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Die heutige Situation des Liberalismus

Lesedauer: 19 Minuten

Analyse und Ausblick*

Wer wissen will, was Liberalismus heute bedeutet, darf vor einem Blick in die Ideengeschichte nicht zurückscheuen. Als Leiter des Liberalen Instituts werde ich immer wieder mit der Frage konfrontiert, woher denn der Liberalismus stamme, wer denn die Gründerväter des Liberalismus seien und wann der Liberalismus seinen historischen Höhepunkt erreicht habe. Alle drei Fragen sollten nicht leichtfertig und voreilig beantwortet werden. In vielen Lehrbüchern wird der Ursprung des Liberalismus in Grossbritannien lokalisiert und mit John Locke, David Hume und Adam Smith personalisiert. Ist der Liberalismus als Inbegriff einer freiheitlichen Auffassung Staats- und Wirtschaftsordnung also britischen Ursprungs? Hat er seinen Höhepunkt nach der Französischen Revolution im 19. Jahrhundert erreicht und befindet er sich seither in Europa auf einem langsamen schrittweisen Niedergang? Ist der Liberalismus letztlich eine angelsächsische Errungenschaft, die zwar anderswo rezipiert worden ist, aber eigentlich nur in den Stammlanden Grossbritannien und USA wirklich verwurzelt ist? Ist die Geschichte des Liberalismus zwingend mit dem Aufstieg des Industriekapitalismus verknüpft, und ist die Konzentration auf die individuelle Freiheit in einer immer komplexer und globaler werdenden Dienstleistungsgesellschaft überholt? Ist der Liberalismus, eine immer weniger attraktive Idee, die man nach der konservativen Formel „Liberalismus – nach wie vor“ so lange wie möglich vor attraktiveren und moderneren Gegenströmungen retten muss, oder hat der weltweite Aufstieg des Liberalismus 1989 erst begonnen, und stehen wir vor der Herausforderung, die Gunst der Stunde zu nutzen, um ihm erstmals in der Geschichte wirklich zum Durchbruch zu verhelfen?

Die Freiheitsidee ist uralt, aktuell und universal

Die Freiheitsidee ist älter als der ideengeschichtliche, philosophische Liberalismus, dessen Wurzeln bis in die Renaissance und in die Aufklärung zurückreichen. Und dieser ist wiederum älter als der parteipolitische Liberalismus, der als antiklerikale Strömung im 18.Jahrhundert in Spanien und als Zusammenschluss von Befürwortern des Freihandels in England erstmals auf der politischen Bühne erschien und im 19. Jahrhundert seine grössten Erfolge hatte. Ich bin überzeugt, dass der Liberalismus in einem weiteren menschheitsgeschichtlichen Sinn nicht abnehmend, sondern zunehmend aktuell ist. In einer weltweit vernetzten hoch komplexen Dienstleistungs- und Informationsgesellschaft gibt es keine brauchbaren Alternativen zum Zusammenleben aufgrund von frei gewählten Vereinbarungen zwischen den direkt Betroffenen und Beteiligten. Der kollektive Zwang in zentralisierten Grosssystemen ist, losgelöst von aller Ideologie, auf die Dauer schlicht nicht mehr praktizierbar.

Die Geburtsstunde der Freiheit ist das Bewusstwerden der Möglichkeit „Nein“ zu sagen, wenn jemand anderer etwas von uns verlangt, das wir selbst nicht wollen.

Das Alte Testament verlegt dieses „Nein“ gegenüber Vorschriften bereits an den Anfang der Menschheitsgeschichte, als Eva das Verbot brach, den Apfel vom Baum der Erkenntnis zu essen, der es den Menschen ermöglicht, zwischen „gut“ und „böse“ zu unterscheiden. Wenn wir die Menschheitsgeschichte bis in die mythische Vorgeschichte hinein verfolgen, kommen wir zum Schluss, dass der erste liberale Mensch eine Frau war: Eva. Sie ist deswegen oft genug für die Vertreibung aus dem Paradies verantwortlich gemacht, verflucht und gescholten worden. Wer die Freiheit liebt, und die Unterscheidung zwischen „gut“ und „böse“ als Voraussetzung für die Anerkennung der Menschenwürde hält, wird zwar vielleicht nicht den Verlust des Paradieses verschmerzen, aber in Dankbarkeit der ersten Dissidentin gedenken, die gleichzeitig die „Entdeckerin“ der Freiheit ist, weder Aristoteles, noch John Locke, noch Adam Smith, sondern Eva.

