Zum Inhalt springen

Schnittstellen der Verantwortlichkeit

Lesedauer: 6 Minuten

(Schweizer Monat – Dossier: «Scheitern ist nicht strafbar» – Ausgabe 950 – Dezember 2006)

Wo Konkurrenz herrscht, gibt es auch Konkurse. Die sprachliche Verwandtschaft beider Begriffe ist kein Zufall, sondern deutet auf innere Zusammenhänge hin, deren vielfältige Schnittstellen Gegenstand dieses Beitrags sind.

Eine erste Schnittstelle zwischen Konkurrenz und Konkurs liegt zwischen Scheitern und Erfolg. Die Auffassung, dass der Erfolg des einen Unternehmens nur um den Preis des Scheiterns eines andern stattfinde, dass also der Markt eigentlich einem Nullsummenspiel gleiche, beruht auf einer Fehldeutung des Wettbewerbsprinzips. Die historischen Erfahrungen mit der kapitalistischen Wirtschaft bestätigen diese resignierte Sicht nicht. Der generelle Produktivitätszuwachs ist weltweit statistisch dokumentiert. Nicht nur die Lebenserwartung, auch die materielle Lebensqualität ist in den letzten 200 Jahren um so markanter gestiegen, je weniger Fesseln dem Unternehmertum und dem Freihandel angelegt worden sind.

Es gibt auf der Seite des ökonomisch Schöpferischen, wenigstens was den materiellen Wohlstand anlangt, einen messbaren Fortschritt. Ob dadurch die Menschen dauerhaft glücklicher wurden, ist eine offene Frage. Immerhin, Armut und materielles Elend wohnen nahe beisammen, und das muss berücksichtigt werden, bevor man den Beitrag des materiellen Fortschritts zum Glück der Menschheit grundsätzlich bestreitet und den wachsenden Wohlstand nur als Quelle zunehmender Gier qualifiziert. Wer, wie Rilke, die Armut als «grossen Glanz aus Innen» besingt, tut dies in der Regel von einem bequemen Schreibtisch aus.

Eine zweite Schnittstelle verläuft zwischen Leistung (bzw. Fehlleistung) und Konstellation (bzw. unbeeinflussbaren Fremdfaktoren und veränderten Randbedingungen). Die breite Öffentlichkeit neigt dazu, unternehmerische Tätigkeit und Firmenmanagement primär als Leistung auf der einen und als Versagen auf der andern Seite der Erfolgsskala zu bewerten. Der Erfolgreiche ist ein Held, der Erfolglose eine Niete. Daran ist nicht nur der Starkult der Wirtschaftsmedien schuld. Die erfolgreichen Unternehmer tragen dafür selbst eine erhebliche Mitverantwortung. Wer als «Manager des Jahres» die Titelseite eines bekannten Wirtschaftsmagazins ziert, wird in Interviews kaum zugeben, er habe eben gute Konstellationen angetroffen oder schlicht und einfach Glück gehabt. Niemand präsentiert sich gern als Glücksritter der jeweiligen Konjunktur. Ein erfolgreicher Unternehmer oder Manager wird vielmehr darauf hinweisen, er habe eben die richtigen Investitions- und Personalentscheide getroffen und ein erfolgreiches Marketing betrieben und sei generell innovativ, kreativ, attraktiv und trendbewusst gewesen, oder er sei im richtigen Moment gegen den Strom geschwommen und habe etwas riskiert, das dann zum Erfolg geführt habe. Im Falle eines Misserfolgs können solche direkten persönlichen Zurechnungen von Leistung und Erfolg zum Bumerang werden. Wenn es zu den Pflichten der wirtschaftlich Verantwortlichen gehört, sich mit all den erwähnten Qualitäten zu profilieren, dann wird eben ein Verhalten, das in den Misserfolg mündet, schnell einmal als «unsorgfältig», «pflichtwidrig» oder gar als «fahrlässig» qualifiziert, obwohl in vielen Fällen die nicht beeinflussbaren Faktoren an der Herbeiführung des Misserfolgs, bzw. am Ausbleiben des Erfolgs erheblich mehr Anteil haben. Der Misserfolg trifft nicht immer, aber doch recht häufig die falschen, vor allem weil im Zeitablauf wirtschaftlicher Aktivitäten die gegenwärtig verantwortliche Führungscrew oft das erntet, was ihre Vorgänger gesät (oder eben nicht gesät) haben.

Eine dritte Schnittstelle zieht sich zwischen Scheitern und Schädigung. Nach Ansicht des Basler Handelsrechtslers Peter Böckli dreht sich beim Problem des ökonomischen Misserfolgs alles um die Frage der Schädigung. Scheitern als solches erzeugt weder eine Haftung noch hat es strafrechtliche Folgen. Rechtlich massgebend ist der Begriff der Schädigung. Scheitern ist erlaubt, aber die widerrechtliche Zufügung eines Schadens führt zu Schadenersatzansprüchen. Mit andern Worten: bei einem unternehmerischen Misserfolg, bzw. bei einer Liquidation oder einem Konkurs, stellt sich die Frage, inwiefern eine Menschengruppe A durch das wirtschaftende Verhalten der Menschengruppe B geschädigt worden ist und wie dieses schädigende Verhalten juristisch zu beurteilen sei. Misserfolg ist erster Auslöser, der nicht zwingend rechtserhebliche Schäden erzeugt, aber eben doch relevant ist. Er ist der erste Schritt auf das Phänomen der Schädigung hin. Wenn es in der Folge auch noch zu einer Pflichtverletzung kommt, so Böckli, dann ist das klassische, explosive rechtliche Gemisch aufbereitet, nämlich «Schädigung von A durch rechtswidriges Verhalten von B». Dies führt dann heute fast regelmässig zu einer Schadenersatzklage, bei der die Frage nach dem Verschulden und dem adäquaten Kausalzusammenhang zwischen Pflichtverletzung und Schaden im Zentrum steht. Was die Medien in diesen Fällen tun, ist eine implizite oder explizite Schuldzuweisung vor dem Beginn des gerichtlichen Verfahrens. Das ist für die Betroffenen persönlich belastend und vielen Fällen auch nicht fair. Immerhin können die Medien einen Entrüstungssturm weder auslösen noch aufrechterhalten, wenn nicht erhebliche Anhaltspunkte für das erwähnte «explosive rechtliche Gemisch» (Schädigung durch pflichtwidriges Verhalten) vorliegen.

Der Zürcher Handelsrechtsler Peter Forstmoser weist darauf hin, dass das Scheitern für wirtschaftliche Verantwortungsträger vor allem massive persönliche Konsequenzen haben kann, wobei er differenzierend beifügt: «Solange es nicht zum Konkurs kommt, bleibt vielfach Schlampigkeit ungeahndet, kommt es aber einmal zum Konkurs oder zu einer Nachlassstundung, dann sind Schadenersatzansprüche heutzutage Routine.» Das Resultat solcher Klagen ist für die Geschädigten meist bescheiden und liegt in der Regel tief unter dem, was vor Gericht geltend gemacht wird. Der Nachweis der Pflichtverletzung ist angesichts der komplexen Aufgabe der Verantwortungsträger nicht leicht zu führen, die Prozesse arten oft in jahre- oder jahrzehntelange Abnützungskriege aus, und die Kläger gehen am Ende nicht selten leer aus. Verantwortlichkeitsklagen haben aber für die Betroffenen enorme Einbussen an Lebensqualität zur Folge.

Eine vierte Schnittstelle verläuft zwischen Zivilrecht und Strafrecht. Während für Laien, die häufig in den Medien über Misserfolge von Unternehmen und Unternehmern berichten, die Begriffe Verantwortung, Schuld, Schadenersatzpflicht und Strafe auf derselben Argumentationsebene liegen und von jenen gelegentlich wild durcheinandergemischt werden, liegen aus fachjuristischer und auch aus philosophischer Sicht Welten dazwischen. Wer andern Menschen aufgrund einer gescheiterten Unternehmung widerrechtlich Schaden zufügt, wird diesen gegenüber (und ausschliesslich diesen gegenüber) zu Schadenersatz verpflichtet. Anders urteilt das Strafrecht. Verletzt ist aus strafrechtlicher Sicht die öffentliche Ordnung. Es macht Schuldner dann zu Schuldigen, wenn sie gegen Strafnormen ver-stossen. Der Staat selbst tritt im Strafprozess als Kläger auf und muss den Angeklagten ihre Schuld nachweisen. In der Regel geht es um die Frage, ob es im Zusammenhang mit wirtschaftlichen Misserfolgen zu betrügerischen Handlungen oder «ungetreuer Geschäftsführung» gekommen sei. Die Sanktionen bestehen in Geldbussen (die an den Staat und nicht an die Geschädigten zu zahlen sind) oder Haftstrafen. Welche Prozessführung für die Betroffenen anspruchsvoller und belastender ist, bleibt offen. Die finanziellen Folgen wiegen im Zivilprozess oftmals schwerer; sie werden aber heute immer häufiger durch Versicherungen gedeckt. Gegen die Folgen einer Straftat kann man sich – richtigerweise – nicht versichern, und die Auseinandersetzung mit dem Vorwurf, ein Straftäter zu sein, ist psychisch bestimmt belastender; denn nach einem Strafprozess bleibt auch bei einem Freispruch an der Reputation etwas hängen, besonders wenn er auf Verjährung beruht.

Eine fünfte Schnittstelle findet sich zwischen den ökonomischen Gegebenheiten der Zahlungsunfähigkeit und der rechtlichen Mechanik der Konkursabwicklung. Bei einem Konkurs begegnen sich psychologische, ökonomische und juristische Momente in einer Weise, die man der technischen Materie auf den ersten Blick nicht anmerkt. Das Schuldbetreibungs- und Konkursrecht erweist sich bei näherem Hinsehen im Einzelfall als Regelwerk, in dem sehr grundsätzliche Fragen des Rechts- und Wirtschaftsverkehrs abgehandelt werden und dessen Anwendung bei komplizierten Fällen ein hohes Mass an Wirtschaftskenntnissen voraussetzt. Bei der Liquidation von Vermögensmassen und bei der Vollstreckung von Urteilen wird das Problem manifest, das in der Kategorisierung, Hierarchisierung und Bündelung von Ansprüchen besteht – ein Verfahren, in dem sich Not und Gebot die Hand reichen und in dem sich einige Grundprobleme der Kapitalgesellschaften manifestieren. Insbesondere die beschränkte Haftung wirkt auf viele Betroffene immer noch irgendwie skandalös, obwohl sie eine Basis der kapitalistischen Ordnung bildet.

Eine sechste praktisch bedeutsame Schnittstelle liegts zwischen Haftpflicht, Haftpflichtbeschränkung und Versicherung. Die persönliche Haftung der für eine Kapitalgesellschaft Verantwortlichen mit ihrem Privatvermögen kann heute weitgehend versichert werden. Auch Schäden, die durch fahrlässige Pflichtverletzungen entstehen, sind heute versicherbar, und immer häufiger übernimmt die Unternehmung die Kosten für die persönliche Versicherung ihrer verantwortlichen Führungsorgane. Inwiefern dadurch die eigentlich zur Förderung der Sorgfalt erlassenen Rechtsnormen die Verantwortung erhöhen oder einfach Finanzströme umleiten und die Unternehmensführung verteuern, ist eine offene Frage. Die Tatsache, dass strafrechtliche Vergehen grundsätzlich ausserhalb des Versicherbaren liegen, mag dem Strafrecht eine neue Tragweite verleihen. Versicherungen könnten an einer strafrechtlichen Qualifikation des Verhaltens ihrer Versicherten direkt interessiert sein, weil dadurch im Strafprozess jene subtile Abgrenzung zwischen zivilrechtlicher Pflichtverletzung und Straffälligkeit gezogen würde, die die Versicherung, wenigstens teilweise, zu Lasten des Angeklagten enthaftet.

Eine siebte Schnittstelle betrifft das Verhältnis von Rechtssicherheit und dem politischen Prozess der Gesetzgebung. Die Revision des schweizerischen Aktienrechts hat in ihrem letzten Reformpaket vor allem die Rechte der Aktionäre verstärkt und die Verantwortlichkeit der Unternehmensführung und der Revisionsstellen präzisiert. Die diesbezüglichen Regelungen haben sich nach Ansicht der Handelsrechtsspezialisten insgesamt bewährt. Unternehmer klagen gelegentlich über eine übertriebene Verrechtlichung, die die Risikobereitschaft dämpft und damit möglicherweise mehr zu unternehmerischen Misserfolgen beiträgt, als es vorauszusehen war. So weit wie in den USA, wo praktisch kein wichtiger Unternehmensentscheid mehr gefällt werden kann, ohne dass die Anwälte alle Eventualitäten «gecheckt» hätten, sind wir allerdings in der Schweiz glücklicherweise noch nicht. Der nächste gesetzgeberische Schritt geht wohl eher in Richtung einer gesetzlichen Haftungslimite für Kontrollstellen.

Nationale und internationale Normen haben mittlerweile einen starken Einfluss auf unternehmerische Entscheidungen. Wie sich ein unternehmerischer Entscheid in der Bilanz abbildet, wie er von Regulatoren und wie er von Rating Agencies beurteilt wird, das alles ist oft mindestens ebenso wichtig wie die realen Auswirkungen. Solche Überlegungen verhindern immer öfter ein sachlich vernünftiges und ökonomisch gebotenes Vorgehen. Je mehr eine wirtschaftliche Unternehmung nicht mehr die Realität, sondern ein Geflecht von Normen, Regulierungen und Interventionen bewirtschaften muss, desto abhängiger wird sie von Rechtsänderungen, die oft wie eine unvorhersehbare Katastrophe über eine Firma hereinbrechen und die zu jenen Misserfolgen führen können, die auf Zusammenhängen beruhen, die auch die sorgfältigste Unternehmensführung nicht voraussehen konnte. Von Schuld kann nur die Rede sein, wenn die Verantwortlichen in einer gegebenen Situation in der Vergangenheit es in der Hand gehabt hätten, sich anders zu entscheiden und wenn ihnen dabei die Voraussicht in künftige Entwicklungen hätte zugemutet werden können. Eine Verpflichtung zur gedanklichen Vorwegnahme von Handlungsoptionen, die mit ungewissen und unvorhersehbaren Ereignissen, politischen Entscheidungen und Rechtsänderungen zusammenhängen, kann vernünftigerweise auch von sorgfältigen Unternehmensverantwortlichen nicht erwartet werden.

Robert Nef
ist Publizist und Autor, Mitglied der Mont Pèlerin Society sowie der Friedrich August von Hayek-Gesellschaft. Nef war von 1991 bis 2008 Redaktor und Mitherausgeber der «Schweizer Monatshefte». Er lebt als freier Publizist in St. Gallen.

Quelle: https://schweizermonat.ch/6-schnittstellen-der-verantwortlichkeit/

Schlagwörter:

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert