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Weniger Staat, mehr Stadt

Lesedauer: 6 Minuten

(Schweizer Monat – Dossier: «City-State» – Ausgabe 948 – August 2006)

Die Idee des «City-State» verbindet in komplexer und vielleicht auch widersprüchlicher Weise das Konzept Stadt mit dem Konzept Staat. Der folgende Beitrag sieht mehr Zukunftschancen bei der Stadt als beim Staat. Konrad Hummlers Vision vom «City-State Schweiz» als Alternative zum EU-Beitritt ist zukunftstauglich, muss aber zu weiteren Überlegungen führen.

Der Begriff Politik geht auf die griechische Wurzel Polis zurück, also auf die Stadt, die sich erst später zum Stadtstaat entwickelte. Staaten ohne Städte sind historische Sonderfälle. Die Urschweiz war kein Staat, sondern ein Bündnis. Sehr häufig aber haben Stadtgründungen später zu Staatsgründungen geführt, ein Vorgang, der nur selten ohne Machtanwendung und Blutvergiessen verlief. Während die Stadt dem Geist der gemeinsamen Defensive und des wechselseitigen Tauschens entsprang, sind die entstehungsgeschichtlichen Wurzeln des Staates häufig weniger friedlich. Der österreichische Sozialökonom Franz Oppenheimer ging sogar so weit, den Staat, den er als das «politische Mittel» bezeichnete, als Resultat einer erfolgreichen und relativ dauerhaften Unterwerfung friedlicher Sesshafter durch kriegerische Eroberer zu deuten, als Sieg der Politik und der militärischen Macht über Ökonomie und Kultur. Regierungen sind aus dieser Sicht jene Organisationen, mit deren Hilfe eine ursprüngliche Minderheit über eine Mehrheit dauerhaft zu herrschen versucht. Jede Herrschaft wird so zur Fremdherrschaft. Dieses Geschichtsbild der Staatswerdung ist möglicherweise einseitig und übertrieben, aber realistischer als die Theorie vom Gesellschaftsvertrag. Es setzt eine gesunde Portion von Herrschaftsskepsis frei und leistet damit einen Beitrag zur Entgiftung von politischer Macht. Der antietatistische Austro-marxist Oppenheimer kann also durchaus als Vorläufer der heutigen Libertären angesehen werden. Wenn der Nationalstaat derart trübe Ursprünge hat, erlangt auch der Ruf nach «weniger Staat» einen zukunftsweisenden Sinn.

Der Nationalstaat ist aber nicht nur das Resultat erfolgreicher Machtausübung und -stabilisierung; unter dem Schutz seiner Institutionen sind auch Rechtsstaat und Demokratie entwickelt worden, die beide im Dienst der Machtkontrolle stehen. Der Nationalstaat kann also nicht einfach als menschheitsgeschichtliches Unheil abgebucht werden. Er gehört zu den Potenzen der Weltgeschichte, deren Bilanz positive und negative Posten enthält und wohl kaum je definitiv abgeschlossen werden kann. Entscheidend ist, dass die positiven Errungenschaften (die man nicht überschätzen sollte) auch in ein post-nationalstaatliches Zeitalter hinübergerettet werden können. Lassen sich heute die Errungenschaften des gezähmten Nationalstaates wieder in städtische Strukturen eingliedern? Könnte der City-State die positiven Elemente von Stadt und Staat zu einer neuen Synthese zusammenfügen?

Wenn es die Instrumente der Machtausübung und der Machtbeschränkung sind, die das Wesen des Staates bestimmen, was ist dann das Wesen der Stadt? Was nennt man eine Stadt, und macht es Sinn, auch grosse Metropolitanregionen, die von einem Netzwerk historischer Städte gebildet werden, einfach «Stadt» zu nennen, oder eben «City-State»?

Im fünften Akt der «Libussa» hat Franz Grillparzer im Dialog zwischen Primislaus, dem Stadtgründer, und der zaubermächtigen Libussa die positiven Motive einer Stadtgründung Zweifeln hinsichtlich einer Verstädterung der Menschen gegenübergestellt.

«Libussa: Sag mir, was nennt ihr eine Stadt?

Primislaus: Wir schliessen einen Ort in Mauern ein / Und sammeln die Bewohner rings der Gegend / Dass hilfreich sie und wechselseitig fördernd / Wie Glieder wirken eines einz’gen Leibs.

Libussa: Und fürchtest Du nicht, dass Deine Mauern, / Den Menschen trennend vom lebend’gen Anhauch / Der sprossenden Natur, ihn minder fühlend / Und minder einig machen mit dem All?

Primislaus: Gemeinschaft mit den wandelbaren Dingen, / Sie ladet ein zum Fühlen und Geniessen. / Man geht nicht rückwärts, lebt man mit dem All; / Doch vorwärts schreiten, denken, schaffen, wirken / Gewinnt nach innen Raum wenn eng der Äussere.»

Der Dialog kann gleichzeitig als Rechtfertigung und als Infragestellung der City-State-Idee von Konrad Hummler herangezogen werden. Die Mauern sind ein Charakteristikum der Stadt. Gibt es Städte ohne das gleichzeitig schützende und trennende Element der Mauern, das heisst ohne die Definition von Eingrenzung und Ausgrenzung, von fremd und eigen? Es ist kein Zufall, dass die Idee «Schweiz als City-State» im Vorfeld der Abstimmung über die Grenzöffnung im Rahmen des Schengen-Abkommens lanciert wurde, als es um die Relativierung und teilweise Abschaffung der Grenzkontrollen ging, die ja dann schliesslich von einer Mehrheit befürwortet worden ist. Beim City-State fallen Stadtgrenzen und Staatsgrenzen zusammen. Ist dies wirklich ein Vorteil? Sind in einer offenen, globalisierenden Gesellschaft nicht letztlich alle Grenzen obsolet? Die Frage ist berechtigt, nur stellt sie sich bei allen Grenzen, auch in bezug auf die EU-Aussengrenze. Und gerade dort zeigt es sich, dass ohne äussere Abgrenzungen auch keine Gemeinschaften entstehen können. Mauern oder Grenzen zerstören nicht – wie Libussa befürchtet – grössere Zusammenhänge, sie schaffen klare Verhältnisse und sind eine wichtige Voraussetzung der Friedensstiftung und -erhaltung, des Tauschens und der grenzüberschreitenden (aber nicht grenzenlosen) Kommunikation. Politische Grenzen sind so etwas wie die Membrane zwischen lebendigen Zellen. Sie ermöglichen einen permanenten Austausch zwischen verschiedenen Qualitäten. Wenn man diese semipermeablen Membranen zerstört oder entfernt, bricht in Organismen der lebenswichtige Stoffwechsel zusammen. Ohne Abgrenzungen gibt es auch kein Privateigentum und keinen privatautonomen, fremdherrschaftsfreien Tausch, der die Grundlage der Marktwirtschaft bildet.

Das Programm des Städtegründers Primislaus unterscheidet sich kaum von Konrad Hummlers Idee: «Vorwärts schreiten, denken, schaffen, wirken» sowie die Einladung (nicht die Garantie!) «zum Fühlen und Geniessen», zum «wechselseitig fördernden» freien Handel und zur «Gemeinschaft mit den wandelbaren Dingen» durch Produktion und Dienstleistung.

Was sind die weiteren essentiellen Merkmale einer Stadt und insbesondere eines City-State? Zunächst einmal Marktplatz, Rathaus, Kirche, später auch Schule, Spital, Gefängnis, Theater, Konzertsaal, Bibliothek und Museum. Als überzeugter Non-Zentralist setze ich freilich all diese Einrichtungen lieber in den Plural als in den Singular, auch wenn bei ihnen in der Mehrzahl möglicherweise auf den ersten Blick Effizienz verloren geht. Auch im City-State Schweiz braucht es einen Wettbewerb der Rathäuser, Kirchen, Schulen, Spitäler und Kulturinstitutionen und möglichst keine zentrale Förderung durch eine zentrale City-State-Regierung mit einem mächtigen Bürgermeister. Die Idee «City-State Schweiz» hat aus meiner Sicht nur Chancen, wenn sie sich mit einem klaren Bekenntnis zum Non-Zentralismus und zum Wettbewerb öffentlicher Institutionen und (noch wichtiger!) zum Wettbewerb zwischen öffentlichen und privaten Institutionen und speziell zum Steuerwettbewerb bekennt.

Auch im Urteil über die Naturidylle des Landes steht Hummler näher bei Primislaus als bei Libussa. Die Schweiz hat ein mentalitätsbezogenes Stadt-Land-Problem. Eine Mehrheit der Bevölkerung lebt zwar in urbanen Räumen, aber der Begriff «Verstädterung» hat immer noch einen kritischen Unterton. Es gibt hierzulande nicht nur das Phänomen der siedlungsmässigen Verstädterung des Landes, sondern auch dasjenige der mentalitätsmässigen «Verländlichung» der Stadt. Eine politische Gemeinschaft, die mehr in die Aufzucht von Kühen investiert als in den akademischen Nachwuchs, hat die Zeichen der Zeit nicht erkannt. Diese kritische Sicht auf unser Land könnte den Schluss nahelegen, wir seien tatsächlich ein etwas rückständiges «Volk der Hirten», das Gefahr laufe, zum «Dorftrottel Europas» zu werden – eine Wendung, die der Basler Staatsrechtslehrer Max Imboden in seiner Schrift «Helvetisches Malaise» schon vor vierzig Jahren geprägt hat.

Ich bin davon überzeugt, dass wir keinen Grund haben, uns selbst der Rückständigkeit zu bezichtigen. Die Schweiz war nie ein klassischer Nationalstaat. Der schweizerische Staatsgedanke ist tatsächlich ein Sonderfall. Wir haben uns im Lauf der Geschichte, bis zur Gründung des Bundesstaats, nie als Staat oder als Nation bezeichnet, sondern als «Genossenschaft», als Eid-genossenschaft, also als eine sich «wechselseitig fördernde» Gemeinschaft von Nutzniessern gemeinsam erlangter und bewahrter Errungenschaften. Der zur Zeit des Absolutismus in Europa entstandene Territorialstaat hat sich im 19. und 20. Jahrhundert zunächst zum imperialistischen und dann zum nationalistischen und sozialistischen und zentralistischen Flächenstaat entwickelt. Er hat in den zwei Weltkriegen, die wegen Konflikten zwischen Nationalstaaten ausgebrochen sind, brutale Blut- und Zerstörungsorgien gefeiert. Die föderativ aufgebaute Eidgenossenschaft hat mit viel Glück die beiden Kriege als atypische Insel überstanden. Sie hat immer wieder versucht, sich im Geist der Abwehr eine Art Nationalismusersatz zu erarbeiten. Der Erfolg ist bescheiden. Man höre einmal zu, wie es klingt, wenn Schweizer (nicht nur Fussballer!) die wenig beliebte Nationalhymne singen. Wenn dieser obrigkeitlich geförderte Nationalstolz in einem konsum- und zivilgesellschaftlichen Umfeld eher verblasst und sich höchstens noch bei Sportereignissen manifestiert, sollte man darüber keine Tränen vergiessen. Das Abseitsstehen bei den Erschütterungen des 20. Jahrhunderts hat uns nicht rückständig und um die prägenden Erfahrungen von Sieg und Niederlage ärmer gemacht. Möglicherweise haben wir als friedliche Krämerseelen einfach jene pathologische Etappe des «Stahlbads der Nationen», des Sich-erbittert-Bekämpfens und der nachträglichen pathetischen Aussöhnung in einem neuen Club alter und neuer Nationalstaaten, übersprungen. Wir gehören eigentlich nicht in diesen Versöhnungsclub der zwei Weltkriege und des kalten Krieges und sind darum nicht die letzten, die sich dem Club anschliessen werden, sondern bei den ersten, die diesen Zusammenschluss als ein Relikt des Jahrhunderts der Kriege durchschauen.

Angesichts dieser Entwicklungen fällt es in einer längerfristigen Perspektive nicht schwer, ein globales Netz von City-States gegenüber einem territorial und kontinental definierten Club ökonomisch maroder Nationalstaaten als die zukunftsträchtigere Lösung anzusehen. Die EU ist keine Alternative zum Nationalstaat, sie ist eine Gemeinschaft von Nationalstaaten und unternimmt den wohl zum Scheitern verurteilten Versuch, so etwas wie eine gesamteuropäische Grossnation, die Vereinigten Staaten von Europa, zu begründen.

Parallel zu diesem Prozess bilden sich ökonomisch und kulturell vernetzte Metropolitanräume, die nicht auf politisch-administativen Bürokratien, sondern auf vielfältigen Austauschbeziehungen basieren, die weit über die kontinentalen Grenzen hinausreichen und die Nationalstaaten zunächst ergänzen und möglicherweise auch einmal ersetzen werden. Die Schweiz hat diesbezüglich aufgrund ihrer Geschichte und ihrer gewachsenen Strukturen einmal mehr die Chance, zu den ersten und nicht zu den letzten zu gehören. Die City-State-Idee sollte nicht als Weiterentwicklung des Sonderfall-Modells gesehen werden, sondern als Bekenntnis zur Avantgarde, als Wegweiser in eine noch weitgehend offene Zukunft.

Robert Nef
ist Publizist und Autor, Mitglied der Mont Pèlerin Society sowie der Friedrich August von Hayek-Gesellschaft. Nef war von 1991 bis 2008 Redaktor und Mitherausgeber der «Schweizer Monatshefte». Er lebt als freier Publizist in St. Gallen.

Quelle: https://schweizermonat.ch/3-weniger-staat-mehr-stadt/

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