In der griechischen Mythologie setzt sich allerdings ein Mann, Prometheus, über das Verbot des Zeus hinweg, und bringt den Menschen das Feuer, das gleichzeitig nützlich und gefährlich ist. Aber auch hier ist kreative Dissidenz im Spiel. Ein weiteres Beispiel kreativer Dissidenz verkörpert aber auch im griechischen Kulturkreis eine Frau: Antigone; für sie waren Sittengebote wichtiger als das auf Staatsräson abgestützte Recht. Das Gefühl der Freiheit entsteht im Widerstand gegen Fremdbestimmung, gegen Pflichten, Vorschriften und Forderungen, die man weder innerlich noch äusserlich akzeptiert. Freiheit ist ein Exodus aus der Knechtschaft, eine Weigerung, unter Zwang abhängig zu sein.

Wer eine Ordnung zentral steuern und beherrschen will, braucht ein Wissen, um das was „richtig“ ist. Dieses Wissen ist weder in wirtschaftlichen, noch in politischen und gesellschaftlichen Angelegenheiten unbestritten vorhanden. Darum sind alle Versuche, eine interventionistische Politik zu betreiben, sei es mit „rechten“ oder “linken“ Dogmen, auf die Dauer zum Scheitern verurteilt. Konkurrierende Werte und wechselnde Knappheiten aller Art charakterisieren die heutige Welt. Darum ist es nicht eindimensional und dogmatisch, wenn man „Angebot und Nachfrage“ im weitesten Sinn als Ausgangspunkt gemeinsamer Problemlösungen betrachtet. Politik ist aus dieser Sicht ein Wechselspiel von spontanen und eingreifenden Abläufen, von Versuch und Irrtum. Wer das begriffen hat, weiss um die Anmassung von Wissen, um die Unmöglichkeit der rationalen Kalkulation von Preisen, von zentraler Planung usw. … Nur Gott kennt den „wahren Preis“ und die „soziale Gerechtigkeit“ oder – säkularisiert ausgedrückt: niemand darf sich anmassen, solche Grössen zu kennen, „wissenschaftlich“ zu beweisen und allgemeinverbindlich vorzuschreiben.

Heute stehen sich in der Politik zwei grundsätzlich zu unterscheidende Gruppierungen gegenüber: Befürworter der Freiheit und Mündigkeit auf der einen und Befürworter der Intervention und Bevormundung auf der andern Seite. Natürlich gibt es auch Mischformen und Kompromisse à la carte. Wenn es aber darum geht, den Liberalismus vom Etatismus zu unterscheiden, oder von der am meisten verbreiteten Spielart des Etatismus, dem Sozialismus, so ist es entscheidend, zu realisieren, dass in dieser Debatte nicht der eine „-ismus“ gegen den andern „-ismus“ steht, sondern Non-System gegen System, Nicht-Eingreifen als Prinzip gegen Eingreifen als Prinzip. Freiheit bedeutet die Negation von Systemen, Hierarchien und Modellen, die Bejahung des permanenten, offenen Experiments, das Ja zum mündigen Menschen, welches das Risiko des Scheiterns in Kauf nimmt.

Der Ursprung der Freiheitsidee, die meinem Verständnis von Liberalismus zugrunde liegt, kann nicht einem einzigen Kulturkreis zugewiesen werden. Auch wenn die Verdienste der Angelsachsen unbestritten sind, und die Französische Revolution für die Geschichte der Freiheit und der Menschenrechte wichtige Impulse gab (die allerdings gelegentlich überschätzt werden), haben Menschen aus allen Kulturkreisen zur Entwicklung der Freiheitsidee, die im Zentrum liberalen Denkens und Handelns steht, beigetragen. Gibt es aus dieser Sicht einen europäischen Liberalismus, einen US-amerikanischen, einen lateinamerikanischen und einen asiatischen? Oder ist der Liberalismus gar national gefärbt, gibt es einen französischen, einen italienischen, einen niederländischen, einen österreichischen einen schweizerischen und einen deutschen Liberalismus? Ohne jeden Zweifel gibt es in zeitlicher und in örtlicher Hinsicht sehr grosse Unterschiede, welche die Kommunikation unter Liberalen, sogar innerhalb der Schweiz erschweren.

Die Geschichte des Liberalismus in der Schweiz ist sehr stark lokal und regional und kantonal geprägt. Es gibt bezüglich des Liberalismusverständnisses nicht nur erhebliche Unterschiede zwischen der Liberalen Partei, der Freisinnig-Demokratischen Partei und der Schweizerischen Volkspartei, die alle zur „Liberalen Grossfamilie“ zählen, es gibt auch viele zum Teil sehr erheblichen Unterschiede zwischen den kantonalen Parteisektionen innerhalb dieser drei Landesparteien. Da unsere Parteien ja nicht nur Programme und Wahllisten aufstellen, sondern auch über die Parolen für die Abstimmungen entscheiden, kommt es ziemlich häufig vor, dass die Parolen von einzelnen Kantonalparteien von den Parolen der nationalen Parteiorganisation abweichen. Man könnte, gestützt auf diese Erfahrungen mit dem Dissens, eine Geschichte der Uneinigkeit und des Meinungspluralismus im liberalen Lager schreiben, und man würde dabei vermutlich auf zahlreiche Schwächen stossen, an welchen die liberalen Parteien (und insbesondere die Freisinnig-Demokratische Partei) heute leiden.

Im Folgenden soll aber nicht das, was uns als Liberale trennt, sondern das, was uns verbindet im Zentrum stehen: Die gemeinsame Verwurzelung im Bekenntnis zur Freiheit und in der Skepsis gegenüber allem kollektiven Zwang. Ich halte einen parteiinternen Wettbewerb um die bestmögliche Formulierung und Anwendung liberaler Ideen nicht für ein Handicap, sondern für eine Garantie für Offenheit, Lernbereitschaft und Flexibilität. Auch die Koexistenz von verschiedenen Parteien, welche liberales Gedankengut vertreten, hat mehr Vorteile als Nachteile. Eine gute Idee lebt nicht nur von der Einheitlichkeit ihrer Gefolgschaft, sondern auch von der Immunität gegenüber den jeweils modischen Irrtümern, die sie immer wieder verfälschen.

Die unterschiedlichen Bedeutungen von „liberal“

Ein gewisse terminologische Übereinkunft ist trotz der breiten ideengeschichtlichen Abstützung und dem grundsätzlichen Ja zum Pluralismus, auch zum innerparteilichen wünschenswert. Rund um den Begriff „liberal“, der alle Freiheitsfreunde verbindet, gibt es eine Vielzahl von Konfusionen. Wohlwollende Missverständnisse haben durchaus auch etwas Konstruktives, aber sie erschweren den Dialog. Wir kennen ein typisch schweizerisches Sprichwort, das die Beziehung zwischen den deutschsprachigen und den französischsprachigen Schweizern charakterisiert: „On s’ accorde bien, parce qu’on ne se connaît pas“, wir kommen gut miteinander aus, weil wir einander nicht kennen… So ist es vielleicht auch ein wenig mit den Liberalen. Uns verbindet Freundschaft und ein wohlwollendes Verständnis über das, was wir gemeinsam wollen. Das Wort „liberal“ hat fast unendlich viele Schattierungen, und in den USA bedeutet es inzwischen fast das Gegenteil von dem, was es im Deutschen und auch im Spanischen heisst. Die Amerikaner verstehen unter „liberal“ eine politische Haltung pro Etatismus und pro Interventionismus und pro Zentralismus, die „liberals“ stehen tendenziell links. In Spanien und Frankreich überwiegt das anti-klerikale Element und in Ungarn war während Jahrzehnten, wie man mir sagte, „liberal“ für viele identisch mit „jüdisch“.

Dieses terminologische Auseinanderdriften der politischen Begriffe ist ärgerlich, aber es ist keine Katastrophe. Es zwingt uns erstens immer wieder, das Risiko des Missverständnisses einzukalkulieren, damit zu rechnen, dass man möglicherweise aneinander vorbeiredet. Es ist auch aus einem zweiten Grund keine Katastrophe. Die Meinung, das Individuum oder eine homogene Gruppe wisse immer ganz genau und klar, welches die persönlichen und politischen Ziele für eine gemeinsame ungewisse Zukunft sind, ist verfehlt. Wir haben eine Mischung von Wünschen, Ahnungen und Befürchtungen, die sich mit verschiedensten Motiven überlagern, deren tiefste Beweggründe wir selbst nicht kennen, weil sie sich immer wieder wandeln. Der John Lennon zugeschriebene Satz : “Life is what happens to you, while you’re busy making other plans“, gilt oft auch in der Politik. „Politics is what happens while you’re making other programs“. Kennen wir unsere persönlichen, kennen wir unsere politischen Motive? Sicher zum Teil, sicher zum Teil auch nicht. Von La Rochefoucault stammt der kluge Hinweis: „Wir müssten uns oft unserer schönsten Taten schämen, wenn wir deren wahre Motive kennen würden.“

Politik als Kampf um Begriffe

Trotzdem ist es wichtig, immer wieder über jenen gemeinsamen Sinn nachzudenken, den wir im Liberalismus sehen. In meinem Buch zum Thema „Politische Grundbegriffe“ (Zürich 2002) habe ich dazu folgendes festgehalten: „Die Politik ist immer auch eine Auseinandersetzung um Worte, aber dahinter stecken die tatsächlichen Probleme. Übersichten können da keine definitive Klarheit schaffen, aber sie können als Orientierungshilfe dienen. Wer sich selbst aufgrund der Medien eine Meinung bilden will, muss das Wahrgenommene in einen grösseren Zusammenhang stellen können. Es ist wichtig, dass man sich immer wieder Rechenschaft ablegt, wovon man eigentlich spricht.“ Politik ist nicht nur ein Kampf mit Worten, sondern auch ein Kampf um die positive oder negative Besetzung von Begriffsinhalten. Was die 68er Linken den „langen Marsch durch die Begriffe“ nannten, ist ein zentrales Thema der Parteipolitik. Sympathische Begriffe sollen der eigenen Partei zugeordnet werden und unsympathische dem politischen Gegner. Das wohl berühmteste Beispiel ist das Adjektiv „sozial“.

Es ist positiv besetzt, denn wer möchte nicht „sozial“ sein? Den Sozialisten und Sozialdemokraten ist es gelungen, diesen Begriff für sich zu beanspruchen, obwohl es keineswegs bewiesen ist, dass die Auswirkungen sozialistischer oder sozialdemokratischer Politik wirklich sozial sind. Im Gegenteil. Es ist eine der ernüchterndsten Erkenntnisse der politischen Geschichte, dass der real existierende Sozialismus ausgerechnet jene Zustände, die er zu erreichen vorgab, nachhaltig verhinderte bzw. verzögerte: Wohlstand für alle und freiwillig praktizierte Solidarität.

Nach dem Scheitern sozialistischer Experimente bleibt in der Regel nicht nur eine ökonomische und ökologische Wüste zurück, sondern auch ein ruiniertes Sozialgefüge und ein Chaos des Misstrauens und der krassesten Egoismen. Was sich heute in vormals sozialistischen Ländern an asozialem und unethischem Verhalten manifestiert, ist nicht etwa der „Preis“ neuer Freiheiten und die Begleiterscheinung eines aufkeimenden Kapitalismus, sondern die schwere Altlast einer Doktrin, welche mit dem Ziel angetreten war, die Menschen durch Zwang und zentrale Planung gleichzeitig wohlhabender und mitfühlender zu machen. Staatlich erzwungener Sozialismus macht die Menschen asozial. Trotz dieser Erfahrungen, über die es erstaunlich wenige empirische Untersuchungen gibt, ist die Verbindung von „Sozialismus“ und „sozial“ noch fest im allgemeinen Sprachgefühl verankert, und viele Liberale fühlen sich bemüssigt zu betonen, sie seien trotz ihres Liberalismus auch noch „sozial eingestellt“. Dabei sollte die Formel lauten: „Ich bin sozial, weil ich liberal bin.“

Der Wunsch, möglichst viel Soziales an den Staat zu delegieren, beruht auf dem gefährlichen Irrtum, das Gute werde dadurch besser und das Soziale werde dadurch sozialer, dass man es allgemeinverbindlich und obligatorisch vorschreibt oder doch mindestens von Staates wegen fördert. Die Förderung einer ausgewählten Gruppe führt aber zur Diskriminierung aller Nicht-Geförderten und zerstört darum oft mehr als sie ermöglicht. Die Förderung des Guten mit Staatsmitteln muss daher sehr sorgfältig begründet werden. Die Gleichsetzung von „sozial“ und „staatlich“ und die Assoziation zwischen „sozial“ und „sozialistisch“ ist eine der folgenreichsten und für die Freiheit schädlichsten Sprachmanipulationen der letzten zwei Jahrhunderte.

Die „Liberalismusformel“

Immer wieder werde ich auch aufgefordert, den Liberalismus so kurz und so einfach wie möglich zu definieren. Hier die bisher kürzeste Fassung, als Formel, in drei Worten: „Liberalismus gleich Marktwirtschaft plus Menschenwürde“: L= M+M. Wem das zu lapidar ist, und wer mir noch ein paar Worte mehr zugesteht, dem schlage ich jeweils folgendes vor: „Marktwirtschaft plus Menschenwürde plus freiwillig praktizierte Moral“: M+M+fpM. Die Vorstellung von der Menschenwürde ist aus liberaler Sicht eng verknüpft mit der Vorstellung, dass mündige Menschen grundsätzlich in der Lage sein sollten, ihr Leben eigenständig und in Selbstverantwortung zu meistern. Eigenständigkeit ist nicht mit Einzelgängertum zu verwechseln. Die meisten Menschen neigen zur Geselligkeit und zu gemeinsam vereinbarten Lösungen in Partnerschaften und Gruppen. Entscheidend ist für eine freie Gemeinschaft, dass die Kooperation weder durch kollektiven Zwang noch durch einen zentralen Apparat gesteuert wird. Es wird immer eine Minderheit geben, welche auf Unterstützung anderer angewiesen ist. Dieser Minderheit ist so zu helfen, dass möglichst viel von ihrer Eigenständigkeit bewahrt bzw. wiederhergestellt wird und die umfassende Mündigkeit das unverrückbare Ziel bleibt. Die Liberalismusformel kann daher durch ein viertes M (für Mündigkeit) ergänzt werden. Je länger allerdings die Formel wird, desto intensiver werden die Spannungsfelder und desto mehr wächst der Erklärungs- und Interpretationsbedarf. Wer eine politisch attraktive Dreierformel sucht, sollte sich nach Alternativen zu „Freiheit, Gleichheit und Brüderlichkeit“ umsehen. Nicht dass diese Ziele nicht erstrebenswert wären. Aber man hat zur Erreichung des zweiten und dritten Ziels schon so viele Abstriche vom ersten Ziel gemacht, dass es schon fast von der Bildfläche verschwunden ist. „Offenheit, Vielfalt und Autonomie“ (im Sinn von Privatautonomie) ist weniger ambitiös und auch leichter kombinierbar.

