Zum Inhalt springen

Mehr Sicherheit – weniger Freiheit?

Lesedauer: 4 Minuten

(Schweizer Monat – Debatte – Ausgabe 942 – September 2005)

Die beiden Grundwerte Freiheit und Sicherheit sind schwer zu definieren. Aus diesem Grund gibt auch ihre Gegenüberstellung und Verknüpfung zu vielen Missverständnissen Anlass.

In der Schweiz werden zur Zeit neue gesetzliche Grundlagen zur Bekämpfung des Terrorismus, der organisierten Kriminalität, des gewalttätigen Extremismus und des Hooliganismus vorbereitet. Dabei stellen sich folgende Fragen: Wie weit darf, soll oder muss der Staat die persönliche Freiheit einschränken oder eine Einschränkung der persönlichen Freiheit in Kauf nehmen, um diese Entwicklungen zu bekämpfen? Wie weit müssen wir es als Individuen zulassen, dass der Staat Einblick in unsere privaten Angelegenheiten erhält? Oder anders gefragt: Wie weit müssen wir als Individuen bereit sein, unsere privaten Angelegenheiten offenzulegen und unsere persönliche Freiheit einzuschränken, damit dem Staat die Bekämpfung der oben erwähnten Phänomene möglich gemacht wird?

Freiheit und Sicherheit lassen sich am besten durch die Abwesenheit der jeweils vitalen Bedrohungen – einerseits Zwang und anderseits unberechenbare Gefahr – umschreiben. Beide Begriffe haben eine individuelle und eine kollektive Komponente, die miteinander zusammenhängen. Individuelle Freiheit und kollektive Freiheit (Unabhängigkeit) und individuelle Sicherheit und kollektive Sicherheit sind zwar miteinander verknüpft, aber ihrem Wesen nach und auch bezüglich Bedrohung und Schutz durchaus verschieden.

Kollektive Freiheit, im Sinn von Unabhängigkeit, kann zum Beispiel in einem totalitären Staat durchaus mit individueller Knechtschaft verbunden sein. Umgekehrt kann der Verlust der nationalen Unabhängigkeit auch mit einem Verlust an individueller Freiheit verknüpft sein, vor allem wenn die grössere Gebietskörperschaft, an die man Souveränität abgibt, tendenziell weniger liberal und weniger demokratisch ist als die eigene. Die kollektive Sicherheit (vor allem im wirtschaftlichen und sozialen Bereich) ist stets mit dem Klumpenrisiko belastet, dass das Kollektiv seine Versprechungen nicht mehr einhalten kann oder will und damit eigentlich die individuelle Sicherheit auf die Dauer in Frage stellt.

Zudem besteht eine permanente Verwechslungsmöglichkeit zwischen Staatssicherheit, individueller Sicherheit durch Schutz von Leib, Leben und Integrität und der sogenannten «sozialen Sicherheit» durch Umverteilung. Das sind drei grundverschiedene Typen von Sicherheit, die unterschiedliche Eingriffe in die persönliche Freiheit rechtfertigen.

Eine weitere Quelle von möglichen Missverständnissen ist der zivilrechtliche Begriff der «persönlichen Freiheit», der den Schutz der persönlichen Integrität und der Privatsphäre ins Zentrum stellt und die Eingriffe in Eigentum und Vermögen ausklammert, obwohl diese als Voraussetzung der Freiheit eine zentrale Rolle spielen und beim Abwägen der Verhältnismässigkeit von Eingriffen nicht vernachlässigt werden dürften. Eingriffe in die finanziellen Dispositionen sind durchaus auch Eingriffe in die persönliche Freiheit im weiteren Sinn. Wer Freiheit und Sicherheit gegenüberstellt und über eine Erhöhung der kollektiven Sicherheit durch massive fiskalische Eingriffe in Einkommen und Vermögen den Umverteilungsstaat ausbaut, opfert möglicherweise relativ viel individuelle Freiheit für relativ wenig kollektive Sicherheit. Es ist erstaunlich, wie viel Opfer an persönlicher Verfügungsfreiheit über Einkommen und Vermögen in Kauf genommen werden, um eine durchaus fragwürdige kollektive soziale Sicherheit durch staatlichen Zwang zu gewährleisten.

Die Staatssicherheit und die Sicherheit der Menschen in diesem Staat sind heute in erster Linie durch Terrorakte und Katastrophen bedroht. Die Terrorakte sind weltweit vor allem von der Seite extremistischer Islamisten zu erwarten. Gruppierungen in diesem Umfeld müssen sich daher qualifizierte Überwachungsmassnahmen gefallen lassen. Das hat nichts mit Diskriminierung, Intoleranz und Menschenrechtswidrigkeit zu tun. Daneben gibt es geistesgestörte Nachahmungs- und Einzeltäter, sowie – mit weniger Wahrscheinlichkeit – Terroristen aus dem Lager anderer Fanatiker, die wir im Auge behalten sollten, ohne gleich darüber zu legiferieren. Für alle anderen Sicherheitsrisiken genügt eine konsequente Anwendung des geltenden Strafrechts.

