Politik ist sowohl ein Kampf mit Begriffen als auch ein Kampf um die für sinnvoll gehaltene inhaltliche Besetzung von Begriffen.
Interviewer: Peter Kuster, Finanz und Wirtschaft, 30.07.2008
Politik ist sowohl ein Kampf mit Begriffen als auch ein Kampf um die für sinnvoll gehaltene inhaltliche Besetzung von Begriffen. Ein Monopol für die richtige Definition gibt es nicht. Das gilt auch für das traditionsreiche und leider stets schillernde Adjektiv liberal. Es wird heute in dem Sinn amerikanisiert, als man es immer mehr für einen Stil und weniger für Inhalte verwendet. Dieser Stil orientiert sich nach jener Mitte, die nach allen Seiten offen und kompromissbereit ist und letztlich nur noch den Grundsatz der Grundsatzlosigkeit hochhält: das Arrangement im Parallelogramm der in der veröffentlichten Meinung tonangebenden Kräfte.
Keine Partei, kein Publizist und kein Professor und auch kein Think Tanker kann das «richtige Verständnis» einer sprachlichen Äusserung allgemeinverbindlich verordnen. Bedeutung und Bedeutungswandel sind spontane Prozesse, an denen zwar die professionellen Sprachbenützer in der Politik und in den Medien mit ihren Deutungs- und Umdeutungsversuchen aktiv teilnehmen, aber meist mehr zur Verwirrung als zur Klärung beitragen.
Der «Ausnahmen»-Liberalismus
Während der beiden Weltkriege und des Kalten Krieges kamen die klassisch-liberalen Ziele, Freiheit durch Eigenverantwortung und gegenseitig zugemutete Mündigkeit, zunehmend unter Druck, und die teils notwendigen, teils aus Popularitätsgründen akzeptierten Staatsinterventionen haben bis heute Hochkonjunktur. Der Protektionismus gegenüber der eigenen Klientel, sei es im Agrarbereich, in der Exportindustrie, in Dienstleistungsbereichen oder auch nur in populistisch organisierte Interessengruppen mit den gesinnungsethisch aufgeladenen Motiven einer gerechteren, ökologischeren, solidarischeren oder patriotischeren Schweiz, lieferten die Argumente, um vom liberalen Pfad der Eigenverantwortung und der Zwangs- und Staatsskepsis abzuweichen. Schliesslich unterschieden sich in den letzten Jahrzehnten die Spielarten liberaler Politik nur noch durch das bunte Gemisch an schlecht und recht begründeten Ausnahmen vom Grundsatz des Vorranges der Freiheit. Die Grenze des eigentlichen Verrats an den eigenen Prinzipien wurde und wird dabei nicht selten überschritten.Wer in diesem Wirrwar zur parteiideologischen Disziplin aufruft, muss klar sagen können, was er darunter versteht.
Zurzeit ist in der Schweiz viel vom «liberalen Flügel» der SVP die Rede, der sich definitiv von der Mutterpartei gelöst hat. Auf die Frage nach der Abgrenzung wird auf Stilfragen verwiesen und auf die insgesamt liberalere Grundhaltung. Die Zahl der Politiker, die sich selbst gern «liberal» nennen ist am Zunehmen, während die stolze Partei, die ursprünglich .diesen Namen trug, die Fraktionsstärke nicht mehr erreicht hat und bis Ende Jahr voll in die FDP inkorporiert werden soll, ob durch Fusion oder in Form einer Neugründung wird zur Zeit diskutiert.
Die Liberalen waren ursprünglich ideell durch ihr kompromissloses Bekenntnis zum Privateigentum und zur Privatautonomie verbunden. Sie befürworteten seit je einen gut funktionierenden Ordnungsstaat und lehnten den bevormundenden Daseinsvorsorge-, Wohlfahrts- und Umverteilungsstaat ab. Ihre Wirtschafts- und Steuerpolitik basierte auf möglichst offenem Freihandel, moderater Besteuerung und einer Beschränkung aller staatlichen Interventionen und Subventionen auf das notwendige Minimum. Für die Unabhängigkeit des Landes gegen aussen bekannten sie sich zum Neutralitäts- und Universalitätsprinzip basierend auf einer wirksamen Verteidigung des eigenen Territoriums durch eine modern gerüstete und gut ausgebildete Milizarmee.
Wer heute ohne parteipolitische Scheuklappen nach den konsequentesten Vertretern dieser Politikinhalte forscht, wird zunächst nur noch einige markante Einzelkämpfer an den jeweils wirklich liberalen Parteiflügeln entdecken. Eine Partei, die diese Ziele geschlossen und konsequent vertritt, sucht man vergeblich.
Alle etablierten Parteien, die sich liberal nennen, auch die Grünliberalen, haben ihren spezifischen Kompromiss mit den jeweils populäreren Widersachern geschlossen. Der sich nun verselbständigte sogenannt liberale Flügel der SVP hat allerdings vermutlich von allen bürgerlichen Parteien den geringsten Bezug zum klassischen Liberalismus. Er verknüpft die parteiübergreifend allgegenwärtige Skepsis gegenüber Fremdem mit Modernisierungsangst, wohlfahrtsstaatlichem Konservatismus und Agrarprotektionismus, den man möglicherweise in diesen Kreisen sogar innerhalb der EU für gesicherter hält als ausserhalb. Vertreten wird er von Exponenten, die zwar dank der Popularität des Blocherflügels gewählt wurden, als Gewählte aber beim politischen Gegner anbiederten, um sich heute als besonders mutige und eigenständige oder «liberale» Volksvertreter feiern zu lassen.
Der als besonders unliberal gescholtene Christoph Blocher hat sich im Lauf der Jahre vom bürgerlich-konservativen Mittelstandsprotektionisten zum Wirtschaftsliberalen entwickelt, dem man sogar glaubt, dass seine EU-Gegnerschaft nicht einer schweizerischen Igelmentalität entspringt, sondern einer liberalen Skepsis gegenüber einer protektionistischen, bürokratischen und zentralistisch gleichgeschalteten «Festung Europa». Seine Stammwählerschaft mag dies anders sehen, aber der von Blocher inspirierte Zielkatalog der SVP Schweiz, Steuersenkung durch Ausgabendisziplin, Bekämpfung der Auswüchse des Wohlfahrtsstaats, der Bürokratie und des Richterstaates, Stop des leisetreterischen und anpasserischen Souveränitätsabbaus in Richtung EU-Sozialdemokratie, entsprechen weitgehend dem Zielkatalog eines konsequenten Liberalismus.
Die Mehrheit der «hohlen Hand»
Auf der Negativseite muss die Toleranz gegenüber dem ausufernden Agrarprotektionismus gebucht werden. Diesbezüglich verdient aber keine bürgerliche Partei den liberalen Preis für den Mut zur Unpopularität. Immerhin gibt es dort noch ein liberales Gefälle zwischen SVP und FDP. Es dürfte der Hauptgrund dafür sein dafür, dass die SVP-Dissidenten den Weg in die FDP nicht beschreiten wollen. Im Agrarbereich und in andern protektionistischen regionalpolitischen Bunkern ist ihnen diese Partei möglicherweise doch zu liberal – das Abstimmungsverhalten der abtrünnigen Mandatsträger wird dies bestätigen..
In der Landesregierung haben die routinierten Vertreterinnen und Vertreter einer interventionistischen «Politik der hohlen Hand» – unabhängig von der Parteizugehörigkeit – ohnehin die Mehrheit. Wenn die Stärkung der «liberalen Kräfte» lediglich in der Förderung der sprachlichen Vernebelung ursprünglich liberaler Zielsetzungen besteht, ist sie nur ein weiterer Schritt in Richtung Bevormundungsstaat. Glücklicherweise gibt es heute an den Universitäten und auf Blogs jüngere politisch Interessierte, die sich wieder für einen strikten Liberalismus interessieren, jenseits der in den Medien überbewerteten persönlichen Machtkämpfe im Lager der Altachtundsechziger und ihrer Gegner.