Ich bin der Überzeugung, dass die Idee der Privatautonomie mündiger Menschen, welche bei Angeboten und Nachfragen aller Art Prinzipien wie Offenheit, Vielfalt und Freiwilligkeit ins Zentrum stellt, auch die entscheidende Grundlage des Liberalismus bildet. Ein freier Austausch materieller und immaterieller Güter setzt Privateigentum und persönliche Freiheit voraus, da man ohne Beeinträchtigung Dritter nur über das frei verfügen kann, was einem gehört. Dass Probleme, die früher mit Gewalt und Gegengewalt gelöst worden sind, aufgrund von privatautonomen Vereinbarungen friedlicher und dauerhafter lösbar werden, ist für mich eine wichtige Erkenntnis, welche an der Wurzel meines politischen Bekenntnisses liegt. Ich nehme dabei in Kauf, dass der Ausgangspunkt stets eine Art Friedensschluss unter Ungleichen ist, der auf einem gegenseitigen Verzicht beruht, möglicherweise berechtigte Ansprüche auf dem Forum der Politik einzuklagen. Vertragslösungen entsprechen selten dem Ideal einer distributiven Gerechtigkeit. In der Verteilungs- und Umverteilungsfrage von materiellen und immateriellen Gütern gibt es aber ohnehin keine objektiv besten, allgemeinverbindlich festzusetzenden Lösungen, welche alle befriedigen und jeden Grund zu Neid und Missgunst beseitigen. Mit andern Worten: Markt setzt Frieden voraus und der Preis des Friedens ist der Verzicht auf perfektionistische Gerechtigkeitsvorstellungen und eine Überwindung von Neidgefühlen.

Eine andere, prägnante Formel für die Umschreibung des liberalen Kerngehalts geht auf Ludwig von Mises zurück, dessen Werke für den Liberalismus des 20. Jahrhunderts eine herausragende Bedeutung haben: „Wo Zwang war, soll Vertrag werden“, eine Formel, die an einen Ausspruch eines anderen bedeutenden Wieners anknüpft, nämlich an Sigmund Freuds „Wo Es war, soll Ich werden.“ Damit wird die philosophisch zentrale Frage nach der Willensfreiheit gestellt.

Willensfreiheit und „Trost der Philosophie“

Es gibt keine einheitliche liberale Doktrin zum Thema Willensfreiheit. In Anlehnung an Molière kann man sagen „Es gibt solche, die dazu „Ja“ sagen (etwa Kant), es gibt solche die dazu „Nein“ sagen (etwa Hume), und ich sage (wie etwa J. St. Mill) „Ja“ und „Nein“. Für die Materialisten „bestimmt das Sein das Bewusstsein“ (etwa bei den Genen). Dies kann auch aus liberaler Sicht nicht generell bestritten werden. Für die Idealisten bestimmt aber „das Bewusstsein das Sein“, (etwa im politischen Prozess oder im Bereich der Caritas), und für die Dialektiker wirken beide Bestimmungen aufeinander ein.

Bei Marie von Ebner-Eschenbach, einer intelligenten Kennerin der menschlichen Psyche, lesen wir, dass nur wer nie geliebt und nie gehasst habe, an den freien Willen glauben könne. Bei Nietzsche finden wir zum Thema Willensfreiheit folgendes Dilemma: „Wer die Unfreiheit des Willens fühlt, ist geisteskrank, wer sie leugnet ist dumm“. Die Option fürs eine oder andere fällt in dieser Situation besonders schwer, und auch das sonst so beliebte „Sowohl-als-auch“ drängt sich hier nicht auf.

Wer weder geisteskrank noch dumm sein möchte und trotzdem an so etwas wie einen freien Willen glaubt, sucht gern nach dem „Trost der Philosophie“. Es darf doch nicht sein, dass der Mensch nur ein Spielball von verborgenen Trieben und Mächten ist. Wäre dies der Fall, so würde die ganze Konstruktion des persönlichen Einstehen-Müssens für die Folgen von Willensakten, die Verantwortung und auch die Schuld – beispielsweise bei der Verletzung von Menschenrechten – zusammenbrechen. „Gut“ und „böse“ verlören ihren moralischen Sinn und das politische Engagement würde zu einem sinnlosen Aufstand gegen die Macht des historisch- dialektischen bzw. des gottgewollten Schicksals. Freiheit als metaphysische Unabhängigkeit von Notwendigkeiten physikalischer und biologischer Art ist den Menschen nicht gegeben. Wir dürfen und sollen uns aber in ethischer Hinsicht die Fähigkeit des Willens gegenseitig zumuten, mit vernünftigen Motiven andere Antriebe zu beeinflussen. Wir können auch in psychologischer Hinsicht davon ausgehen, dass es eine Freiheit gibt, zwischen verschiedenen möglichen Handlungen zu entscheiden.

