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Der Eid im Spannungsfeld von Politik und Religion

Lesedauer: 7 Minuten


(Stiftung für Abendländische Ethik und Kultur)

STAB-Rundbrief Nr. 163

Zürich, im Februar 2009

An den Freundeskreis der Stiftung für Abendländische Ethik und Kultur

Von Robert Nef

Millionen von Fernsehzuschauern haben weltweit die Vereidigung von US-Präsident Obama verfolgt und auch miterlebt, dass es beim Vorsprechen und Nachsprechen auf beiden Seiten zu kleinen Fehlern kam, über die die Beteiligten mit einem Lächeln hinweggingen. Ist das ein Zeichen dafür, dass der Eidschwur seine sakrale Bedeutung auch in Amerika weitgehend verloren hat und nur noch als ehrwürdige Tradition praktiziert wird? Der öffentlich abgelegte Eid verbindet das Politische mit dem Religiösen, und es überrascht daher nicht, dass man angesichts des immer noch grossen Einflusses religiöser Kreise in den USA auf Nummer sicher gehen wollte. Tags darauf ist darum der formelle Akt im Kartenraum des Weissen Hauses wiederholt worden. Beim zweiten Mal passierten keine Fehler. Anwesend waren nur Obamas engste Berater, ein amtlicher Fotograf und eine kleine Gruppe von Journalisten. Der Präsident soll die Wiederholung laut Presseberichten scherzend kommentiert haben: «Wir haben beschlossen, das zu wiederholen, weil es so viel Spass gemacht hat.» Richter Roberts zog seine schwarze Robe noch einmal an und fragte: «Sind Sie bereit, den Eid abzulegen?» Obama antwortete: «Ja, das bin ich. Und wir machen es sehr langsam.»

Öffentlich abgelegte Eidschwüre sind auch in Europa noch weit verbreitet. Auch die Schweiz kennt neben dem Gerichtseid auch noch den Amtseid. Gemäss Artikel 3 unseres Parlamentsgesetzes werden alle Parlamentsmitglieder und alle von ihnen gewählten Personen, also auch die Mitglieder der Landesregierung, vereidigt. Wer sich weigert, verzichtet auf sein Amt. Wegen der in der Verfassung garantierten Glaubens- und Gewissensfreiheit steht Amtsträgern, die wegen ihrer politischen oder religiösen Überzeugung keinen Eid leisten wollen, die Möglichkeit eines Gelübdes offen, das keinen Bezug auf «Gott den Allmächtigen» nimmt.
Der Eid lautet: «Ich schwöre vor Gott dem Allmächtigen, die Verfassung und die Gesetze zu beachten und die Pflichten meines Amtes gewissenhaft zu erfüllen.» Das Gelübde lautet: «Ich gelobe, die Verfassung und die Gesetze zu beachten und die Pflichten meines Amtes gewissenhaft zu erfüllen.» Auch die deutsche Bundeskanzlerin hatte nach ihrer Wahl mit erhobener rechter Hand zu schwören, dass sie ihre Kraft dem Wohl des Volkes widmen, seinen Nutzen mehren, Schaden von ihm wenden, das Grundgesetz und die Gesetze des Bundes wahren und verteidigen werde und ihre Pflichten gewissenhaft erfüllen und Gerechtigkeit gegen jedermann üben werde.

Der deutsche Staatsrechtslehrer Gerd Roellecke hat anlässlich der Vereidigung von Gerhard Schröder in einem Zeitungsartikel (Berliner Zeitung vom 27.Oktober 1998, Die Person als Geisel für die Sache) über den Sinn des politischen Schwurs Folgendes ausgeführt: «Schaut man auf den Inhalt des Amtseides, beschleichen einen Zweifel an seinem Sinn. Werden die Regierungsmitglieder nicht fürstlich dafür bezahlt und sozial abgesichert, dass sie ihre Kraft dem Wohl des Volkes widmen und ihre Pflichten erfüllen, ohne ihr Gewissen verbiegen zu müssen? Ist die vollziehende Gewalt nicht schon von Verfassung wegen an Gesetz und Recht gebunden? Was also soll der Eid? Diese Frage stellt sich umso dringender, als nicht nur Regierungsmitglieder beschwören müssen, etwas zu tun, zu dem sie ohnehin verpflichtet sind. Jeder, der in die Nähe von Politik, Verwaltung und Justiz gerät, sei es als Zeuge, Sachverständiger oder Beamter, begibt sich in diese Gefahr. Allerdings wird nur im Meineidfall der Zeuge bestraft. Pflichtvergessene Beamte haben lediglich ein Disziplinarverfahren zu fürchten, Mitglieder der Bundesregierung nicht einmal das. Sie können freilich jederzeit ohne Begründung entlassen werden.»

Der 1984 verstorbene Staatsrechtslehrer Ernst Friesenhahn, der eine bedeutende Dissertation über den politischen Eid geschrieben hat, meint, der politische Eid werde «im öffentlichen Leben des Staates eingesetzt in der Erwartung, dadurch eine zusätzliche existentielle Sicherung von Pflichten zu erlangen, die für die politische Gemeinschaft wichtig sind.(…)Tatsächlich wird und wurde fast überall geschworen, in unseren zu bewältigenden Vergangenheiten sogar besonders viel.» Aber was heisst «existentiell»?, fragt Friesenhahn, und um wessen Existenz geht es? «Gemeint sind offensichtlich die Eidesleistenden. Nur sieht man schlecht, was der Eid mit deren Existenz zu tun hat. Nur ein Rechtsbruch kann die berufliche Existenz kosten. Der Bruch des politischen Eides hat keine Rechtsfolgen.»

Der St. Galler Privatbankier Arthur Eugster hat im Verlag Typotron ein Manuskript seines Grossvaters gleichen Namens über das «Thema Eid» durch Drucklegung der Öffentlichkeit zugänglich gemacht. Es handelt sich um einen Vortrag, den der damals 28-jährige Pfarrer 1891 vor Berufskollegen gehalten hat, und dessen Manuskript im Familienbesitz erhalten geblieben ist. Es spricht für die Treffsicherheit bei der Themenwahl, für die Ernsthaftigkeit der Themenbearbeitung und für die Qualität der persönlichen Überlegungen, wenn ein Vortragstext nach 117 Jahren die Leserschaft immer noch zu fesseln vermag und zu weiteren Überlegungen anregt.

Dass man in einem Land, das sich als «Schweizerische Eidgenossenschaft» bezeichnet den Eid zum Thema macht, liegt auf der Hand. «Genossenschaft» verweist auf den Ursprung im ökonomischen Bereich der gemeinsamen Selbsthilfe, «Eid» verweist, was heute oft verdrängt oder vergessen wird, auf eine religiös-kulturell verbundene Willensgemeinschaft, deren Gründung durch einen öffentlichen Akt gegenseitig bekundet wird. Das ist auch die Urform der öffentlichen Vereidigung. Volksbeauftragte Magistraten schwören vor ihren Auftraggebern, den Wählern, und die Wähler selbst bekunden im gemeinsamen Schwur an der Landsgemeinde ihre Bundestreue und manifestieren dabei gleichzeitig, dass sie sich selbst als oberste Behörde einsetzen, die keiner irdischen Instanz mehr Rechenschaft schuldet. Das ist eine bemerkenswerte Kombination von Anmassung und Demut, wie sie bereits im Bundesbrief von 1291 dokumentiert ist. Die Berufung auf Gott als der einzigen höheren Instanz, die gemeinsam anerkannt wird, ist gegenüber allen irdischen Instanzen eine deutliche Manifestation des Willens zur Eigenständigkeit.

