(Stiftung für Abendländische Ethik und Kultur)
STAB-Rundbrief Nr. 161
Eine Anklage und eine Verteidigung
Zürich, im September 2008
An den Freundeskreis der Stiftung für Abendländische Ethik und Kultur
Robert Nef, Vorlesung anlässlich der Verleihung der Hayek Medaille, Freiburg i.Br., 28. Juni 2008, gekürzt und redigiert.
Für eine Verteidigung des Mehrheitsprinzips kann man sich auf den Rütlischwur aus Schillers Tell abstützen, eine kurz gefasste inhaltlich und sprachlich geniale Quintessenz der Begründung einer politischen Philosophie der Gemeinschaft.
Wir wollen sein ein einzig Volk von Brüdern,
in keiner Not uns trennen und Gefahr.
Wir wollen frei sein wie die Väter waren,
eher den Tod, als in der Knechtschaft leben.
Wir wollen trauen auf den höchsten Gott
und uns nicht fürchten vor der Macht der Menschen.
Friedrich Schiller, Wilhelm Tell Zweiter Akt, Szene 2
Die Anklage des Mehrheitsprinzips stützt sich auf meine aktualisierten Parodie, die auf die
langfristigen Folgen des Mehrheitsprinzips hinweist:
Wir wollen sein ein einzig Volk von Rentnern
Uns zwangsversichern gegen alle Not
Wir wollen Wohlfahrt, selbst auf Kosten unserer Kinder,
eher Taktieren, als eigenständig sich behaupten.
Wir wollen trauen auf den zentralen Staat
Und uns stets beugen vor der Macht der Mehrheit.
Robert Nef, Liberales Institut, Zweitletzter Akt, zweitletzte Szene
Was liegt zwischen diesen beiden Texten – außer natürlich dem eklatanten sprachlichen Qualitätsunterschied? Es sind 205 Jahre seit Schillers Tell und 717 Jahre seit der historischen Gründung der Eidgenossenschaft 1291. Der verballhornte aktualisierter «Rütlischwur» ist das, was an Freiheit noch übrig bleibt, wenn das Mehrheitsprinzip lange genug, und mit zu wenig Einschränkungen und in Kombination mit dem Repräsentationsprinzip praktiziert wird.
Dies ist die im Lauf der Geschichte sehr unterschiedlich beantwortete Grundfrage: Ist das Mehrheitsprinzip als Verfahren kollektiver Entscheidfindung mit der Idee der Freiheit dauerhaft vereinbar? Als nachdenklicher Beobachter der Realität mit liberaler Optik muss ich die Frage verneinen. Als Schweizer mit familiären Wurzeln im seit über 500 Jahren direktdemokratischen Appenzellerland neige ich zu einem Ja – rationale Skepsis gegen emotionale Zuneigung: was gewinnt?
In dieser Ausgangslage lautet die Frage nicht, ob das Mehrheitsprinzip dauerhaft mit einer umfassenden Freiheitsgarantie vereinbar sei, sondern unter welchen Bedingungen die zunächst für unmöglich gehaltene Kombination, doch noch eine Chance haben könnte.
Mehrheiten tendieren dazu auf Kosten produktiver Minderheiten leben zu wollen und dies auf der Basis des Mehrheitsprinzips durchzusetzen. Das hat zur Folge, dass die Produktivität sinkt, weil Umverteilung weniger produktiv ist als die Investition in den technologischen und ökonomischen Fortschritt, die stets auch auf Risikokapital beruht. Bei sinkender Produktivität sinkt auch die Wettbewerbsfähigkeit, was sich seinerseits durch einen allgemeinen Rückgang des Wohlstandes bemerkbar macht. Die Umverteilung frisst, wie die Revolution und wie Saturn, der Gott der Zeit, buchstäblich die eigenen Kinder, oder verhindert – in einer moderneren Variante – bereits deren Entstehung. Dies ist die pessimistische Sicht, die unter andern Bastiat, von Mises und von Hayek vertreten haben.
Aristoteles und der Primat der Politik
Für Aristoteles war die Demokratie eine Zerfallsform jener «Herrschaft der Vielen», die er Politie nannte. Die ideengeschichtliche Karriere des heute weitgehend positiv aufgeladenen Begriffs Demokratie begann also mit einer radikalen Kritik.
Aristoteles hat das Degenerationspotential des Mehrheitsprinzips treffend erkannt und beschrieben. Seine Staatsformenlehre ist ein Plädoyer für die Mischverfassung. Er unterscheidet die Herrschaft Eines, Einiger oder Vieler. Alle drei Herrschaftsformen können grundsätzlich positiv sein, wenn sie «im Hinblick auf das Gemeinwohl regieren» aber sie sind dann verfehlt, wenn sie nur dem jeweiligen Nutzen von Einem oder von Einigen oder von Vielen dienen. Aristoteles hält eine tugendhafte Herrschaft der Vielen zwar für möglich, aber für unwahrscheinlich. Die Begründung ist rein empirisch: «Dass sich Einer oder Einige an Tugend auszeichnen, ist wohl möglich, dass dagegen viele in jeder Tugend hervorragen, schwierig; am ehesten noch in der kriegerischen, denn diese besitzt die Masse, und darum ist auch in einer solchen Verfassung das kriegerische Element das massgebende, und es haben diejenigen an ihr Teil, die Waffen tragen. Verfehlte Formen im genannten Sinne sind für das Königtum die Tyrannis, für die Aristokratie die Oligarchie und für die Politie die Demokratie. Denn die Tyrannis ist eine Alleinherrschaft zum Nutzen des Herrschers, die Oligarchie eine Herrschaft zum Nutzen der der Reichen und die Demokratie eine solche zum Nutzen der Armen. Keine aber denkt an den gemeinsamen Nutzen aller.» (Aristoteles, Politik, Eingeleitet und übersetzt von Olof Gigon, 3. Buch, Zürich 1971, S. 171 ff.)
Trotz aller Bewunderung für die Hellsicht dieser Beobachtungen, sollte man nicht vor einer fundamentalen Kritik an der griechisch-römischen Staatsphilosophie zurückschrecken. Sie hat das politphilosophische Denken Europas nachhaltig beeinflusst und vergiftet.
Aristoteles hat zwar mit seiner Definition des Menschen als einem politischen Tier, als «Zoon politikon», die Zeitgenossen aus seinem Milieu gut beobachtet, aber er hat damit einer m. E. verheerenden Überbewertung des Politischen und einer folgenschweren Unterbewertung des Privaten, Ökonomischen und Zivilgesellschaftlichen den Weg bereitet. Der homo oeconomicus, der Bauer, der Handwerker, der Dienstleister und der Händler waren für Aristokraten wie er und vor ihm Plato und nach ihm viele nichterwerbsabhängige Schöngeister nichts anderes als Banausen. Diese bemühten sich – abgestützt auf ein Heer von Sklaven und Rechtlosen – um so banale Dinge wie die Bestreitung des eigenen Lebensunterhalts.
Diese Art von Arbeitsteilung zwischen Ökonomie und Politik hat zu der in Kontinentaleuropa weit verbreiteten Geringschätzung des homo oeconomicus und der Wirtschaft im weiteren und engeren Sinn geführt.
Die intellektuelle Bevorzugung des homo politicus vor dem homo oeconomicus ist noch nicht verschwunden. Der «Primat der Politik» geistert als Grundwert einer ergrauten Generation von Mitbestimmungsgläubigen und Basisdemokraten immer noch durch die sozialwissenschaftliche Fachliteratur.
Das Appenzellerland als Gegenstück zum antiken Athen
Die Appenzeller Landsgemeindedemokratie unterscheidet sich stark von der Demokratie im Staat der Athener. (Karl Mittermaier/ Meinhard Mair, Demokratie, Geschichte einer politischen Idee von Platon bis heute, Wiss. Buchgesellschaft, Darmstadt 1995.). Dort wurden die Volksversammlungen drei- bis viermal im Monat einberufen und die Teilnehmer wurden mit einem Taggeld bezahlt. Die Volksversammlung kontrollierte die Beamten, beaufsichtigte die staatlich regulierte Getreideversorgung, den Beschluss über Krieg und Frieden, die Urteilsfindung bei Anklagen wegen Landesverrat, die Durchführung von Scherbengerichten für die Verbannung unliebsamer Mitbürger, die Anhörung von Petitionen und die Wahl von kriegswichtigen Funktionären, für die dann der Krieg dann überlebenswichtig wurde. Der Rat der Fünfhundert versammelte sich fast täglich! Der französische Konvent, der für viele parlamentarische Systeme der Gegenwart zum Modell wurde, hat viele Anregungen aus diesem System übernommen. Politik wird so selbst zur Krankheit für deren Heilung man sie hält.
