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«Ich habe eine Allergie gegen den Zwang»

Lesedauer: 5 Minuten

(Schaffhauser Nachrichten)

Die Gesellschaft lebt davon, dass Verantwortung und Pflichten freiwillig übernommen werden. Probleme sind per Vertrag oder Vereinbarung und nicht durch Zwang zu lösen.

Michael Brunner und Marc Lustenberger, Schaffhauser Nachrichten

Herr Nef, das Thema der angekündigten Schaffhauser Veranstaltungsreihe lautet «Staatsmacht und Persönliche Freiheit»: Wann fühlten Sie sich in Ihrer persönlichen Freiheit am stärksten eingeschränkt?

Robert Nef: Das war in der Armee. Trotzdem absolvierte ich rund 1500 Dienstage, stieg bis zum Oberstleutnant auf. Ich diente aus Überzeugung in der Armee, genossen habe ich es aber nicht, dass andere Leute mir sagten, was ich zu tun habe. Als zweite grosse Einengung empfinde ich die Tatsache, dass ich rund einen Drittel meines nicht ausserordentlich hohen Einkommens als Steuern und Sozialabgaben bezahlen muss und das für Zwecke, die mir nicht behagen. Ich denke, wir zahlen heute zu viel Steuern.

Sie werden in Schaffhausen darüber sprechen, dass die persönliche Freiheit durch die Aussenpolitik eines Staates eingeschränkt werden kann. Dass Liberale sagen, der Staat gefährde die Freiheit, ist üblich. Aber wie soll das über die Aussenpolitik geschehen?

Nef: Konkret geht es um den Beitritt zum Schengen-Abkommen. Dieser Beitritt würde zwar Vorteile bringen, bedeutet aber auch einen Souveränitätsverlust. Und dieser Verlust an Souveränität betrifft einen heiklen Politikbereich. Bei Grenzkontrollen geht es um den Intimbereich eines Staates. Ich bin auch wegen der Sicherheitslage skeptisch. Es ist allerdings noch schwierig, das Nein zu Schengen auf einen liberalen Nenner zu bringen.

Eben, Sie müssten als Liberaler doch für offene Grenzen sein?

Nef: Grundsätzlich bin ich für offene Grenzen. Ich wurde aber misstrauisch, als mit Ausnahme der SVP alle Parteien und der Bundesrat betonten, diese Grenzöffnung bringe mehr Sicherheit. Denn es ist doch so, dass die Kriminalitätsrate und die Polizeidichte in den umliegenden Ländern höher ist als in der Schweiz. Daher ist für mich die Behauptung, Schengen führe für die Schweiz zu mehr Sicherheit, einfach unglaubwürdig.

Stört Sie an Schengen, dass die Schweiz unsicherer werden könnte? Oder befürchten Sie, dass die persönliche Freiheit durch mehr Kontrollen beeinträchtigt wird?

Nef: Mich stört hauptsächlich, wie ich über das ganze Abkommen informiert werde. Die Behörden kommunizieren einseitig, ja teilweise falsch. Dazu kommt, dass die meisten Medien sehr stark auf Regierungsseite mitspielen nicht weil sie müssten, es herrscht keine Zensur. Das ist eine Art Fortsetzung der schweizerischen Konkordanz in die Medien hinein. Schengen ist kein Kernthema des Liberalismus. Aber es ist eine Kernfrage des Liberalismus, ob man Behördenpropaganda will oder nicht.

Doch nochmals: An offenen Grenzen müssten Sie doch eigentlich Freude haben.

Nef: Ja, das ist etwas Positives. Wenn wir umgekehrt vom Eigentum her denken und ein Land hat auch ein Eigentum an sich selber dann ist die Vorstellung einer Abwehr auch nicht völlig fremd. Ein Staat nach meinen Vorstellungen, ohne stark ausgebautem Service public, der könnte viel offener sein. Aber ein Staat, der zahlreiche Dienste offeriert, der kreiert mit Einwanderung ein Problem. Es kommen Leute in ein System hinein, das sie nicht mitfinanziert haben. Immigration wäre mir schon recht, man müsste aber vorher die wohlfahrtsstaatlich Einrichtungen schrittweise zurückfahren.

Die EU wird in anderen Ländern von Liberalen stark mitgeprägt und getragen. Sie aber sind offensichtlich europaskeptisch.

Nef: Ich bin nicht gegen die EU, aber gegen einen EU-Beitritt der Schweiz. Für viele Länder brachte der EU-Beitritt tatsächlich eine Öffnung in der Wirtschafts- und Gesellschaftspolitik. Ich denke an Staaten wie Portugal, Spanien und Griechenland, aber auch Italien oder Frankreich. In der Schweiz hingegen wäre dies nicht der Fall, vielmehr brächte der EU-Beitritt zusätzlich Einschränkungen. Ich glaube zudem, dass die EU heute ein veraltetes Projekt ist. Die Union strebt einen Bundesstaat an. Besser wäre aber eine Freihandelsassoziation und ein Friedensbündnis.

Aber kommen Sie nicht in Argumentationsnotstand, wenn Sie mit liberalen proeuropäischen Kollegen aus anderen Ländern sprechen?

Nef: Oft höre ich von liberaler Seite, man würde es begrüssen, wenn die Schweiz dabei wäre. Denn wir wären ein im positiven Sinne lästiges Mitglied, weil wir Ideen wie direkte Demokratie und Steuerwettbewerb einbringen würden. Sehr viele Kollegen, gerade auch Deutsche, sagen aber, wir lägen als Nicht-Mitglied richtig. Die offiziellen Äusserungen deutscher Politiker stimmen nicht mit dem überein, was ich in ThinkThank— und Universitätskreisen höre. Sie und das ganze Liberale Institut verfolgen nicht nur in der EU-Frage eine eher konservative Linie.

Sie haben bereits angedeutet, dass Sie sich einen deutlich schlankeren Staat vorstellen könnten. Aber ist die Sicherheit in der Schweiz nicht gerade deshalb grösser, weil der Staat gut funktioniert?

Nef: Interessant ist eben gerade die Tatsache, dass die Schweiz mehr Sicherheit bietet, trotz kleineren Investitionen in die Sicherheit. Das heisst, wir produzieren soziokulturell Sicherheit. Das hängt vermutlich mit der vergleichsweise langen Tradition von Bürgergesellschaft, von friedlichem Zusammenleben zusammen.

Ja, aber der Wohlfahrtsstaat hat doch sicher auch seinen Anteil daran. Leute, die in anderen Ländern auf der Strasse enden würden, werden in der Schweiz aufgefangen.

Nef: Das ist denkbar. Für mich ist die Alternative zum Wohlfahrtsstaat aber nicht, die Schwachen im Stich zu lassen. Vielmehr geht es darum, dass im Sinne des Subsidiaritätsprinzip der Staat erst ganz zum Schluss ins Spiel kommt, wenn alle gesellschaftlichen Netzwerke versagt haben. Ich halte den Wohlfahrtsstaat für keine sehr soziale Einrichtung. Pointiert gesagt: Der Wohlfahrtsstaat hat sogar mehr soziales Verhalten zerstört als aufgebaut.

Aber schränken die von Ihnen propagierten sozialen Netzwerke wie beispielsweise die Familie nicht auch die Freiheit ein? Oder anders gefragt: Sind die Menschen angesichts des stärkeren Wohlfahrtsstaates freier oder unfreier als früher?

Nef: Es stimmt, der Wohlfahrtsstaat, hat die Menschen davon befreit, ständig helfen zu müssen. Es ist sehr praktisch, wenn man sagen kann, das ist nicht mein Problem, ich zahle dafür Steuern. Das schafft tatsächlich zusätzliche Spielräume. Aber meine Staatsskepsis richtet sich gegen erzwungene Verpflichtungen. Meine Frau sagt, ich sei das Gegenteil von einem Zwangsneurotiker; ich hätte eine Neurose gegen den Zwang. Das stimmt wohl. Gegen Selbstverpflichtung habe ich hingegen nichts. Die Gesellschaft lebt davon, dass Verantwortung und Pflichten freiwillig übernommen werden. Probleme sind per Vertrag oder Vereinbarung und nicht durch Zwang zu lösen. Je mehr versucht wird mit Zwang Mechanismen zu ersetzen, die nicht mehr funktionieren, desto mehr wird die freiwillige Bereitschaft zerstört. Mein Ideal ist nicht eine Gesellschaft, in der es keine Verpflichtungen gibt.

Nochmals: Sind heute die Menschen unfreier als im 19. Jahrhundert?

Nef: Nein, nicht generell. Im sozialen Bereich, zum Beispiel bei der Sexualität, fand eine starke Befreiung statt. Aber man hat zugleich einen Teil der Mitmenschlichkeit verstaatlicht.

Sanftere Zwänge beurteilen Sie aber weniger kritisch. Häufig sind Menschen faktisch doch von anderen Menschen weit abhängiger als vom Staat. Denken Sie beispielsweise an Arbeitgeber oder die Familie.

Nef: Ich finde es wichtig, dass Arbeitnehmer, wenn ihnen die Stelle nicht zusagt, auch gehen können. Die Erfahrung zeigt, dass Arbeitnehmer tatsächlich etwa zehn Mal häufiger den Arbeitsvertrag auflösen als der Arbeitgeber. Diese Möglichkeit, zu gehen, ist etwas sehr wichtiges.

Können Sie ein Beispiel bringen, wo der Staat nötig ist?

Nef: Eine Grenzkontrolle ist beispielsweise nötig, da noch immer sehr viele illegale Einwanderer abgefangen werden. Ganz allgemein gehört die Produktion von innerer und äusserer Sicherheit zu den Aufgaben des Staates. Zudem sollte der Staat das unterste soziale Netz bereitstellen, aber auf kommunaler Ebene.

Und in welchen Bereichen würde es der Markt oder die Gesellschaft besser richten?

Nef: Ich gehe soweit, dass ich sogar das Bildungswesen und das Gesundheitswesen schrittweise für den Markt öffnen würde. Gleichzeitig müssten aber einzelne Personen durch so genannte Subjekthilfe unterstützt werden, um sich beispielsweise ein Studium an der Universität leisten zu können. Ein solcher Umbau müsste aber über Jahrzehnte stattfinden.
Die von Ihnen propagierte Freiheit hat etwas sehr anstrengendes an sich. Wollen die Menschen den überhaupt frei sein?

Nef: Tatsächlich wären viele Menschen bereit, für mehr Sicherheit viel Freiheit aufzugeben. Aber die meisten Menschen wollen für sich selbst entscheiden. Das ist weltweit so, allerdings unterschiedlich stark ausgeprägt. Die Schweizer haben eher das Bedürfnis, bei allem mitzureden, wünschen sich, dass der andere gleich oder ähnlich ist. Daher ist bei uns das Mehrheitsprinzip sehr stark verankert. Das hat durchaus Vorteile, die Schweiz ist nicht ohne Grund eines der sichersten Länder. Eine sehr freiheitliche Gesellschaft sind wir dadurch aber nicht. Ich reise weltweit mit dem Satz, Selbstbestimmung ist wichtiger als Mitbestimmung. Viele Schweizer sehen das wohl umgekehrt.

Kommt das daher, dass die Demokratie in der Schweiz eine lange Tradition hat, der Liberalismus aber erst relativ spät importiert wurde?

Nef: Vor allem ist es nicht das selbe. Man kann zwar Liberaler und Demokrat sein, dann muss man aber Kompromisse machen. Irgendwo beginnt auch bei mir dieser Kompromiss. Wenn ich wählen könnte, würde ich aber sehr viel Mitbestimmung weggeben für etwas mehr Selbstbestimmung.

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