Es erstaunt nicht, dass der archaisch-religiöse Akt der Eidesleistung schon im 19. Jahrhundert, dem Jahrhundert der Säkularisierung und der Trennung von Kirche und Staat, zum Stein des Anstosses wurde. Die Eidesleistung stand nicht nur von der Seite der fortschrittsgläubigen Säkularisierer unter Beschuss, sie musste in einer Art Zweifrontenkrieg auch gegen jene Christen verteidigt werden, die gestützt auf die Bergpredigt jede Eidesleistung verweigerten. Sie beriefen sich auf das Evangelium des Matthäus, Kapitel 5, Vers 34: «Ich aber sage Euch, dass ihr überhaupt nicht schwören sollt.»

Leo Tolstoi hat in seiner Bekenntnisschrift «Worin besteht mein Glaube» vehement gegen den Eidschwur Stellung bezogen: «Wie sollte es einem Menschen, den man beim Evangelium zu schwören veranlasst, in den Sinn kommen, dass er auch auf jene Stelle schwört, an der klar und bestimmt gesagt wird, ihr sollt überhaupt nicht schwören.» Tolstoi resümiert seine Auffassung zum Verbot des Schwörens wie folgt: «Ich sah klar, dass in den Versen 33 -37 (der Bergpredigt, Anmerkung des Verfasser) das klare bestimmte ausführbare 3. Gebot ausgesprochen war: du sollst nie, du sollst niemandem und in nichts schwören. Jeder Eidschwur ist von den Menschen zum Übel erdacht.» Tolstoi stellt das Verbot des Eidschwurs nach dem Verbot des Richtens und des Ehebrechens als das dritte seiner fünf grundlegenden Glaubensgebote dar. Das vierte ist übrigens das Verbot, Böses mit Bösem zu vergelten und das fünfte, das Verbot des Hasses, bzw. das Gebot der Feindesliebe. Diese radikale und auch mit der weltlichen Rechtsordnung in Konflikt stehende Auslegung der Bergpredigt hatte Tolstois Ausschluss aus der orthodoxen Kirche zur Folge.

Tolstois Schrift ist schon 1885 in deutscher Übersetzung erschienen und es ist gut möglich, dass der belesene und am politischen und religiösen Tagesgeschehen interessierte Pfarrer und spätere Landammann Eugster nicht nur die Bergpredigt, sondern auch Tolstois Schrift gekannt hat. Arthur Eugster bekannte sich politisch zum Freisinn. Toleranz und Streitvermeidung mit Andersdenkenden bedeutete ihm viel. Sein Vortrag über den Eid ist ein Vermittlungsversuch zwischen allen fundamentalistischen Strömungen.

Arthur Eugsters Bruder Howard, ebenfalls Pfarrer, war ein profilierter Sozialdemokrat. Hanspeter Strebel hat in einem, ebenfalls im Typotron Verlag herausgegebenen Essay (St. Gallen 2007) die beiden Brüder, die sich übrigens persönlich trotz unterschiedlicher politischer Grundhaltungen sehr gut verstanden, sorgfältig portraitiert. Er ruft auch in Erinnerung, dass Howard Eugster sich weigerte, als neu gewählter Magistrat vor der Landsgemeinde den Eid zu leisten. Er hat diese Weigerung vor der Öffentlichkeit, vor sich selbst und wohl auch gegenüber seinem Bruder wie folgt gerechtfertigt: «Der Eid ist mir, wie alles, was den Namen Gottes berührt, etwas Heiliges. Den Landsgemeindeeid habe ich seinerzeit geleistet, mit einigem Zittern zwar, ob es mir gelinge, das Versprochene in allen Stücken auch zu halten. Und wenn einmal etwas mit einem Eide bekräftigt worden ist, so sollte es dabei bleiben… Mit der Wahl zum Regierungsrat sah ich mich vor die Wahl gestellt: Willst Du nun, da es auf dem Landsgemeindestuhl» (das erhöhte Podium auf dem die Regierung während der Versammlung steht, Anmerkung des Verfassers) «allen erkennbar wird, dein Verhalten ändern? Wäre es nicht klüger, sich der Sitte anzupassen? Und ich musste mir sagen: Nein, es ist ehrlich und du bleibst gegen dich selbst und jedermann wahr und aufrichtig, wenn du beim richtig Erkannten beharrst.»

Das deutsche Bundesverfassungsgericht hat den Eid zu einem rein weltlichen Gelöbnis erklärt. Es hat einem evangelischen Pfarrer das Recht zugebilligt, unter Berufung auf das neutestamentliche «Schwöret überhaupt nicht» den Zeugeneid zu verweigern. «Wahrheit ist Wahrheit. Eine Bekräftigung stärkt sie nicht, sie schwächt sie. Sie setzt Zweifel an der Wahrheit voraus und erklärt den für unglaubwürdig, der sie sagt.» So lautete die auch dem Gericht einleuchtende Argumentation.

Für die Juden des Alten Testaments bedeutete der Eid «eine bedingte Selbstverfluchung». Der Schwörende verurteilte sich selbst zur Bestrafung im Falle des Meineids: «Gott möge mich strafen, wenn ich nicht die Wahrheit gesagt habe.» Den Schwurverweigerern aus religiösen Gründen wurde immer wieder entgegengehalten, auch Jesus selbst habe sich als Angeklagter einer Aussage unter Eid nicht verweigert. Nach seiner Verhaftung habe er auf die Frage des Hohen Priesters: «Ich beschwöre dich bei dem lebendigen Gott, sag uns: Bist du der Messias, der Sohn Gottes?» geantwortet: «Du sagst es.» (Matthäus 26,63).

In einer Zuschrift zum oben erwähnten Zeitungsartikel von Gerd Roellecke fügt Ernst Schlegel folgende wichtige Überlegungen an: «Aussagen können nicht nur wahr oder unwahr, sondern auch richtig oder falsch, wahrscheinlich oder unwahrscheinlich sein. Alle Aussagen müssen immer nach mehreren Kriterien bewertet werden.» «Ich schwöre, dass ich meine Kraft dem Wohl des Volkes widmen werde,» ist, so Schlegel, «seinem Wesen nach eine prognostische Aussage, deren Wahrheitswert sich erst in der Zukunft erweisen kann.» Wahr könnte beispielsweise folgende Form der Aussage sein: «Ich habe den Willen, all meine Kraft dem Wohle des Volkes zu widmen.» Was aus diesem Willen unter den Bedingungen äusserer oder innerer Zwänge tatsächlich einmal wird, ist bestenfalls abzuschätzen. Deshalb ist die auch die im Landsgemeindeeid enthaltene Formel «So wahr mir Gott helfe» keine Bekräftigung, sondern eine relativierende Rückversicherung. Sollte weder der Wille, noch die Kraft zur Erfüllung des Versprechens ausreichen, bleibt der Glaube aller Beteiligten, wenigstens von Gott nicht im Stich gelassen zu werden.

Was in der Politik wünschenswert, was wahrscheinlich und was möglich ist, kann nur im Bezug auf einen Zeithorizont konkretisiert werden. Dies führt dazu, dass politische Lösungsansätze meistens mit Hoffnungen und Erwartungen verknüpft werden, wobei diese generell und allerseits zu hoch gespannt sind. Politik ist zwar nicht Glaubenssache, aber sie ist von Glaubensfragen schwer zu isolieren, und wo an Menschenmacht geglaubt und gezweifelt wird, kommt es notwendigerweise zu Täuschungen und Enttäuschungen. Politiker, die wie Landammann Arthur Eugster über den Eid minutiös reflektieren und die ihn wie Howard Eugster nur «mit einigem Zittern» geleistet haben, sind wohl verlässlicher als jene, denen der säkularisierte sakrale Akt in erster Linie nur «Spass macht.» Letzteres vermag allerdings glücklicherweise die Hoffnung auf die Hilfe Gottes nicht zu zerstören.

Arthur Eugster, Der Eid mit spezieller Berücksichtigung des appenzellischen Landsgemeinde-Eides, Verlag Typotron, St. Gallen 2008.
Die Publikation ist auch erhältlich bei Arthur Eugster, Spiltrücklistr. 3, 9011 St. Gallen, oder beim Bearbeiter der Publikation, Achilles Weishaupt, Schönen
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