In markantem Kontrast dazu steht das politische System der beiden Appenzell, die mit politisch vergleichbaren aber religiös und kulturell unterschiedlichen Staats- und Lebensformen seit Jahrhunderten in einem friedlichen Wettbewerb stehen.
Das seit über 500 Jahre nachhaltig praktizierte politische System war tatsächlich direktdemokratisch. Dies widerlegt alle Behauptungen, auch jene des Aristoteles, die Herrschaft der Vielen scheitere über kurz oder lang an ihren internen Systemmängeln, weil es zur Ausbeutung der Minderheit der Reichen durch die Mehrheit der Nichtreichen führe.
An der Landsgemeinde werden für ein Jahr in einer Art Vollversammlung unter freiem Himmel die Wahlen durchgeführt und die Gesetze verabschiedet – häufig mangels Konsens abgelehnt. Der Landammann, der vom Volk beauftragte nebenberufliche Regierungschef, verfügte für ein Jahr über das Landessiegel, mit dem Verträge besiegelt wurden, und er hatte über seine Tätigkeit «zum Wohl des Landes» öffentlich Rechenschaft abzulegen.
Die Regierungs- und Richterämter waren – und sind es zum Teil bis heute – alle nebenberuflich und ehrenamtlich und auf ein Jahr befristet. Politik als Beruf gibt es nicht, sondern nur als Teilfunktion jedes Bürgers. Volksbeauftragte auf Zeit wurden direkt wieder gewählt oder abgewählt. Die Kompetenzen waren seit je eng umschrieben. Sie betrafen vor allem die Aussenpolitik, das Rechtswesen und den kantonalen Strassenbau. Zu verteilen gab es ausser Lasten fast nichts. Der Entscheid zur Beteiligung an einem Feldzug wurde von denselben Leuten gefällt, die nachher auch einrücken mussten, eine Identität von Beteiligten und Betroffenen, die gerade beim Kriegsdienst, bei dem die Gemeinschaft den Einsatz des Lebens verlangt, entscheidend ist. Da hat Aristoteles etwas richtiges beobachtet. Für den Entscheid über Krieg oder Frieden – eine politische Grundfrage, sind jene Vielen, die die Folgen tragen tatsächlich kompetenter als die wenigen, die gegebenenfalls davon profitieren.
Das ist der wesentliche Unterschied zwischen den Sklavenhaltern und politisierenden Müssiggängern in Athen und den auf dem eigenen Heimwesen hart arbeitenden Kleinbauern im Appenzellerland, die gleichzeitig in Personalunion auch die Milizarmee verkörperten: Der Stellenwert der öffentlichen und der privaten Angelegenheiten, der «res privata» und der «res publica» war fundamental verschieden.
Meist wurde an der Landsgemeinde im Verfahren der direkten Demokratie der Minimalkonsens gefunden und häufig sogar mit ganz grossen Mehrheiten. Gelegentlich endete eine Versammlung im Streit, der aber, obwohl jeder eine Waffe trug, nicht blutig ausgefochten wurde. Für einen Tag im Jahr war man ein Zoon politikon. Die übrigen 364 Tage gehörten dem Häämetli (d.h. dem »kleine Heimat» genannten eigenen Hof), seiner privaten Ökonomie und seiner familiären Gemeinschaft und der lokal verankerten Kultur. Fazit: Demokratische Willensbildung basierend auf dem Mehrheitsprinzip ist möglich, wenn sie sich inhaltlich, zeitlich und finanziell auf einen möglichst kleinen Ausschnitt aus dem zivilgesellschaftlichen Leben beschränkt und die Mitbestimmung die Ausnahme und die Selbstbestimmung die Regel bildet.
Die direktdemokratische Praxis der beiden Appenzell ist hier vereinfacht und – zugegebenermassen auch idealisiert – dargestellt worden. Die offene Versammlung ist im seit dem 19.Jahrhundert stark industrialisierten Kanton Appenzell Außerrhoden leider vor etwa 10 Jahren abgeschafft worden. Das Milizprinzip und die relativ schlanken politischen Apparate konnten aber aufrecht erhalten bleiben.
Ist Volkes Stimme Gottes Stimme?
Das Mehrheitsprinzip ist trotz allen Gegenargumenten fast grenzenlos populär, weil es angeblich mindestens der Hälfte der Beteiligten und Betroffenen das vermittelt, was sie sich wünschen und weil man davon ausgeht, dass Mehrheiten am ehesten in der Lage zu seien, zu bestimmen, was für alle gut sei. Vox populi, vox Dei. Volkes Stimme ist Gottes Stimme. Die Formulierung geht angeblich auf Alkuin zurück, der sie in einem Brief an Karl den Grossen – allerdings kritisch – anmerkte. Lichtenberg hat in seinen Sudelbüchern die Formel gelobt und gesagt, es sei selten in vier Worten so viel Weisheit verpackt worden.
Das klassische Mehrheitsprinzip zählt die Stimmen pro Kopf, bzw. pro Person, auch wenn diese den Kopf nicht benützt, sondern nur «aus dem Bauch» entscheidet. Folgt man dem Mehrheitsprinzip, das eine erstaunlich hohe Akzeptanz hat, nimmt man in Kauf, dass schlimmstenfalls beinahe die Hälfte der Beteiligten sich mit Fremdbestimmung abfinden müssen, oft auch «die bessere Hälfte». Immerhin, nur knapp die Hälfte.
Ist nun das Glas des Mehrheitsprinzips halb voll, oder ist es halb leer? In einer Diktatur werden schlimmstenfalls alle permanent wider ihren Willen zu einem Tun oder Unterlassen gezwungen. Das kann aber auch beim Mehrheitsprinzip der Fall sein. Wenn dieses nämlich als Ausscheidungsverfahren gegenüber einer Vielfalt von Wahlmöglichkeiten benützt wird, steigt der Anteil an Fremdbestimmung von Wahlgang zu Wahlgang an, und es ist sogar wahrscheinlich, dass in einer pluralistisch zusammengesetzten Gruppe in einem Ausscheidungsverfahren nach Mehrheitsprinzip letztlich überhaupt niemand mehr jene Lösung erhält, die er oder sie selbst spontan für die beste hält.
Pro/Contra: Demokratie als Abschiebung bzw. Abschaffung der persönlichen Verantwortung
Hans Kelsen weist in seinem berühmten Essay «Vom Wesen und Wert der Demokratie» (1929) auf die im Johannesevangelium überlieferte Pilatusfrage hin. Was ist Wahrheit? Er stellt sie im Zusammenhang mit der Aussage Jesu «Ich bin der Juden König», und unterbreitet dann die Wertungsfrage einer Art Volksabstimmung, in der die Mehrheit sich durch lautes Rufen manifestiert. (Dies ist übrigens ein in der politischen Institutionengeschichte vertrautes und immer wieder praktiziertes archaisches Abstimmungsverfahren zur Ermittlung der Mehrheit).
Das Resultat ist eindeutig: Jesus soll gekreuzigt und der Barabbas freigesprochen werden. Ein folgenreiches Todesurteil aufgrund eines fragwürdigen Mehrheitsentscheids.
Die schwierige Antwort auf die Frage, ob die damalige Mehrheit die Frage aus juristischer oder aus heilsgeschichtlicher Sicht richtig oder falsch beantwortet hat und ob die zentrale Geschichte nun für oder gegen das Mehrheitsprinzip als Verfahren der persönlichen Enthaftung spricht, lasse ich hier offen.
Bedingungen, die zwingend mit dem Mehrheitsprinzip verknüpft werden sollten
Was ist nun die Wahrheit bei der Beantwortung der Frage ob das Mehrheitsprinzip die Freiheit schütze oder bedrohe? Die Frage kann nicht mit Ja oder Nein beantwortet werden, weil es, wie auch Hayek darauf hingewiesen hat, auf die Rahmenbedingungen ankommt. Das Mehrheitsprinzip (one person, one vote) ist bezüglich Freiheit zunächst einmal ambivalent und birgt ein beachtliches Gefährdungspotential für die Freiheit.
Unter folgenden Bedingen ist das Mehrheitsprinzip möglicherweise doch mit Freiheit kompatibel:
Erstens: Das Mehrheitsprinzip darf ausdrücklich nicht für Verteilungs- und Umverteilungsprozesse verwendet werden.
Zweitens: Mehrheitsprinzip ist zunächst auf die Vereinbarung von Regeln über die Wahl und Abwahl der für gemeinsame Angelegenheiten Beauftragten zu beschränken. Dieser Auftrag ist seinem Wesen nach zeitlich und inhaltlich zu beschränken.
Drittens: Das Mehrheitsprinzip eignet sich zusätzlich als Grundlage eines Vetos gegen neue Lasten und Regulierungen. Es ermöglicht eine oft paradoxe, aber gegen «Mehr Staat» wirksame Koalitionen der Ablehner. Es gibt zwar keine psychologischen aber doch entscheidungslogische Gründe, dass eine Ablehnung immer konsensfähiger und mehrheitsfähiger ist als eine Befürwortung, da die Gründe einer Ablehnung immer breiter abgestützt sind, als die einer Zustimmung. (Selbstverständlich können politische Fragen in Referenden immer so formuliert werden, dass man als Gegner Ja stimmen muss und als Befürworter Nein, das ändert aber nichts an der Tatsache, dass es mehr oft Gründe gibt, etwas Neues gemeinsam abzulehnen als anzunehmen).
Viertens: Das Mehrheitsprinzip ermöglicht eine Einigung über die gemeinsame Abwehr von Gefahren, die man als gemeinsame Bedrohung wahrnimmt. Was für alle schlecht ist, ist konsensfähiger als was für alle gut ist. Wilhelm Busch hat es in «Die fromme Helene» (1872) auf den Punkt gebracht: »Das Gute – dieser Satz steht fest – Ist stets das Böse was man lässt». Darum ist das, was man gemeinsam unterlassen soll konsensfähiger als das was gemeinsam zu tun ist.
Das sind also thesenartig die inhaltlichen Voraussetzungen unter denen das Mehrheitsprinzip möglicherweise freiheitsverträglich ist.
Dazu kommen historisch-psychologischen Voraussetzungen. Es braucht eine traditionelle und institutionelle Vernetzung mit einer Art von vorbestehender Freiheitsliebe und einer gefühlsmässigen Beisshemmung der Mehrheit gegenüber Minderheiten. Ohne den Instinkt gegen jede Art von Macht läuft das Mehrheitsprinzip Gefahr, jene kreative Dissidenz zum Verschwinden zu bringen, auf die längerfristig auch Mehrheiten angewiesen sind. Der Minderheitenschutz schützt letztlich die Mehrheit vor dem kollektiven Verdummen, aber mit dem Minderheitenschutz wird auch viel Unfug getrieben. Er wird dient oft als Einfallstor für Gruppenprivilegien aller Art. «Die wichtigste Minderheit ist das Individuum». (Ayn Rand).
Mitbestimmung gemäss Mehrheitsprinzip hat keinen Selbstzweck. Sie hat gegenüber der individuellen Selbstbestimmungen lediglich einen subsidiären Stellenwert. Ich erinnere an den Vorrang der «kleinen Heimat» vor der grossen Heimat im Verhältnis von 364 zu 1 im Appenzellerland. Die Beweislast für die langfristige Praktikabilität und den gemeinsamen Nutzen tragen jene, die Privatautonomie nach dem Selbstbestimmungsprinzip durch kollektive Autonomie nach dem Mehrheitsprinzip ersetzen wollen.
Man sollte ihnen den Beweis vor dem intellektuellen Forum, das politische Macht zunächst theoretisch und dann auch praktisch beurteilt, nicht zu leicht machen. Das Mehrheitsprinzip ist trotz Alkuins und Lichtenbergs Formel «vox populi vox Dei» und in Übereinstimmung mit Hans Hoppe «ein Gott der keiner ist». (Hans Hoppe, Demokratie. Der Gott der keiner ist, (The God that failed) Waltrop und Leipzig 2003).
Der Zwang, und vor allem der Zwang zum Guten, oder zu dem, was eine Mehrheit für gut hält, macht Vielfalt zur Einfalt und hat insgesamt eine auch für die Gemeinschaft destruktive Wirkung. Jede kreative Gemeinschaft beruht auf dem friedlichen Wettbewerb, und wenn das Mehrheitsprinzip dazu missbraucht wird, unliebsame Lösungsvarianten auszuschalten, degeneriert es zur Herrschaft der jeweils tonangebenden Populisten.
Was ist nun aber nicht nur mehrheitsfähig, sondern sogar umfassend und dauerhaft konsensfähig? Das ist nichts anderes als die gemeinsame Abwehr einer gemeinsam nichtgewollten Entwicklung und niemals die Herstellung eines gemeinsam gewollten künftigen Zustandes.
Die Demokratie kann auf die Dauer nur als selbstbeschränkte Demokratie bestehen. Die «Geglückte Demokratie», wie ein neueres Buch von Edgar Wolfrum Deutschland zu nennen beliebt (Stuttgart 2006), erhält sich nicht dadurch, dass man in allen Bereichen «mehr Demokratie wagt». Im Gegenteil, man muss es wagen, das Mehrheitsprinzip in jene engen Schranken zu weisen, die weder die ökonomische noch die kulturelle Entwicklung einer spontanen Ordnung hemmen. Es braucht dazu das, was Hayek in seinem Zürcher Vortrag vor 30 Jahren postuliert hat: «Die Entthronung der Politik»
«Eine unbeschränkte Demokratie zerstört sich notwendigerweise selbst, und die einzige Beschränkung, die mit Demokratie vereinbar ist, ist die Beschränkung aller Zwangsgewalt auf die Durchsetzung allgemeiner, für alle gleicher Regeln. Das bedeutet aber, dass alle Eingriffe in den Markt zur Korrektur der Einkommensverteilung unmöglich werden.» (Friedrich August von Hayek, In: Überforderte Demokratie? Sozialwissenschaftliche Studien des Schweizerischen Instituts für Auslandforschung Bd. 7, Zürich 1978, S. 29.f.)
Wenn die Politik entthront wird, wird auch der Weg frei zur strikt liberalen Auffassung, der Staat sei nichts anderes als ein Zweckbündnis zur Verteidigung der individuellen Freiheit. Nicht mehr und nicht weniger. Wäre es doch dabei geblieben! Die Menschheit hätte sich die meisten kriegerischen Menschen- und Wertvernichtungsorgien des 19. und vor allem des 20 Jahrhunderts ersparen können, wenn sie Gewaltanwendung nur zur kollektiven Selbstverteidigung, zum Eigentumsschutz im engern Sinn gegenseitig toleriert hätte. Die von entfesselten «homines politici» im Namen einer «höhern Gerechtigkeit» angezettelten vaterländischen Kriege unter Nationalstaaten und Bündnissen entsprangen einem andern Staatsverständnis: Dem Mythos des Staates als Wirtschafts- und Lebensgemeinschaft im Geiste der Eroberung, der Gier nach Macht und der Sucht nach nationalem Ruhm.
Taugt das Mehrheitsprinzip als Hort der Freiheit? Soll das Urteil über das Mehrheitsprinzip nach dem Mehrheitsprinzip gefällt werden, oder soll jeder für sich selbst entscheiden? Hier mein persönlicher Entscheid: Was für mich, meine Familie, meine Nächsten, Nachbarn, Freunde und Arbeitskollegen gut ist, versuche ich täglich prüfend, kommunizierend und einfühlend herauszufinden. Was das Gute und für alle das Beste ist, weiss ich nicht. Aber ich zweifle ernsthaft, ob Mehrheiten das besser wissen.