Zum Inhalt springen

Sicherheit durch Freiheit

Lesedauer: 5 Minuten

Beitrag zur Festschrift von Otto Graf Lambsdorff, Der Freiheit verpflichtet, Band 2, Hrsg. von:Jürgen Morlok, De Gruyter Oldenbourg 2007, S. 71 – 75 https://doi.org/10.1515/9783110505047

In den letzten Jahren ist der Terrorismus zu einer der grössten Bedrohungen der Freiheit und der Sicherheit der Menschen geworden. Zur Bekämpfung der politisch und religiös motivierten Gewalt werden weltweit Sicherheitsmassnahmen ergriffen, welche die persönliche Freiheit der Menschen einschränken. Auch zur Bekämpfung anderer Phänomene (organisierte Kriminalität, gewalttätiger Extremismus, Hooliganismus etc.) werden neue gesetzliche Grundlagen gefordert, diskutiert und beschlossen, die mehr Sicherheit auf Kosten der Freiheit mit sich bringen. Schliesslich wird auch die Gewährleistung der sozialen Sicherheit im Sinne einer „Freiheit von Not“ als eine der zentralen Aufgaben des Staates gedeutet.

Diese Entwicklungen werfen Fragen auf: Wie weit darf, soll oder muss der Staat die persönliche Freiheit einschränken oder eine Einschränkung der persönlichen Freiheit in Kauf nehmen, um den Schutz vor Gewalt und die Gewährleistung der materiellen Existenzgrundlage sicherzustellen? Wie weit müssen wir es als Individuen zulassen, dass der Staat unser Einkommen und Vermögen besteuert und in unsere privaten Angelegenheiten eingreift, um uns als Gegenleistung kollektive und soziale Sicherheit anbieten zu können?

Das Spannungsfeld zwischen Freiheit und Sicherheit gehört zu den zentralen ethischen und politischen Herausforderungen. Die Diskussion darüber wird durch die Tatsache erschwert, dass die beiden Grundwert „Freiheit“ und „Sicherheit“ schwer zu definieren sind und dass deren Verknüpfung zu vielen Missverständnissen Anlass gibt.

Freiheit und Sicherheit lassen sich am besten durch die Abwesenheit der jeweils vitalen Bedrohungen – einerseits Zwang und anderseits unberechenbare Gefahr – umschreiben. Sie sind als Grundwerte eigentlich konstant und unveränderlich und unterliegen keinem Wertewandel. Was sich ändert sind die jeweils vorherrschenden Bedrohungen.

Meist werden die beiden Werte so verknüpft, dass man argumentiert, Sicherheit könne nur auf Kosten von Freiheit erlangt und geschützt werden. Dies ist ein verhängnisvoller Irrtum. Benjamin Franklin hat zu Recht davor gewarnt, Freiheit und Sicherheit gegeneinander auszuspielen „Wer Sicherheit auf Kosten der Freiheit bewahren will, verliert zuletzt beides“.

Anzustreben ist also jene Sicherheit, die nicht trotz Freiheit sondern wegen Freiheit und durch Freiheit gewährleistet ist. Sie beruht auf Robustheit und Immunisierung und auf der spontanen Mobilisierung der jeweils notwendigen Gegenkräfte: Sicherheit durch ein Netzwerk von gegenseitigem Vertrauen, das nur in Freiheit entsteht und das sich nur in Freiheit entwickeln kann, um den Preis, dass sich Vertrauen, Enttäuschung und Risikobereitschaft immer wieder neu einpendeln müssen. Sicherheit kann letztlich nicht durch eine zentrale Instanz produziert und garantiert werden. Sie entsteht in einem Netzwerk von Risikoteilung durch wechselseitige Zumutungen und Erwartungen und durch vielfältige spontane soziale Lernprozesse und gegenseitige Kontrollen.

Je non-zentraler, d.h. je föderalistischer eine Gesellschaft organisiert ist, desto kleiner ist die Einheit, die durch Fehldispositionen im Sicherheitsbereich gefährdet ist und die durch kollektive Ängste und Panik jene Gelassenheit verliert, die man mit gutem Grund als Selbstsicherheit bezeichnet. Vor allem im publizistisch politischen Bereich wird zum Verhältnis von Freiheit und Sicherheit viel Paradoxes, Zynisches und Heuchlerisches geäussert. Einmal haben Freiheit und Sicherheit eine individuelle und eine kollektive Komponente, die miteinander verquickt sind. Kollektive Freiheit, das heisst Unabhängigkeit, kann mit individueller Knechtschaft verbunden sein, und die kollektive Sicherheit ist stets mit dem Klumpenrisiko belastet, dass das Kollektiv seine Versprechungen nicht mehr einhalten kann oder will und damit eigentlich die individuelle Sicherheit auf die Dauer permanent in Frage stellt.

Die Meinung, Sicherheit sei ein Kollektivgut, das letztlich nur von einer zentralen Macht (im Idealfall von einem Weltstaat) gewährleistet werden könne, hat sich im Lauf der Weltgeschichte als verhängnisvoller Irrtum erwiesen. Die optimale Verknüpfung von Freiheit und Sicherheit kann nicht zentral geplant werden, sondern ist in gemeinsamen Lernprozessen immer wieder neu zu erarbeiten. Lernprozesse basieren aber auf Versuch und Irrtum und auf dem Wettbewerb um die jeweils optimale Lösung, bei dem Misserfolge vermieden und Erfolge kopiert werden. Dadurch wird die Unsicherheit kollektiver Risiken abgebaut, ohne dass dabei die individuelle Freiheit geschmälert wird. Dies funktioniert nur in zahlreichen nicht zentralisierten Einzelfällen und mit hohen Fehlerquoten. Insgesamt bleibt aber eine solche non-zentrale auf freien individuellem Einzelentscheiden beruhende Sicherheitsproduktion robust. Je grösser nun die Zahl ist, die gemeinsam plant und damit „Sicherheit produziert“, desto grösser ist die Gefahr des gemeinsamen grossen Irrtums, der das Gesamtsystem destabilisiert, die Verletzlichkeit und die kollektiven Risiken erhöht. Sicherheit ist daher in einer Kombination von Freiheit und Non-Zentralität am besten aufgehoben.

Die liberal-rechtsstaatlichen Doktrin kennt ein Prinzip, das sehr ernst zu nehmen ist, obwohl es zu wenig weit geht: „In dubio pro libertate, im Zweifel für die Freiheit.“ Aus liberaler Sicht darf man sich jedoch nicht damit begnügen, der Freiheit lediglich „im Zweifel“ den Vorrang zu geben. Sie ist das Grundprinzip liberaler Politik. In einzelnen Fällen muss allerdings von diesem Grundprinzip abgewichen werden, aber alle, die dies postulieren, tragen die Beweislast, dass Eingriffe und Zwang wirklich im ursprünglichen Sinn not-wendig sind. Auch konsequente Liberale haben in begründeten Situationen die Bereitschaft, Zwang zu akzeptieren, vor allem wenn er dazu dient, die Freiheit zu schützen und zu gewährleisten.

Ausgangspunkt jeder freiheitlichen Politik sollte der mündige Mensch sein, dem zugemutet wird, seine Probleme eigenständig zu lösen. Eigenständigkeit als Grundwert bedeutet keinesfalls, dass das friedliche Zusammenleben in einer arbeitsteiligen Welt keine Kooperation braucht. Für jede Kooperation muss aber der Partner auch selbst etwas einbringen, und in jedem Menschen steckt etwas Eigenes und Einzigartiges, ein Tauschpotential, das ihn für eine Kooperation wertvoll macht. Wer gegenüber seinem Mitmenschen in erster Linie Ansprüche stellt und auf Rechte pocht, wählt einen verhängnisvollen Einstieg in einen Prozess, der auf dem freien Austausch von Angeboten und Nachfragen aller Art beruht. Auch ein funktionierendes Gemeinwesen beruht auf der Übernahme von selbstgewählten Pflichten. Erst wenn ein solches Netzwerk von Verpflichtungsangeboten bereit steht, können analog dazu auch Rechte abgeleitet werden. Die Freiheit und Würde des Menschen beruht darauf, dass er seinen Beitrag an das Gemeinwesen, seine Verantwortung, selbst bestimmen kann. Eine Gemeinschaft, die ihren Mitgliedern diese Eigenständigkeit einräumt, geht auch das Risiko ein, dass einzelne Menschen ihre Pflichten verletzen oder nur unvollkommen wahrnehmen. Abweichendes, verantwortungsloses und rechtswidriges Verhalten kann in einer liberalen Gesellschaft nie absolut verhindert werden. Es bleibt stets ein Restrisiko. Aber auch eine freiheitliche Gesellschaft muss sich gegen Verbrechen und Missbräuche schützen und darf die Schwachen nicht im Stiche lassen.

Um diesen Grundsätzen nachleben zu können, braucht es personenbezogene, vertragliche und kleinräumige Netze der Sicherheitsproduktion und der Hilfeleistung. Die persönliche Eigenständigkeit ist die Ausgangsbasis für alle Formen freiheitlicher Gemeinschaft. Wenn sie nicht generell und möglicherweise nicht einmal von einer Mehrheit gewünscht wird, so ist sie doch allen zumutbar. Wir müssen einander gegenseitig Mündigkeit zumuten, im wahrsten Sinn des Wortes.

Eigenständigkeit existiert weder am Anfang noch am Ende des Lebens; wir werden nicht frei geboren, denn wir stehen zu Beginn des Lebens in einer vollständigen Abhängigkeit und verlieren auch im Alter oft wieder einen Teil unserer Selbständigkeit. Wir sind dann möglicherweise auf die Netzwerke der Fürsorge und auf verschiedene Arten von Hilfe angewiesen. Aus freiheitlicher Sicht sollen solche Hilfeleistungen stets nach den Grundsätzen „So wenig wie möglich, so viel wie nötig.“ ausgerichtet werden und „je privater desto besser“. Was notwendig ist, lässt sich umso besser beantworten, je näher sich die Betroffenen und Beteiligten persönlich kennen. Darum ist auch die Nächstenliebe anthropologisch viel besser fundiert als die Fernstenliebe. Es wird hier nicht für eine Abschaffung aller sozialen Aufgaben des Staates plädiert, aber man sollte sie jenen politischen Organisationen zurückgeben, die eine Begegnung von Mensch zu Mensch ermöglichen und die die Leute kennen, damit sich keine Missbräuche etablieren. Die Basis des Zusammenlebens in Wirtschaft, Gesellschaft und Staat sind die kleinen Netzwerke der persönlichen Hilfeleistung.

Die gemeinsame Basis von Freiheit und Sicherheit ist der Friede. Friede entsteht entgegen einer weit verbreiteten Ansicht nicht durch die Umsetzung eines allgemein oder mehrheitlich akzeptierten Gerechtigkeitsmodells, sondern durch einen generellen Verzicht, die eigenen Gerechtigkeitsideale uneingeschränkt durchzusetzen. Er beruht unter anderem auf dem Einfühlungsvermögen in die Bedürfnisse anderer, auf der Bereitschaft zum Kompromiss, auf dem „Ja zur Unschärfe“, auf dem Akzeptieren der Verjährung, auf der Unschuldsvermutung, auf dem Verzicht auf allgemeinverbindliche Letztbegründungen, auf dem „common-sense“ des anständigen Durchschnittsmenschen, auf dem Verzicht bei andern und bei sich selbst nach den letzten Motiven des Handelns und Verhaltens zu fragen, auf einem Erwachen aus dem Alptraum rächender und kompensierender Geschichtlichkeit in der eigenen Biographie und in der Geschichte der Gemeinschaft in der man lebt. Neben dem „Prinzip Frieden“ beruht die Gesellschaft auf dem Prinzip von „Treu und Glauben“, eine Art „Sympathiegenerator“, den man letztlich im eigenen Interesse beachtet und betreibt. Die Zukunft einer arbeitsteilig hoch vernetzten globalisierenden Dienstleistungsgesellschaft liegt bei Zivilrechtsgesellschaften mit umfassender Privatautonomie, die sich auf einen gesellschaftlichen und nicht auf einen staatlichen „ordo“ stützen. Das Primat der Politik wird abgelöst durch das Primat der Gesellschaft, der „homo politicus“ durch den „homo oeconomicus cultivatus“.

Schlagwörter:

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert