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Freiheit – Widerstand und Gemeinschaft

Lesedauer: 5 Minuten

(Publiziert in: 6 Essays über unsere 3 Säulen Freiheit, Demokratie, Menschenwürde, Schriftenreihe Pro Libertate, Nr. 20, August 2007, S. 3-6)

Die Freiheit ist keine «Erfindung» der Neuzeit. Ihre menschheits- und individualgeschichtliche Geburtsstunde ist das Bewusstwerden der Möglichkeit «Nein» zu sagen, wenn jemand anderer etwas von uns verlangt, das wir selbst nicht wollen. Freiheit hat darum sehr viel mit kreativer Dissidenz zu tun und mit der Respektierung von Minderheiten, und die entscheidende Minderheit ist das Individuum, das wissen wir spätestens seit Ayn Rand.

Das Alte Testament verlegt dieses «Nein» gegenüber Vorschriften bereits an den Anfang der Menschheitsgeschichte, als Eva das Verbot brach, den Apfel vom Baum der Erkenntnis zu essen. Die Entdeckung der Freiheit, die impliziert, dass wir zwischen «gut» und «böse» unterscheiden können, wird in der Schöpfungsgeschichte bemerkenswerterweise mit einem Akt weiblicher Dissidenz in Verbindung gebracht: Eva, als Ursprung der Freiheit. Eva heisst, wörtlich übersetzt, das Leben. Ein eindrückliches Symbol für die tiefe Wurzel des Freiheitsstrebens ist auch der Exodus des Volkes Israel aus der ägyptischen Knechtschaft ins «gelobte Land» und später seine unauslöschbare Sehnsucht nach der Heimkehr aus dem im Exil in der «babylonischen Gefangenschaft». In der griechischen Mythologie setzt sich ein Mann, Prometheus, über das Verbot des Zeus hinweg, und bringt den Menschen das Feuer, das gleichzeitig nützlich und gefährlich ist. Auch hier ist Widerstand im Spiel. Ein weiteres Beispiel kreativer Dissidenz verkörpert aber auch im griechischen Kulturkreis eine Frau: Antigone; für sie waren Sittengebote wichtiger als das auf Staatsräson abgestützte Recht. Das Gefühl der Freiheit entsteht im Widerstand gegen Fremdbestimmung, gegen Pflichten, Vorschriften und Forderungen, die man weder innerlich noch äusserlich akzeptiert. Freiheit ist ein Exodus aus der Knechtschaft, eine Weigerung, abhängig zu sein verbunden mit der Bereitschaft, die Folgen zu tragen.

Widerstandsrecht und Gruppenautonomie

Freiheit hat aber nur dann Bestand, wenn sie auf dem gegenseitigen Respekt vor der Freiheit des andern beruht, auf der allgemeinen Anerkennung der Menschenwürde. Widerstand allein genügt nicht um gleichzeitig Freiheit und Menschenwürde zu schützen. Dies kommt im Gründungsmythos der Schweiz besonders deutlich zum Ausdruck. Im Schillerjahr darf einmal mehr dankbar daran erinnert werden, dass der deutsche Dichter mit seinem «Wilhelm Tell» der Schweiz einen ausserordentlich tragfähigen und zukunftstauglichen Staatsmythos geschenkt hat, den viele völlig zu Unrecht zum alten Eisen werfen möchten, weil sie seine aktuelle Botschaft nicht verstehen. Das Schauspiel zeigt den engen Zusammenhang zwischen Widerstand und Gemeinschaft. Tell erschiesst den Tyrannen Gessler und wird zum Inbegriff des gerechtfertigten Tyrannenmörders. Man hat oft die Geburtsstunde der Freiheit mit dem Tyrannenmord und dem Widerstandsrecht gleichgesetzt, und auch mit den Hinweisen auf Eva, Moses, Prometheus und Antigone wird hier die Bedeutung der Dissidenz und des Nein-Sagens stark betont. Dies ist aber nur die Hälfte der politischen Befreiung. Wer sich vom Tyrannen befreit, steht nachher vor dem Problem, gemeinsame Probleme gemeinsam beweglich zu lösen – möglichst auf lokaler Ebene. Rechte – auch Menschenrechte – müssen nicht nur durch die Bedrohung durch Tyrannen geschützt werden, sondern als Aufgabe der Gemeinschaft auch gegen die Bedrohung durch Mehrheitsentscheide, da sich ja stets auch eine «Tyrannei der Mehrheit» etablieren kann. Es muss ein Minimum an politischen Zwangsstrukturen geschaffen werden, welche die Ordnung gewährleisten, die gemeinsame Verteidigung dieser Ordnung sicherstellen, gleichzeitig aber auch die Freiheitsrechte und die Autonomie von Minderheiten und des Individuums – als der letztlich wichtigsten Minderheit – schützen. Es muss auch eine Grenze für die Regierungsstrukturen dieser inneren Ordnung fixiert werden. All das haben – und dies ist nicht nur mythisch, sondern auch historisch – die auf der Waldwiese «Rütli» versammelten Eidgenossen beschlossen, beschworen und verbrieft. Daraus folgt eine mögliche Definition von Freiheit, die nur drei Worte beansprucht, die aber ohne Kenntnis der Gründungssage und Gründungsgeschichte der Schweiz nicht verständlich ist. Freiheit gleich «Tell plus Rütli», d.h. Widerstand gegen fremdbestimmende Autoritäten und Mächte in Verbindung mit der Bereitschaft zur Einordnung in eine freie Gemeinschaft.

Tell symbolisiert das Konzept der negativen Freiheit, die Eidgenossen auf dem Rütli symbolisieren die Notwendigkeit sich ein gemeinsames positives Programm zu geben, je knapper desto besser, der Bundesbrief von 1291 hatte auf einem einzigen Pergamentblatt Platz. Leider sind der Vertrag von Maastricht und der Verfassungsvertrag der EU viel umfangreicher. Es ist unbestreitbar, dass die Formulierung eines positiven Konzepts, das die Menschen zur Freiheit führt, und zur Freiheit befähigt, eine wichtige Sache ist. Nur ist es sehr schwierig, darüber einen dauerhaften Konsens zu finden. Wer weiss denn wirklich und mit dem Anspruch auf Universalität, was den mündigen Menschen ausmacht? Auch darüber sollte es einen Wettbewerb geben, analog dem Wettbewerb zwischen Firmen. Wir brauchen einen Wettbewerb zwischen verschiedenen Ordnungsvorstellungen bis hinunter zu den kleinen und kleinsten Gruppierungen.

Warum dieser Blick in die mythische und historische Vergangenheit, sollten wir nicht lieber in die Zukunft schauen? Weil es einfach leichter ist, sich darüber zu einigen, was man gemeinsam nicht will, als über die positiven Inhalte der individuellen, der ökonomischen, kulturellen und politischen Zielsetzungen, die sich eben nach Ort und Zeit verändern. Gerade weil heute Vieles im Fluss ist, gewinnen politische Konzeptionen an Bedeutung, welche offen sind für die Adaptation an Ort und Zeit und nur ein Minimum an gemeinsamen Zielen festlegen: die negative Freiheit, die Freiheit von Zwang, Willkür und Bevormundung. Eine Zivilgesellschaft, die auf einem Netzwerk individueller und einvernehmlich änderbarer Verträge basiert, ist immuner, kreativer und anpassungsfähiger als eine Gesellschaft, die einen geschlossenen Kanon geltender Zwangsnormen beschliesst, selbst wenn dieser dem neuesten Stand des sozialwissenschaftlichen Irrtums entspricht. Die Zukunft gehört dem Netzwerk der Privatautonomie und nicht der Hierarchie nationaler und internationaler oder gar globaler Normensysteme. Dieses Netzwerk ist voll von kleinen Irrtümern, aber es vermeidet den grossen kollektiven und möglicherweise tödlichen Irrtum, der doch «so gut gemeint war».

Vom Stellenwert non-zentraler Experimente

Die Meinung, Grundwerte wie Freiheit, Recht und Gemeinschaft seien in einer Welt, die sich wandelt, auch immer wieder neu gemeinsam und allgemeinverbindlich zu definieren, ist meines Erachtens verfehlt. Wir stehen weder «am Anfang» noch «am Ende», wenn wir aber die Herausforderungen einer Gesellschaft freier und mündiger Menschen vor Augen haben, so ist die Vorstellung, wir befänden uns einer Frühzeit einer auf Privatautonomie aufbauenden Zivilgesellschaft zukunftsträchtiger als die immer wieder beschworene Spätzeit-Stimmung, verbunden mit der pessimistischen Voraussage eines Untergangs der abendländischen Zivilisation. Der Fundus an menschheitsgeschichtlichen Erfahrungen bildet auch in den kommenden Jahren und Jahrzehnten die Basis des grundsatztreuen Politisierens. Man muss heute zwischen «wertkonservativ» und «strukturkonservativ» unterscheiden. Wertkonservative möchten nicht alles bewahren, aber das Wesentliche. Die bestehenden Strukturen und Institutionen sind den jeweiligen Erfordernissen der Zeit anzupassen und zwar nicht aufgrund objektiver Erkenntnisse, sondern aufgrund von vielfältigen friedlich konkurrierenden Experimenten, bei denen man die erfolgreichen kopiert und die nicht-erfolgreichen als abschreckende Beispiele meidet. Wir dürfen auf einem Grundstock von Erfahrungen aufbauen. Wir sollten nicht dauernd die politisch-moralische Frage nach der «sozialen Gerechtigkeit» («is it just?») in den Vordergrund stellen, sondern die Frage «funktioniert’s auf die Dauer?» («does it work?»). Was nicht funktioniert, kann nämlich auch nicht nützlich, nicht gut, und damit auch nicht gerecht sein. Um herauszufinden, was funktioniert, brauchen wir aber den Mut zu Experimenten. Diese sollten nicht zu gross sein, weil sonst das Risiko steigt, aber auch nicht zu klein, weil sonst die Kosten des Scheiterns von allzu wenigen getragen werden müssen. Die Idee der Non-Zentralität, der vielfältigen Experimente , die sich nach Ort und Zeit unterscheiden wird immer wichtiger. Also soll jeder für sich ein wenig experimentieren, nach dem Motto «Jeder für sich und Gott für alle»? Nein! Das Interessante ist ja gerade der Erfahrungs- und Meinungsaustausch über Experimente. Wir sollten nicht dauernd versuchen, grenzüberschreitend und global über alles Inhaltliche, Programmatische einig zu werden. Die Freiheit ist weltweit in verschiedenster Hinsicht, zeitlich und örtlich und inhaltlich unterschiedlich gefährdet, aber es ist immer dieselbe Freiheit. Wichtig ist, dass wir untereinander ein Netzwerk des Erfahrungsaustausches betreiben, in welchem alle Beteiligten von den jeweiligen Verschiedenheiten und Übereinstimmungen Verschiedenes lernen können. Für jeden ist etwas anderes nützlich und wichtig, die gemeinsame und notwendige Voraussetzung, dies wahrzunehmen und umzusetzen ist aber Offenheit, Vielfalt und Freiwilligkeit.

Freiheit und Menschenwürde und freiwillig praktizierte Moral haben in einer Welt, deren ökonomische und soziale Strukturen einem starken Wandel unterworfen sind, einen bleibenden Stellenwert. Sie sind die Kompassnadel, welche die allgemeine Richtung angibt, ohne die Anmassung, gleich alle konkreten Einzelfragen allgemeinverbindlich beantworten zu können.

(Dieser Text wurde in kürzerer Form auch in «Finanz und Wirtschaft» vom 29. Juli 2006 publiziert.)

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