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Direkte Demokratie zwingt uns nicht zur Konkordanz

Lesedauer: 3 Minuten

(NZZaS – Meinungen – 26. November 2006, Seite 21)

Das Konkordanzprinzip ist besser als sein Ruf – es schafft oft mehrheitsfähige Kompromisse. Aus liberaler Sicht wiegen seine Nachteile dennoch zu schwer, schreibt Robert Nef

Das in der Schweiz seit Jahrzehnten praktizierte Konkordanzprinzip steht immer wieder im Kreuzfeuer der Kritik. Es besagt, dass alle grossen Parteien proportional zu ihrem Wähleranteil in der Regierung vertreten sind. Das «Sündenregister» des Konkordanzprinzips ist tatsächlich umfangreich. Eine Allparteienregierung ist nichts anderes als eine permanente grosse Koalition. Alle Übel, die man grossen Koalitionen anlastet, müssten eigentlich bei einer dauerhaft etablierten Konkordanzregierung noch akzentuierter auftreten: Entscheidungsschwäche, Reformunfähigkeit, Verkrustung der Machteliten, Gefälligkeitsdemokratie, Innovationsschwäche und ein Durchwursteln aufgrund fauler Kompromisse auf Kosten der schlecht organisierbaren und unterrepräsentierten Minderheiten – kurz, ein permanentes Aufteilen des politischen Machtkuchens unter die repräsentierten Parteien in jenem subtilen Spiel des Nehmens und Gebens, welches das Wohl der Regierenden mehr fördert als das Wohl der Regierten.

Die grosse Koalition ist die adäquate Regierungsform von zwar reformbedürftigen, aber doch reformunfähigen Wohlfahrtsstaaten. Sie führt zu einer Art Komplizenschaft innerhalb der «Classe politique». Grosse Koalitionen leben politökonomisch von der Umverteilung. Jede Gruppierung behauptet, ihre eigene Klientel besser zu «bedienen» als die Koalitionspartner. Die Hauptnutzniesser sind aber die Umverteiler selbst und ihr Apparat. Sie lassen sich ihre Funktion gut bezahlen und bleiben an der Macht, obwohl sie die versprochene Leistung nicht oder nur zum Teil erbringen. Eine Verantwortlichkeit für das Scheitern gibt es nicht; denn die Schuld lässt sich ja immer den Koalitionspartnern zuschieben. Es ist eine Partnerschaft als Komplizenschaft, als Kollektivierung und Relativierung der Verantwortung und als willkommene Chance, gegen Schuldzuweisungen stets gute Ausreden zu haben.

Warum hat denn in der Schweiz die Konkordanz in einer permanenten «grossen Koalition» trotz dieser in der Theorie beschriebenen und in der Praxis vielerorts beobachteten Schwächen bisher überlebt? Einmal wird der Erosionsprozess durch die direkte Demokratie verhindert oder zumindest stark verlangsamt. Das Volksveto bewirkt, dass die Mehrparteienregierung jene Vorlagen, gegen die das Referendum ergriffen wird, als Kollegium vor dem Volk vertreten muss und dadurch «in Trab» gehalten wird. Das Volk hat somit die Funktion der permanenten Opposition. Es ist in der Regel noch weniger berechenbar als eine parteienmässig organisierte Opposition; denn das Nein zu Regierungs- und Parlamentsvorlagen hat oft sehr unterschiedliche Motive. Wer eine Bremsung des Staatswachstums für wünschenswert hält, wird dies als Vorzug werten. Wer eher den Reformbedarf eines verkrusteten Systems diagnostiziert, deutet die Volksrechte hingegen als Hemmschuh.

Die eingangs beschriebenen Nachteile grosser Koalitionen wiegen trotzdem schwer. Liberale, denen es eigen ist, Regierungen kritisch auf die Finger zu schauen, werden aber bei aller Machtskepsis ehrlicherweise zugestehen, dass es übertrieben wäre, dem System jede Problemlösungsfähigkeit abzusprechen. Es wäre auch voreilig, alle vorhandenen Schwächen der Politik monokausal auf «das bestehende Machtkartell» und auf das «Übel der Konkordanz» zurückzuführen. Das Konkordanzprinzip hat tatsächlich auch Vorzüge, die es auf dem Hintergrund der geäusserten Kritik auch aus liberaler Sicht zu würdigen gilt. Der Hauptgrund für sein Funktionieren liegt wohl darin, dass die Regierungsgremien nicht jenem Zerrbild entsprechen, das von Politökonomen und notorischen Regierungskritikern entworfen wird. Je kleinräumiger die politischen Verhältnisse sind, desto stärker wird das Motiv der Regierungsmitglieder, über das rein politische Machtkalkül hinweg tatsächlich dauerhafte, brauchbare und finanzierbare Lösungen zu erarbeiten. Solche Lösungen ergeben sich in einer pluralistischen Gesellschaft durch konstruktive Kooperation zwischen unterschiedlich motivierten Akteuren. In jeder Kollegialbehörde gibt es menschliche und gruppendynamische Spannungen, die jedoch häufig nichts mit der Parteizugehörigkeit zu tun haben.

Viele Medien versuchen oft à tout prix die Politik als persönlichen Wettkampf um Popularität auf dem Jahrmarkt der Eitelkeiten darzustellen. Damit schreiben sie aber oft an den weniger spektakulären Tatsachen des Regierungsalltags vorbei. Das Konkordanzprinzip ist besser als sein Ruf, weil es in der Lage ist, trotz der in einer pluralistischen, global vernetzten Gesellschaft zunehmenden Konsensknappheit, mehrheitsfähige Kompromisslösungen zu erarbeiten.

Trotzdem sollte man die Diskussion über Alternativen zur sogenannten Zauberformel nicht mit dem Argument abwürgen, die direkte Demokratie bedinge zwingend das Konkordanzprinzip. Ein Alternanzmodell, bei dem zwei verschieden zusammengesetzte Regierungskollegien mit unterschiedlichen Programmen zur Wahl stehen, könnte möglicherweise trotz permanenten Referendumsdrohungen von der andern Seite zu einer konstruktiven Politik führen, über deren Erfolg oder Misserfolg bei Abstimmungen ad hoc und bei Wahlen nach Ablauf der Legislatur an der Urne entschieden würde. Aus liberaler Sicht ist allerdings zu befürchten, dass ein grosszügig umverteilendes linkes Programm populärer wäre als ein geordneter Rückzug aus dem Bevormundungsstaat. Die eklatanten Nachteile des Konkordanzprinzips wiegen allerdings auch aus liberaler Sicht zu schwer, als dass man sie leichtfertig durch die demgegenüber vorgebrachten Vorzüge rechtfertigen könnte.

Robert Nef, 64, ist Leiter des Liberalen Instituts und Mitherausgeber der «Schweizer Monatshefte». Das Liberale Institut organisiert mit Avenir Suisse am 30. November im Technopark Zürich die dritte Ideenmesse der Schweizer Think-Tanks. Informationen unter: www.swisspolicy.net.

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