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Rücksicht auf das grosse Ganze

Lesedauer: 4 Minuten


(Stiftung für Abendländische Ethik und Kultur)

STAB-Rundbrief Nr. 165

Zu Schillers 250. Geburtstag

Zürich, im November 2009

An den Freundeskreis der Stiftung für Abendländische Ethik und Kultur

Von Robert Nef

Friedrich Schiller, geboren vor einem Vierteljahrtausend am 10. November 1759 und gestorben am 9. Mai 1805, ist schon vor vier Jahren anlässlich seines 200. Todestages durch neue Biographien und eine Fülle von Veranstaltungen und Publikationen geehrt worden. Er ist wahrscheinlich der in der Umgangssprache meistzitierte Dichter deutscher Sprache. Seine Theaterstücke und seine Gedichte haben während Generationen im deutschen Sprachraum zum allgemeinen Bildungsgut gehört. Dadurch ist der Eindruck entstanden, Schiller sei zwar kulturhistorisch von grosser Bedeutung, hätte aber als Klassiker zur Lösung der aktuellen Probleme kaum mehr etwas beizutragen. Der pathetische Ton, der in vielen seiner Gedichte und Schauspielen vorherrscht, erschwert vor allem auch einer jüngeren Leserschaft den Zugang zum Kern der zunehmend aktuellen Botschaft, dass der Mensch aufgerufen ist, eine aktive selbstbestimmte Rolle zu spielen und sich nicht vom vorherrschenden Zeitgeist treiben zu lassen.

Dass die Ziele der Stiftung für Abendländische Ethik und Kultur auch mit der Gedankenwelt von Friedrich Schiller in Verbindung gebracht werden können, zeigt ein Ausschnitt aus dem Brief an seine Schwägerin Caroline von Beulwitz:

Weimar, 27. November 1788

„Wer Sinn und Lust für die grosse Menschenwelt hat, muss sich in diesem weiten, grossen Element gefallen; wie klein und armselig sind unsre bürgerliche und politische Verhältnisse dagegen! Aber freilich muss man Augen haben, die an grosse Übeln, die unvermeidlich mit einfliessen, nicht geärgert werden. Der Mensch, wenn er vereinigt wirkt, ist immer ein grosses Wesen, so klein auch die Individuen und Detaile ins Auge fallen. Aber eben darauf, dünkt mir, kömmt es an, jedes Detail und jedes einzelne Phänomen mit diesem Rückblick auf das grosse Ganze, dessen Teil es ist, zu denken oder, was ebensoviel ist, mit philosophischem Geiste zu sehen. Wie holperigt und höckerigt mag unsre Erde von dem Gipfel des Gotthards aussehen, aber die Einwohner des Mondes sehen Sie gewiss als eine glatte und schöne Kugel. Wer dieses Auge nun entweder nicht hat oder es nicht geübt hat, wird sich an kleinen Gebrechen stossen, und das schöne grosse Ganze wird für ihn verloren sein.

Und dann (um doch recht ins Gelag hinein zu philosophieren!), dann glaube ich, dass jede einzelne ihre Kraft entwickelnde Menschenseele mehr ist als die grösste Menschengesellschaft, wenn ich diese als ein Ganzes betrachte. Der grösste Staat ist ein Menschenwerk, der Mensch ist ein Werk der unerreichbaren grossen Natur. Der Staat ist ein Geschöpf des Zufalls, aber der Mensch ist ein notwendiges Wesen, und durch was sonst ist der Staat gross und ehrwürdig als durch die Kräfte seiner Individuen? Der Staat ist nur eine Wirkung der Menschenkraft, nur ein Gedankenwerk, aber der Mensch ist die Quelle der Kraft selbst und der Schöpfer des Gedankens.“

Die beiden Jubiläen, der 200. Todestag 2005 und der zweihundertfünfzigste Geburtstag am 10. November dieses Jahres haben keine mit dem Schiller-Jubiläum von 1905 vergleichbare neue Welle der Schiller-Begeisterung ausgelöst. Schiller wird gefeiert, aber nicht gelesen. Jedes dichterische Werk steht im Spannungsfeld von kritischer Analyse und emotionaler Zuneigung und beide haben ihre eigene Notwendigkeit. „Die Entgegensetzung zweier Notwendigkeiten gibt der Freiheit ihren Ursprung.“ So Schiller in seinem 9. Brief über die ästhetische Erziehung des Menschen.

Wenn heute die kritische Analyse Vorrang hat, und die Begeisterung im Hintergrund bleibt, braucht uns dies als Freunde der Freiheit und der abendländischen Ethik und Kultur nicht zu betrüben. Begeisterung kann auch blind machen und der Geist der Freiheit braucht weder die rationale Reflexion noch den Bewährungstest im permanenten Wettbewerb der Ideen zu scheuen.

