(Schweizer Monat – Debatte – Ausgabe 952 – April 2007)
Staatsskepsis ist nicht rückständig
Die Wahl- und Abstimmungsbeteiligung von Schweizer Frauen ist im internationalen Vergleich unterdurchschnittlich, und sie soll seit den letzten Jahren sogar rückläufig sein. Wo liegen die Gründe? Gibt es tatsächlich auch nach zwei Generationen noch das «mangelnde Interesse für Politik» als Folge der späten Einführung des Frauenstimmrechts, oder haben wir eine neue Phase der Frauenemanzipation erreicht, in der viele Frauen selbstbewusst genug sind, um ihr aktives Desinteresse an der Politik offen zu deklarieren, es auch zu praktizieren und andere Prioritäten zu setzen? Das Rollenverständnis der Geschlechter ist seit je durch zahlreiche Vorurteile, Mythen und traditionell tief verankerte Klischees bestimmt, die grösstenteils jenseits der Politik liegen.
Die Frauenbewegung hatte das Ziel, jede Ungleichbehandlung der Frauen abzuschaffen, nötigenfalls um den Preis einer zusätzlichen Bevormundung aller durch egalitäre Zwangsvorschriften. Möglicherweise sind es heute ausgerechnet die wirklich emanzipierten Frauen, die das Gefühl der permanenten Benachteiligung abgelegt haben und für den verbissenen politischen Kampf um sogenannte «Frauenanliegen» kaum noch Verständnis aufbringen, sondern eher mit den Nachteilen hadern, die gut gemeinte Schutz- und Fördermassnahmen mit sich bringen.
Das Thema «Frau und Politik» verlangt zunächst eine Analyse dessen, was es dazu an Allgemeingültigem überhaupt zu bemerken gäbe. Der markanteste Schritt auf dem Weg der Frauenemanzipation war nicht das politische Frauenstimmrecht (das die Gesellschaft effektiv zwar etatistischer, aber nicht durchwegs frauen- und damit auch menschenfreundlicher gemacht hat), sondern die zivilrechtliche Vermögensfähigkeit, die uneingeschränkte Erbberechtigung und das Scheidungsrecht, sowie die Öffnung der Märkte, speziell der Arbeitsmärkte.
Der Feminismus des letzten Jahrhunderts ging davon aus, dass es einen Geschlechterkampf gebe, bei dem der Staat die Aufgabe habe, mehr Gleichberechtigung herbeizuführen. Gesellschaftliche und wirtschaftliche Ungleichheiten sollten durch staatliche Zwangsvorschriften und durch Massnahmen im Erziehungsbereich beseitigt werden. Der Staat wurde als «Freund und Helfer» der Frauen gedeutet, kurz: mehr Gleichberechtigung durch mehr Staat. Die Vorstellung, dass ein überregulierter Staat sich in vielen Fällen auch gegen die Interessen vieler Frauen wendet und dass mehr Markt und mehr Privatautonomie wirksamere Beiträge zum Abbau veralteter Klischees und Vorurteile leisten könnten als klagbare Rechte, hat sich erst in den letzten Jahren entwickelt.
Der Markt, auch der Arbeitsmarkt, bewertet im deregulierten Spannungsfeld von Angebot und Nachfrage ausschliesslich die Leistung. Wenn es zutrifft, dass Frauen – vor allem in einer Dienstleistungsgesellschaft – Gleiches oder sogar Besseres zu leisten imstande sind als Männer, wird jede erzwungene Gleichbehandlung überflüssig und kontraproduktiv, und möglicherweise wird sie schon in naher Zukunft zum Kampfinstrument von sich diskriminiert fühlenden abgewiesenen männlichen Stellenbewerbern. Jene Frauen, deren «Politik» einfach darin besteht, im komplexen Geflecht von Angeboten und Nachfragen so kreativ, produktiv und attraktiv wie möglich zu sein, sehen im kämpferischen Feminismus ein Relikt aus dem 20. Jahrhundert. Gefragt ist heute nicht der Kampfgeist, sondern die «soziale Phantasie» und das Einfühlungsvermögen in vorhandene und entstehende Bedürfnisse. Jene Anliegen, die die Frauen selbstbewusst ins partnerschaftliche und familiäre Netzwerk und in ihre Arbeitsverträge einbringen und dort aufgrund ihres faktischen Einflusses und ihres Verweigerungspotentials auch durchsetzen, sind die wertvollsten und wirksamsten Beiträge zur tatsächlichen Gleichberechtigung, die Gleiches gleich und Ungleiches nach Massgabe der Ungleichheit ungleich behandelt.
Viele Anliegen der Gleichberechtigung sind in der täglichen massgeschneiderten Praxis besser zu realisieren als über konfektionierte Gesetze, die sehr oft dem Einzelfall nicht gerecht werden. Vorurteile werden am wirksamsten dort bekämpft und überwunden, wo sie herstammen, nämlich im Alltagsbereich, der als «Sozio-Kultur» vor allem in der Kleingruppe und in der Familie anderen Gesetzmässigkeiten folgt als die politische Gemeinschaft. Das wirksamste Steuerungsmittel ist dort nicht der Zwang, sondern die Erziehung, die sich vor allem in der rollenprägenden Kleinkinderzeit fest in Frauenhänden befindet.
In Abwandlung eines 68er Spruchs könnte man sagen «Männer werden nicht als Machos geboren, sie werden zu Machos erzogen» – von wem eigentlich? Warum ist bei vielen Frauen trotz ihrer real existierenden (aber wenig genutzten) Schlüsselstellung bei der sogenannten Rollensozialisation der Glaube an die frauenbefreiende Staatsintervention so stark entwickelt? Warum erwarten sie ihr Heil vom Staat, der doch seinem Wesen nach mit seinem Zwangsmonopol und seinen hierarchischen Institutionen eher eine männliche Erfindung ist? Ich glaube nicht, dass die Frauen generell einen «natürlichen Hang» zum Sozialismus bzw. zur linken oder linksgrünen Politik haben. Es trifft zu, dass der militante Feminismus der 60er Jahre zusammen mit den Neolinken marschierte. Diese wurden aber von hellhörigen und feinfühligeren Genossinnen schon früh als ganz gewöhnliche Machos entlarvt.
Die intensiven Erfahrungen, die viele Frauen in der Familiengemeinschaft sammeln können, dürfen und müssen, machen sie oft gegenüber Grossorganisationen, Machtgebilden und Hierarchien aller Art skeptisch. Sie interessieren sich nicht für kämpferische Auftritte auf der öffentlichen Bühne und bevorzugen massgeschneiderte, lebensnahe, praktikable Lösungen. Frauen haben durchschnittlich eine (empirisch nachgewiesene) höhere Begabung für sprachliche Kommunikation als Männer und sind daher für vertragliche und verträgliche Lösungen sozialer Konflikte stärker prädestiniert. Kurz, sie sind für eine Umsetzung des Subsidiaritätsprinzips in Richtung «kleiner Netze» und aufgrund von Selbsthilfeorganisationen in hohem Mass geeignet, und sie sind weniger anfällig auf alle Spielarten des kollektiven Machbarkeitswahns.
Dies ist wohl einer der Hauptgründe der unter Frauen heute eher zunehmenden allgemeinen Skepsis gegenüber der «grossen Politik». Politik wirkt oft wie ein mehr oder weniger absurdes und lebensfernes Männerspiel, vergleichbar etwa mit dem Mannschaftssport. Eine Sitzverschiebung im Parlament und ein Regierungswechsel verändert das Leben der Frauen weniger als ein Wechsel in der Familie, am Wohnort oder am Arbeitsplatz. Ist es – aus liberaler und staatskeptischer Sicht – so daneben, wenn Frauen diesen Fragen mehr Zeit und Energie widmen?
Liberale Politik will, anstelle von Gewalt und Herrschaft, Vertrag und Konsens (wörtlich: übereinstimmendes Gefühl) ins Zentrum rücken. Und wer wäre berufener als Frauen, die Herrschaft dort zu entlarven, wo sie sich als allgemeinverbindlicher Zwang etabliert hat. «Ja zur Freiheit» bedeutet nicht einfach «Ja zum erbarmungslosen Wettbewerb», sondern «Ja zu jener spontanen Ordnung» als Resultat eines Dauerexperiments privatautonomer kleinerer und grösserer Vertrags- und Kommunikationsnetze. Wenn für immer mehr Frauen das Private Priorität erlangt und die Politik als bisweilen lächerliches Machtspiel durchschaut wird, so spricht das weniger gegen die Frauen als gegen die Politik als solche.
Robert Nef
ist Publizist und Autor, Mitglied der Mont Pèlerin Society sowie der Friedrich August von Hayek-Gesellschaft. Nef war von 1991 bis 2008 Redaktor und Mitherausgeber der «Schweizer Monatshefte». Er lebt als freier Publizist in St. Gallen.