(NZZ – WIRTSCHAFT – Dienstag, 10. April 2007, Seite 17)
Das Feuer der Freiheit. Wichtige Beiträge zur liberalen Idee (14)*
Voltaire gehört mit zahlreichen Zitaten und oft auch nur zugeschriebenen Aussprüchen zum festen Bestand der populären Lebensphilosophie. Mit dem Motto «Ecrasez l’infame» warnte er vor allen Formen des religiösen Fanatismus und der Intoleranz, und mit der Quintessenz des Romans «Candide», «il faut cultiver notre jardin», brachte er alle Auswüchse des dogmatischen und konstruktivistischen Philosophierens auf den Boden der praktischen Lebenskunst und der intellektuellen Selbstbescheidung zurück.
«Candide» gehört als bewährte «Schullektüre» im Französischunterricht immer noch zu den meistgelesenen kleinen Romanen und Erzählungen, die insgesamt einen guten Einblick in Voltaires Philosophie vermitteln, obwohl Voltaire das Buch wohl kaum zum «unsterblichen Bestand» seines Gesamtwerkes gezählt hätte. «Candide» verkörpert als Romanfigur den treuherzigen, vom Pech verfolgten Empiriker, der zwar offen ist für alle Belehrungen der philosophischen Theorie, aber daraus seine eigene praktische Überlebensstrategie zusammenbastelt, die in der wenig heroischen Erkenntnis gipfelt, es solle jeder seinen eigenen Garten pflegen.
Kein Glaube an eine gütige Vorsehung
Voltaire gehört zwar zu den Wegbereitern der Französischen Revolution, aber er hat bereits den Kern der Revolutionskritik und der Verachtung für alle Ausbrüche menschenverachtender Intoleranz, totalitärer Herrschaft und fundamentalistischer Gewalt vorweggenommen. «Candide» ist zunächst eine Satire auf den dogmatisch verfochtenen konservativen Optimismus von Pope und Leibniz. Einerseits widerlegt Voltaire die Behauptung, dass wir in der besten aller möglichen Welten leben, anderseits stellt er aber auch alle arroganten Versuche der systematischen Weltverbesserung in Frage, ein Anliegen, das in einer andern Erzählung, «Le monde comme il va» – «Die Welt, wie sie ist», im Zentrum steht, aber auch im «Candide» zum Zug kommt.
«Arbeiten wir, ohne zu philosophieren, denn
das ist das einzige Mittel, das Leben erträglich zu machen.»
Voltaire
Die Darlegung von Grundproblemen der «condition humaine» durch Dialoge zwischen einzelnen, von ihm wie Marionetten geführten, typisierten Figuren ist das Kernstück von Voltaires Methode der Aufklärung durch kontroverse Wissens- und Erfahrungsvermittlung. Er lädt seine Leserschaft zum Selbstdenken ein und fordert sie auf, bei der Bekämpfung vorherrschender Dogmen und fragwürdiger Autoritäten mitzuwirken. Voltaire entlarvt im «Candide» den demütigen Glauben an eine gütige Vorsehung und warnt damit davor, auf jede Auflehnung gegen irdisches Unrecht und Elend zu verzichten. «Candide» enthält implizit durchaus mehr als nur die privatistische Botschaft, den eigenen Garten zu pflegen und sich nur (aber immerhin) um die eigenen Angelegenheiten zu kümmern. Während es für den denkenden Menschen durchaus vernünftig sein kann, die Unabwendbarkeit von Ungerechtigkeit und Leiden zu akzeptieren, kann der fühlende und mitfühlende Mensch dennoch immer wieder versuchen, das scheinbar Unabänderliche im Rahmen des jeweils Möglichen zu verändern. Durch das Pflegen (cultura) des eigenen Gartens kann ein fruchtbarer Beitrag zur allgemeinen Kultur geleistet werden.
Voltaire im Original
«Nun wohl, mein lieber Pangloss, sagte Candide, als Ihr gehängt, seziert, mit Schlägen überschüttet wurdet und als Ihr auf der Galeere rudern musstet, dachtet Ihr da immer noch, dass alles in der Welt zum Besten bestellt sei?» – «Ich bin immer noch meiner ursprünglichen Ansicht, antwortete Pangloss, denn schliesslich bin ich Philosoph, ein Widerruf kommt mir nicht zu, da Leibniz nicht unrecht gehabt haben kann und die prästabilierte Harmonie ebenso wie der erfüllte Raum und die immaterielle Substanz das Schönste ist, was es auf der Welt gibt.» (S. 99)
«Ich weiss auch, sagte Candide, dass wir unseren Garten bebauen müssen.» – «Ihr habt recht, sagte Pangloss, denn als der Mensch in den Garten Eden gesetzt wurde, geschah dies, auf dass er ihn bebaue, was beweist, dass er nicht zum Ausruhen geschaffen wurde.» – «Arbeiten wir, ohne zu philosophieren, sagte Martin, denn das ist das einzige Mittel, das Leben erträglich zu machen.» (S. 105)
Robert Nef
Leiter des Liberalen Instituts, Zürich
Voltaire: Candide. Reclam, Leipzig 1971. 120 S.
Von seinen Zeitgenossen verehrt
R. N. Voltaire, eigentlich François-Marie Arouet, wurde 1694 in Paris geboren. Wegen seiner satirischen Schriften wurde er im absolutistischen Frankreich zunächst verfolgt. Im Exil in England lernte er den gegenüber allen Institutionen und Autoritäten skeptischen religiösen Deismus, den philosophischen Empirismus und die Theorie und Praxis des Liberalismus kennen und in Preussen am Hof Friedrichs des Grossen den aufgeklärten, säkularisierten Absolutismus. In seinem Werk gelingt ihm eine Synthese dieser Strömungen mit der Eleganz und dem Raffinement der französischen Literatur. Als Voltaire 1778 in Paris starb, wurde er als weltbekannter Dichter und Philosoph von seinen Zeitgenossen hoch verehrt. Er hat den Geist des aufgeklärten Rationalismus mitgeprägt, ihn aber in seinem literarischen Werk und in seiner immensen Korrespondenz auch selbstkritisch hinterfragt und für neue Ansätze geöffnet. Von seinem historischen, philosophischen und literarischen Gesamtwerk, das 70 Bände umfasst und in alle Weltsprachen übersetzt worden ist, werden heute ausserhalb von Fachkreisen nur noch die kleinen Romane und Erzählungen gelesen.
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* Die Serie «Das Feuer der Freiheit» stellt jeden Dienstag ein für die Entwicklung der liberalen Idee wichtiges Werk vor. Eine Biografie des Autors, Angaben zur Entstehungs- und Rezeptionsgeschichte, eine inhaltliche Zusammenfassung unter dem Aspekt der Freiheit und einige Zitate sollen Lust zur Lektüre und zum Nachdenken machen. Die Beiträge aus Politologie, Ökonomie, Philosophie und Literatur von der Antike bis zur Gegenwart werden im Juni 2007 im NZZ-Verlag zusammen mit über 80 weiteren Texten im Buch «Das Feuer der Freiheit. Eine Bibliothek von 111 Werken der liberalen Geistesgeschichte» erscheinen.
17. April: Milton Friedman: Kapitalismus und Freiheit