Allerdings, bei aller Reflexion sollte man doch nicht verpassen, Schiller im Original zu lesen und auch ohne modernistische Verfremdung auf die Bühne zu bringen. Der deutsche Idealismus ist weniger wirklichkeitsfremd oder wirklichkeitsscheu als dies auf den ersten Blick scheint. Er hat eine wichtige und sehr wahrscheinlich sogar populäre politische Komponente, die noch zu entdecken wäre. Wer sich auf das Abenteuer einlässt, Schiller tatsächlich im Original zu lesen, wird schnell einmal bemerken, dass er in der Sprache seiner Zeit sehr aktuelle Botschaften vermittelt. Wir leben heute in Europa in einem intellektuellen Umfeld, in dem der dialektische, historische und vor allem der sozialistische Materialismus immer noch den Ton angeben. Wahrheit wird mit naturwissenschaftlicher Beweisbarkeit gleichgesetzt und in der Politik beherrscht eine Mischung von Pragmatismus und Opportunismus das Feld. Im Bereich der Kultur wird unter dem Schock des kriegerisch grausamen 20. Jahrhunderts vielerorts immer noch ein eigentlicher Kult der Hässlichkeit und Obszönität zelebriert und in der Wirtschaft wird der kurzfristige materielle Erfolg für viele zum Mass aller Dinge. Das Gute wird in utilitaristischer Verkürzung mit dem unmittelbar Nützlichen gleichgesetzt. In diesem Klima bilden die drei Grundbegriffe des deutschen Idealismus, das Wahre, das Schöne und das Gute ein notwendiges Gegengewicht.

Das ist der oft unterschätzte Beitrag, den deutsche Dichter und Denker zur Kulturgeschichte beigesteuert haben. Freiheit ist für Schiller nicht das letzte Ziel, aber die entscheidende Voraussetzung für die Verwirklichung seiner Ideale: Freiheit als spontane, schöpferische Kraft durch die das Bewusstsein des Menschen das Sein immer wieder neu beeinflussen kann, Freiheit als die Idee, welche vor der Realität nicht kapituliert, sondern künstlerisch und unternehmerisch gestaltend mit ihr umgeht, Freiheit als kreative Dissidenz, als Widerstandrecht gegen Entwürdigungen und Entmündigungen aller Art und schliesslich die Tugend als Bollwerk der Freiheit.

Die Frage, warum zahlreiche Menschen die Idee der Freiheit so hartnäckig verteidigen, obwohl sie viel Unbequemes mit sich bringt und weniger populär ist als soziale Sicherheit, lässt sich auf dem Hintergrund des Schiller’schen Idealismus überraschend befriedigend beantworten. Freiheit zahlt sich nicht in jedem Falle aus, sie ist eine Spekulation, oder doch eine ganz langfristig ausgerichtete Investition in die „Erziehung des Menschengeschlechts.“ Freiheit ist die Voraussetzung dafür, dass sich das Wahre, das Schöne und das Gute spontan entfalten können. Ohne Freiheit keine Wahrheit, d.h. ohne Freiheit der Meinungsäusserung, der Wissenschaften und der Künste werden nur jene Wahrheiten entdeckt und verbreitet, die den Machthabern ins Konzept passen. Ohne Freiheit gibt es auch keine Schönheit. „Die höchste Philosophie endigt in einer poetischen Idee, so die höchste Moralität, die höchste Politik. Der dichterische Geist ist es, der allen dreien das Ideal vorzeichnet, welchem sich anzunähern ihre höchste Vollkommenheit ist.“ (Schiller, Brief an die Gräfin Schimmelmann).

Wahrheit, Schönheit und Moral können sich in Freiheit nur entwickeln, wenn sich unternehmerische Menschen aktiv dafür engagieren. Schiller hat mit „Poesie“, ganz generell das Geschäft des Machens, Herstellens und Verbreitens angesprochen, und es ist nicht abwegig, sein dichterisches Unternehmertum, das er selbst (übrigens nicht ohne finanziellen Erfolg) als Beruf wahrgenommen hat, in einen grösseren Rahmen zu stellen.

Das Schaffen und Verbreiten von Werten und das Entdecken von neuen Möglichkeiten und Wirklichkeiten, d.h. cultura im umfassenden Sinn von Pflege und poiesis als kreatives Schaffen bilden die Basis unserer Lebenswelt.

Robert Nef, Präsident der Stiftung für Abendländische Ethik und Kultur.
Herausgeber des Friedrich-Schiller-Breviers, Dichter der Freiheit, 2006, NZZ-Verlag

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