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Die Schweiz als Sonderfall

Lesedauer: 2 Minuten

(Eigentümlich frei/Capitalista Nr. 85, Seite 55)

Paul Widmer: Die Schweiz als Sonderfall, 256 Seiten, 29 Euro, NZZ Libro 2007

Viele Schweizer kennen die paradoxe Situation, dass ausgerechnet die originellsten Elemente ihres politischen Systems infragegestellt werden. Um die mit autonomen Steuer- und Haushaltskompetenzen verbundene wettbewerbliche Kommunalautonomie werden die Schweizer von Bürgermeistern der ganzen Welt beneidet. Sie erlaubt die Gewährung von Steuervorteilen auf kommunaler und kantonaler Ebene und wird deshalb von der EU als Einfallstor zu unerlaubten Fördermaßnahmen gebrandmarkt. Leider ist auch innerhalb der Schweiz das Postulat der Steuerharmonisierung ziemlich populär. Wenn ein Steuerzahler in der einen Gemeinde mit demselben Vermögen und demselben Einkommen 30 Prozent weniger bezahlt als wenn er sich nur wenige Kilometer entfernt niederlassen würde, wird dies mehrheitlich als ungerecht empfunden. Die Überlegung, dass der Steuerwettbewerb als solcher eine Bremse für die Steuerprogression bildet und damit verhindert, dass eine Mehrheit von Nichtreichen eine Minderheit von Reichen immer höher besteuert und zuletzt vertreibt, leuchtet auf den ersten Blick einer Mehrheit nicht spontan ein. Solche Einsichten gewinnen erst im Lauf der Zeit an Glaubwürdigkeit. Die föderalistische Schweiz ist kein Modell, sie ist ein Experiment, das aber auch für andere interessante und direkt verwertbare Erfahrungen vermittelt. Die Schweiz darf, wie der Autor des neuesten Buches über den Sonderfall Schweiz unterstreicht, auf die positiven Seiten ihrer traditionellen Strukturen durchaus stolz sein, sie selbstbewusst wahrnehmen, pflegen und nach innen und außen vertreten. Während der Begriff „Sonderfall“ in den vergangenen Jahrzehnten auch in der Schweiz vor allem unter Intellektuellen verpönt war und als Ausdruck nationalistischer Arroganz gewertet wurde, taucht er in neuester Zeit wieder in Buchtiteln auf. Der Sonderfall Schweiz muss weder relativiert noch harmonisiert oder kaputtreformiert werden. Man muss ihn von den Wurzeln her begreifen und an neue Gegebenheiten adaptieren. Es braucht dabei den Mut zur Vielfalt und die Bereitschaft, jene Kosten zu tragen, die auch dadurch entstehen, dass die Vielfalt natürlich immer auch Suboptimales zulässt. Dass der Konformitätsverweigerer durch seinen Sonderfall den Neid und den Zorn aller Zentralisierten und Harmonisierten anstachelt, sollte man mit Fassung tragen. Der Schweizer Diplomat Paul Widmer, Botschafter beim Europarat, hat mit seinem neuesten Buch einen wichtigen Beitrag zu einem positiven Verständnis des Sonderfalls Schweiz geleistet.

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