Eine präventive Ausdehnung der Terrorismusbekämpfung auf andere Gruppen, die allenfalls einmal zum Terrorismus neigen, ist überflüssig und freiheitsfeindlich. Auch der Terrorismus ist eng zu definieren. Der Gesetzgeber hat genügend Zeit, hier ergänzend tätig zu werden. Gegebenenfalls sollte auch vom Notrecht Gebrauch gemacht werden. Der Grundsatz «Not kennt kein Gebot» ist nicht unliberal, wenn man von der zeitlichen Befristung jedes Notrechts ausgeht. Er schützt vor präventiven Eingriffen aller Art und vor «Panik auf Vorschuss».

Ein liberaler Staat braucht einen gewissen Stoizismus bei Behörden und Bevölkerung. Wir müssen den Mut haben, auch gewisse Gefährdungen in Kauf zu nehmen. Wer sich aber gegenüber akuten Gefährdungen wie dem aktuellen Terrorismus nicht schützt und entsprechende Eingriffe in die Freiheit stur ablehnt, riskiert nicht nur sein eigenes Leben, sondern auch das Leben anderer. Dieses Risiko ist gegenüber dem Wert der persönlichen Freiheit abzuwägen. Genau wie sich heute jeder Flugpassagier Eingriffe in seine persönliche Sphäre gefallen lassen muss, um die Flugsicherheit aller zu erhöhen, müssen wir möglicherweise als Passagiere des «Vehikels Schweiz» gewisse zusätzliche Eingriffe in unsere persönliche Freiheit in Kauf nehmen.

Die Warnung vor Eingriffen in die Privatsphäre ist gerechtfertigt. Möglicherweise will man aber in vielen Medien einfach den Schnüffelstaat anprangern, um von den absurden Auswüchsen des Bevormundungs- und Umverteilungsstaates abzulenken. Der polizeiliche Schutz der Bevölkerung rechtfertigt nach dem Grundsatz der Verhältnismässigkeit Eingriffe in die Privatsphäre, wenn sie eng auf diese Bedrohung fokussiert wird. Die Terrorismusbekämpfung ist notwendig und braucht gesetzliche Grundlagen – möglicherweise auch zusätzliche.

Sehr viele Stimmen, die sich jetzt lautstark für den Schutz der Privatsphäre einsetzen, verachten einfach das Leben (und auch die Freiheit) potentieller Opfer. Sie sollten ihre Werthierarchie überprüfen und müssen sich die Frage gefallen lassen, welche massiven Eingriffe in die Freiheit sie denn zur Erhöhung der «sozialen Sicherheit» tolerieren und sogar fordern. Es wird hier sehr viel geheuchelt. Man schützt den Einzelnen vor dem Registriert- und Gefilmt-Werden, traut ihm aber nicht zu, andere wichtige Entscheidungen, vor allem im Finanz- und Versicherungsbereich, eigenständig zu treffen. Die Freiheit der Menschen ist heute in viel stärkerem Ausmass durch die schleichende wohlfahrtsstaatliche Aushöhlung, durch die freiheits- und wirtschaftsfeindliche Besteuerung und die zunehmende Bevormundung durch Reglementierung bedroht, als durch technische Überwachungsmassnahmen.

Es gibt im Bereich der Terrorismusabwehr ethische und liberale Motive für ziemlich weitgehende Eingriffe in die persönliche Freiheit. Niemand schätzt öffentliche Überwachungskameras, und das Abhören von Telephongesprächen verletzt die Privatsphäre. Wenn aber den derart Überwachten daraus keine Nachteile erwachsen, und wenn sich dadurch auch nur ein einziger Terroranschlag verhindern lässt, bei dem viele Unschuldige sterben müssen oder verstümmelt werden, sieht die Sache anders aus.

Geht es aber nicht um Leib und Leben, sondern um andere Güter materieller und ideeller Art (z.B. um die Störung der öffentlichen Ordnung und um Fiskaldelikte), sollten wir beim Abwägen von Freiheit und Sicherheit den Begriff Sicherheit eng definieren und klar auf der Seite der Freiheit stehen, auch für die «Freiheit Andersdenkender» und für die Freiheit von Aussenseitern und Minderheiten, die uns nicht gefallen. Entscheidend ist, dass wir nicht nur die Dialektik zwischen Freiheit und Sicherheit sehen, sondern auch an die «Sicherheit durch Freiheit» glauben und nicht gleich alles in Gesetze giessen wollen.

Robert Nef
ist Publizist und Autor, Mitglied der Mont Pèlerin Society sowie der Friedrich August von Hayek-Gesellschaft. Nef war von 1991 bis 2008 Redaktor und Mitherausgeber der «Schweizer Monatshefte». Er lebt als freier Publizist in St. Gallen.

Quelle: https://schweizermonat.ch/mehr-sicherheit-weniger-freiheit/

Schlagwörter:

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert