Zum Inhalt springen

Behördliches Besserwissen

Lesedauer: 5 Minuten

(Schweizer Monat – Dossier: «Weggegeben, weggenommen: Verdingkinder» – Ausgabe 968 – März 2009)

Alle wollen nur das Beste für das Kind. Aber wer weiss es denn am besten: die Eltern, die Gesellschaft, die Kirche, der Staat?

«Wir wissen schon, was gut ist für dich, und wir wissen es besser als du. Notfalls müssen wir es dir – natürlich in deinem eigenen Interesse – auch mit Gewalt beibringen.» Dieser pädagogische Gemeinplatz gehört zu den über Generationen und in den verschiedensten Kulturen tradierten Erfahrungen. Er hat sowohl Nutzen gestiftet als auch Leid verursacht. Ob dadurch der Jugend insgesamt mehr Gutes oder mehr Leid widerfahren ist, bleibt eine offene Frage.

Sicher ist, dass manche Massnahmen, wie etwa die Zwangsadoption und das Verdingwesen, die man heute generell als Übel betrachtet, mindestens «gut gemeint» waren. Was solche Massnahmen den künftigen Generationen «geschenkt» und was sie ihnen «geraubt» haben, lässt sich nur beantworten, wenn man als Alternative nicht den Idealzustand, sondern das nach den damaligen Randbedingungen realistischerweise Mögliche betrachtet.

Dabei müssen wir wissen: auch unsere heutigen Erziehungspraktiken und unser heutiges Besserwissen um das Wohl des Kindes dürften rückblickend einmal kritisch beurteilt werden. Ich zweifle nicht, dass viel von dem, was heute Eltern für «das Bessere» halten, sich eines Tages als «das Schlechtere» herausstellen wird. In noch höherem Masse gilt dies für das, was die zur Wahrung des Kindswohls und für das ganze Erziehungs- und Bildungswesen zuständigen Behörden – gegen den Willen des Kindes und oft auch gegen den Willen der Eltern – für «gut» halten. Denn «gut gemeint» ist bekanntlich das Gegenteil von «gut».

Unser individuelles und kollektives Engagement für das Kindswohl muss – wie alles über Generationen in verschiedensten Kulturen Tradierte – auf seine Gegenwarts- und Zukunftstauglichkeit geprüft werden. Und vor allem: wer ist denn jenes «Wir», das so gut weiss, was das jeweils «Beste» für jedes Kind ist? Die Eltern, die Gesellschaft, die Kirche, der Staat? Wie erwirbt sich dieses «Wir» das Wissen, wie bildet es den Willen im Hinblick darauf, was für alle jungen Menschen «gut» sei?

Nach der eingangs erwähnten, historisch und interkulturell tief verankerten pädagogischen Regel wird der Weg zur Mündigkeit und zur eigenen Elternschaft über eine Art wohlwollender Bevormundung gewährleistet. In den Sponti-Sprüchen der 68er tönte dies anders: «Sie wollten nur unser Bestes, aber gerade das gaben wir ihnen nicht.» Oder noch krasser: «Macht kaputt, was euch kaputt macht.»

Vor diesem Hintergrund mutet das noch von Goethe als Motto des ersten Teils von «Dichtung und Wahrheit» gesetzte, aus der griechischen Antike stammende Menander-Zitat tatsächlich wie ein Relikt aus einer pädagogisch unaufgeklärten Zeit an: «Der nicht geschundene Mensch wird nicht erzogen.» Die im übrigen auch im Christentum verankerte Meinung, der Mensch könne sich als zunächst ungebildete «bestia» in einer Welt voller Übel nur zurechtfinden, wenn er durch viele Leiden, bittere Erfahrungen und schliesslich durch Vorbilder auf den wahren Weg der Tugend geführt werde, ist seit Grimmelshausens «Simplicissimus» das Motiv zahlreicher Bildungs- und Entwicklungsromane. Wer sich in das teilweise erlebte und teilweise fiktive Jugendschicksal des Romanhelden Simplicius vertieft, wird das harte Leben von Verdingkindern im 19. und 20. Jahrhundert nicht mehr aussergewöhnlich finden. Denn es fällt auf, dass damals – möglicherweise unter dem Eindruck der überlieferten Leidensethik – das Unglück in der Jugend nicht als Keim eines verpfuschten Lebens gedeutet wurde, sondern als Voraussetzung von dessen Gelingen.

Die antike Weisheit «Durch Mühsal zu den Sternen» stand als pädagogische Maxime im Vordergrund, während heute die durch viel Empirie (und möglicherweise auch durch die selbsterfüllende Prophezeiung) gestützte Meinung vorherrscht, negative Jugenderlebnisse führten notwendigerweise zu einem Leben der Randständigkeit und dauerhafter Benachteiligung. Ein Blick in heutige Biographien könnte nahelegen, die Reihenfolge von Mühsal und Sternenglanz umzukehren. «O wonnevolle Jugendzeit», beginnt ein Studentenlied, und oft mündet der Lebensweg vom Glanz der Sterne einer unbeschwerten Jugendzeit in die Mühsal eines anspruchsvollen Eingespanntwerdens in eine komplizierte arbeitsteilige Gesellschaft. Kein Wunder, dass viele Jugendliche ihre Jugendzeit möglichst weit ins reifere Alter hinein verlängern wollen.

Die schwedische Reformpädagogin und Schriftstellerin Ellen Key hat am Anfang des 20. Jahrhunderts «Das Jahrhundert des Kindes» verkündet und ihr Buch allen Eltern gewidmet, «die hoffen, im neuen Jahrhundert den neuen Menschen zu bilden». Aufgabe der Erziehung sei es, so Key «das Kind mit Baumaterial für seine Persönlichkeit zu versehen, es dann aber selbst bauen zu lassen». Rainer Maria Rilke war von diesem Buch so begeistert, dass er sich zu einer Prophezeiung hinreissen liess: «Das Jahrhundert wird zu den grössten gehören, wenn dieser Traum, in seinen ersten Tagen geträumt, in seinen letzten einmal in Erfüllung geht. Freie Kinder zu schaffen wird die vornehmste Aufgabe dieses Jahrhunderts sein.»

Damit hat der Dichter das Stichwort geliefert, das die Hoffnung auf einen pädagogischen Fortschritt bei der «Erziehung des Menschengeschlechts» dokumentiert und zugleich zu jenem Verhängnis beiträgt, das mit jeder Spielart des pädagogischen Machbarkeitswahns verknüpft ist. Kann man «freie Kinder schaffen», ohne sich das Wissen anzumassen, «was für andere gut ist», ohne jenes Besserwissen also, das von Generation zu Generation bei den Kindern und Jugendlichen immer wieder in Frage gestellt wird und bei den Eltern in mehr oder weniger subtilen Formulierungen Neuauflagen erlebt? Und was machen jene «freien Kinder» als Eltern mit der von ihren Eltern geschaffenen Freiheit? Ich erwähne hier nur die Schattenseiten der nicht immer erfolgreichen Jugendbefreiung: Drogensucht, Alkoholismus, Magersucht, Jugendgewalt.

Jede Epoche verurteilt die Pädagogik der vorangegangenen und ersetzt die alten Irrtümer durch neue. Trotzdem gibt es für jene, die sich historisch mit den Geschundensten der Geschundenen befassen, so etwas wie einen Fortschritt, und es wäre zynisch, wenn man vor dem Leiden der verdingten Kinder die Augen verschlösse. Die Aufarbeitung der Geschichte der sogenannten Verdingkinder öffnet den Blick für die Abgründe der «schwarzen Pädagogik» vergangener Zeiten und in das Elend jener Kinder, die aus finanziellen oder sozialen Gründen nicht in ihrer angestammten Familie aufwachsen konnten.

Dessen ungeachtet und wider unseren Zeitgeist bleibt zu bedenken: vielleicht hat man nur Schweres durch noch Schwereres ersetzt. Man neigt heute dazu, jene schweren Kindheiten mit heutigen Verhältnissen zu vergleichen und nicht mit den damals normalen Kindheiten von vollständigen Bauern-, Handwerker- und Arbeiterfamilien, die nahe am Existenzminimum lebten.

Die Selbstverständlichkeit einer frühen Mithilfe in Haus und Hof ist übrigens bis heute noch lebendig. Noch vor 20 Jahren sollen in den auf dem Land neu eingeführten Kindergärten, in denen gespielt, gesungen und gebastelt wurde, die Bauernkinder nach den ersten Tagen gefragt haben: «Wenn fangid mer jetzt entli a mit öppis werche?» Der Einbezug in den Arbeitsalltag sollte nicht nur unter dem Gesichtspunkt der «Entwürdigung» des Kindes gesehen werden; denn das Gefühl der Nützlichkeit ist ein ganz wesentlicher Bestandteil der Menschenwürde. Natürlich sollte das Hineinwachsen in die Arbeitswelt nicht als Überforderung erlebt werden, aber es schadet nichts, wenn wir uns heute gelegentlich fragen, ob es wirklich menschenwürdig ist, junge Menschen im Alter von 4 bis 24 Jahren aus der Arbeitswelt auszuschliessen und in Bildungsanstalten zu «kasernieren».

Es steht ausser Zweifel, dass das Verdingen von Kindern als jugendliche Arbeitskräfte gegen Kostgeld im Vergleich zum Aufwachsen in einer intakten Durchschnittsfamilie keine gute Lösung war. Aber was waren realistischerweise die Alternativen? Man muss bei der retrospektiven Kritik an dieser Institution das Augenmass wahren, und man sollte vor allem bereit sein, die heute praktizierte Mischung von elterlicher und staatlicher Kinderbetreuung in Frage zu stellen. Möglicherweise sind die kollektiven Fortschritte bei der Einsicht in das, was für alle Kinder gut ist, so wenig entwickelt wie das Wissen um ein kollektives Gemeinwohl, das staatlich weder hergestellt noch verordnet werden kann.

Robert Nef
ist Publizist und Autor, Mitglied der Mont Pèlerin Society sowie der Friedrich August von Hayek-Gesellschaft. Nef war von 1991 bis 2008 Redaktor und Mitherausgeber der «Schweizer Monatshefte». Er lebt als freier Publizist in St. Gallen.

Quelle: https://schweizermonat.ch/3-behoerdliches-besserwissen/

Schlagwörter:

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert