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Fjodor M. Dostojewskij: Der Grossinquisitor

Lesedauer: 3 Minuten

Eine Phantasie (Ausschnitt aus dem Roman „Die Brüder Karamasow“)

Der Autor


Dostojewskij ist 1821 in Moskau geboren. Er ist 1849 wegen der öffentlichen Lesung eines verbotenen Textes zum Tod durch Erschiessen verurteilt worden. Das Urteil wurde in letzter Minute nicht vollstreckt und in eine Zuchthausstrafe verwandelt, die er während 5 Jahren in Sibirien abbüsste. Nach einem bewegten Leben, das von weiteren Schicksalsschlägen, längeren Auslandaufenthalten, gesundheitlichen Problemen und wirtschaftlichen Nöten geprägt war, verstarb er 1881 nach kurzer Krankheit in St. Petersburg, zwei Monate vor der Ermordung des Reformzaren Alexander II. Trotz der schicksalhaften Verknüpfung seiner Lebensgeschichte mit der Politik Russlands und trotz einer Biographie, die von Rebellion, Repression, Gefängnis, Verfolgung und Flucht (auch vor seinen Gläubigern) geprägt ist, kann man Dostojewskij nicht als politischen Dichter bezeichnen. Er hat sich in seinen Romanen und Erzählungen vor allem mit psychologischen und religiösen Fragen befasst und um ein neues freiheitliches Verständnis des christlichen Glaubens gerungen.

Entstehungs- und Rezeptionsgeschichte

Dostojewskijs Gesamtwerk ist nicht in erster Linie im grösseren Rahmen der politischen und wirtschaftlichen Ideengeschichte zu würdigen. Sein Name gehört auch nicht in eine „Galerie berühmter liberaler Autoren“. Dennoch ist der Monolog des Grossinquisitors aus seinem letzten grossen Roman, zu dem er noch eine Fortsetzung geplant hatte, ein Schlüsseltext zum Verhältnis von Glauben, Autonomie, Freiheit und Glück. Er hat eine Fülle von Sekundärliteratur ausgelöst, die das subtile Spannungsfeld von Individuum und Institution, von Gläubigen und Kirchen sowie von Kirche, Autorität und Staat betreffen, alles Kernthemen des Liberalismus. Die Diskussion um die Deutung der phantastischen Geschichte des spanischen Grossinquisitors, der den für kurze Zeit in Sevilla wieder erschienenen Christus in einem langen Monolog belehrt, die Kirche hätte seine gefährliche Botschaft der Freiheit aller Christen zur selbstverantworteten Glaubensentscheidung und Lebensführung zu korrigieren, beginnt schon innerhalb des Romans zwischen den beiden ungleichen Brüdern Aljoscha und Iwan. Die Grundfrage lautet, ob der Durchschnittsmensch Freiheit überhaupt verdient, erträgt und wünscht oder ob man ihm nicht letztlich jede Entscheidung, auch die Entscheidung zum Glauben, besser abnehmen würde.

Dostojewskij selbst scheint verschiedene Deutungen des Schlüsseltextes offen zu lassen, aber seine Sympathie gilt doch dem Angeklagten Christus, der beharrlich schweigt, nach der Verkündung des Todesurteils seinen Widersacher und Ankläger umarmt und schliesslich „im Dunkel der Nacht verschwindet“, ohne daran gehindert zu werden. Eine von Autoritäten verordnete und unter Strafandrohung erzwungene Entscheidung ist aus dieser Sicht mit einer frei gewählten und verantworteten Überzeugung und auch mit dem Prinzip der Liebe nicht vereinbar. Letztlich kann keine weltliche und kirchliche Autorität absolut und total über dieses Prinzip verfügen.

Würdigung

Der Autor dieses Beitrags hat als Dozent des Fachs „Politische Bildung“ an der Pädagogischen Hochschule Zürich während vieler Jahre den Text als Diskussionsgrundlage zur Frage nach dem Stellenwert der Freiheit verwendet und damit auf die Gefahren jeder institutionellen Bevormundung und Vereinnahmung aufmerksam gemacht. Die Meinung des Grossinquisitors, es gebe Menschen, die aus ihrer Position und Erfahrung heraus „besser wissen“, was für andere, ja, was für alle „gut“ sei, ist jungen Menschen aus eigener Erfahrung vertraut und gelegentlich auch suspekt und verhasst. Sie ist einerseits der Kern jeder totalitären Anmassung und Bevormundung, aber auch der Ansatzpunkt des wohlwollenden pädagogischen und politischen Engagements aller Welt- und Menschheitsverbesserer. Die Wahl zwischen einer Ordnung, die entweder mehr Freiheit oder mehr Glück verheisst, fällt nicht leicht. Aus liberaler Sicht ist die Freiheit mit dem Streben nach Glück allerdings enger verknüpft, als dies die Grossinquisitoren aller religiösen und politischen Konfessionen vermuten.

An der Schwelle vom Lernenden zum Lehrenden, die jeder Mensch im Lauf seines Lebens mehrmals in beide Richtungen überschreitet, vermittelt der Text wertvolle Denkanstösse zum Umgang mit Freiheit, Autorität und Ordnung und trägt mehr zur Ideengeschichte der Freiheit bei als manches umfangreiche philosophische, politische oder ökonomische Standardwerk oder Lehrbuch.

Zitate

„Wir haben Deine Tat verbessert und sie auf dem Wunder, dem Geheimnis und der Autorität gegründet. Und die Menschen freuten sich, dass sie wieder wie eine Herde geleitet wurden.“ (Reclam S. 30).

„Haben wir etwa nicht die Menschheit geliebt, als wir so freundlich ihre Schwäche anerkannten, ihre Bürde liebevoll erleichterten, demütig ihre Ohnmacht einsahen, liebreich ihre Bürde erleichterten und ihrer schwächlichen Natur sogar die Sünde gestatteten, wenn sie mit unserer Erlaubnis geschah?“ (Reclam S. 31)

„Und so nahmen wir das Schwert des Kaisers. Da wir es nahmen, verwarfen wir natürlich Dich und folgten ihm.“ (Reclam S. 33).


Robert Nef ist Leiter des Liberalen Instituts in Zürich und Mitherausgeber und Redaktor der Schweizer Monatshefte

  • Fjodor Dostojewskij, Der Großinquisitor, übersetzt von Rudolf Kassner, Insel Bücherei, Leipzig 1914 (48 S.)
  • Derselbe: Der Großinquisitor, Eine Phantasie, Kapitel aus dem Roman „Die Brüder Karamasow“, übersetzt von Hermann Röhl, Reclam, Stuttgart 1949 (62 S.)
  • Derselbe: Der Großinquisitor, übersetzt von Wolfgang Kasack, Insel, Frankfurt/M, 2003 (90 S.)
  • Derselbe: Der Großinquisitor, übersetzt von Rosemarie Tietze, dtv, München (80 S.)
Publiziert in: Die Idee der Freiheit, Eine Bibliothek von 111 Werken der liberalen Geistesgeschichte, NZZ-Verlag, Zürich 2007

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