Vergleichsmöglichkeiten mit andern Gebietskörperschaften bestehen, welche eine Nachfrage nach solchen Gütern besser befriedigen. Für erwünschte und knappe öffentliche Güter lässt sich in vielen Fällen durchaus eine Mehrheit von Steuerzahlern zu Steuererhöhungen motivieren, d.h. man ist bereit, einen höheren Preis zu bezahlen, wenn man dadurch die kollektive Lebensqualität erhöhen kann.
10. Wettbewerb als Entdeckungsverfahren und als Lernprozess
Die hier skizzierte polit-ökonomische Mechanik darf durch gut gemeinte Ausgleichszahlungen (interkommunaler, interregionaler und internationaler Finanzausgleich, Förderungs- und Strukturfonds aller Art) nicht gestört werden.
Je direkter die Demokratie ist, desto stärker wird der Zusammenhang von Steuer und Gegenleistung wahrgenommen und gegenüber den Behörden, die gleichzeitig Steuern erheben und Infrastruktur bereitstellen, zum politischen Thema gemacht. Der mündige Steuerzahler ist in diesem Fall mit dem mündigen Bürger identisch, welcher dauernd kritisch das Preis/Leistungsverhältnis der von ihm gewählten Behörden überwacht, Sparsamkeit und Transparenz fordert und fördert sowie auf Unterversorgungen aller Art empfindlich reagiert.
Es soll nicht verschwiegen werden, dass die Non-Zentralität auch Nachteile hat. Der ”schlechteste Mitspieler” ist bei einer Konkurrenz von Systemen schlechter als das was durch zentralistischen Durchschnitt und durch Harmonisierung erzwungen werden kann. Es gibt gerade aus liberaler Sicht schmerzhafte Defizite in sog. unterentwickelten Gebieten und der Preis der Ungleichheit ist manchmal hoch. Es hat sich aber im Lauf der Geschichte auch immer wieder gezeigt, dass sich sogenannt rückschrittliche Strukturen plötzlich wieder als modern und fortschrittlich erwiesen haben. Zentralisierung birgt immer auch die Gefahr einer ”Vereinheitlichung gemäß dem neuesten Stand des wissenschaftlichen und politischen Irrtums” in sich, – auch Liberale sind davor nie gefeit. Lauter kleine non-zentrale Irrtümer, die gegeneinander konkurrieren, sind hingegen auf die Dauer auch puncto Freiheitsgehalt und Lernfähigkeit im Vergleich mit einem hoch zentralisierten System effizienter und – nach außen und innen – weniger gefährlich.
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Ideen zu einem Ve rsu ch, die Tätigkei t des Staates zu be grenzen
Dokumentationen zum Kolloquium
„Liberalismus und Kommunale Selbstverwaltung“,
18. September 2009
- [86] Fred E. Foldvary (2009)
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