Widerstandsrecht und Gruppenautonomie

Widerstand allein genügt aber nicht um gleichzeitig Freiheit und Menschenwürde zu schützen. Dies kommt im Gründungsmythos der Schweiz besonders deutlich zum Ausdruck. Friedrich Schiller weist in seinem „Wilhelm Tell“ auf den engen Zusammenhang zwischen Widerstand und Gemeinschaft hin. Tell erschiesst den Tyrannen Gessler und wird zum Inbegriff des gerechtfertigten Tyrannenmörders. Man hat oft die Geburtsstunde der Freiheit mit dem Tyrannenmord und dem Widerstandsrecht gleichgesetzt, und auch in diesem Artikel wurde die Bedeutung der Dissidenz und des Nein-Sagens stark betont. Dies ist aber nur die Hälfte der politischen Befreiung. Wer sich vom Tyrannen befreit, steht nachher vor dem Problem, gemeinsame Probleme gemeinsam beweglich zu lösen. Rechte – auch Menschenrechte – müssen nicht nur durch die Bedrohung durch Tyrannen geschützt werden, sondern als Aufgabe der Gemeinschaft, in der sich auch eine Tyrannei der Mehrheit etablieren kann. Es muss ein Minimum an politischen Zwangsstrukturen geschaffen werden, welche die Ordnung gewährleisten und die gemeinsame Verteidigung dieser Ordnung sicherstellen. Es muss auch eine Grenze für die Regierungsstrukturen dieser inneren Ordnung fixiert werden. All das haben – und dies ist nicht nur mythisch sondern auch historisch – die auf der Waldwiese „Rütli“ versammelten Eidgenossen beschlossen, beschworen und verbrieft. Daraus folgt eine weitere, allerdings nicht ohne diese Vorbemerkungen verständliche Definition von Liberalismus, ebenfalls in drei Worten: „Tell plus Rütli“, Widerstand gegen fremdbestimmende Mächte in Verbindung mit der Bereitschaft zur Einordnung in eine freie Gemeinschaft.

Tell symbolisiert das Konzept der negativen Freiheit, die Eidgenossen auf dem Rütli symbolisieren die Notwendigkeit, sich ein gemeinsames positives Programm zu geben, je kleiner desto besser, der Bundesbrief von 1291 ist ein Dokument im „folio“ Format. Ich könnte sehr gut damit leben, wenn der Vertrag von Maastricht denselben Umfang hätte. Ich bestreite nicht, dass die Formulierung eines positiven Konzepts, das die Menschen zur Freiheit führt und zur Freiheit befähigt, eine wichtige Sache ist. Nur ist es sehr schwierig, darüber einen dauerhaften Konsens zu finden. Wer weiss denn wirklich und mit dem Anspruch auf Universalität, was den mündigen Menschen ausmacht? Ich meine, dass es darüber einen Wettbewerb geben muss, nicht nur einen Wettbewerb zwischen Firmen, sondern auch einen Wettbewerb der verschiedenen Ordnungsvorstellungen bis hinunter zu den kleinen und kleinsten Gruppierungen.

Warum diese formelhaften, historisierenden und zaghaft relativierenden Bemerkungen, jetzt, wo wir doch alle erwartungsvoll in die Zukunft blicken? Weil es einfach leichter ist, sich darüber zu einigen, was man gemeinsam nicht will, als über die positiven Inhalte der individuellen, der ökonomischen, kulturellen und politischen Zielsetzungen, die sich eben nach Ort und Zeit verändern. Gerade weil heute vieles im Fluss ist, gewinnen politische Konzeptionen an Bedeutung, welche offen sind für die Adaptation an Ort und Zeit und nur ein Minimum an gemeinsamen Zielen festlegen: die negative Freiheit, die Freiheit von Zwang, Willkür und Bevormundung. Eine Zivilgesellschaft, die auf einem Netzwerk individueller und einvernehmlich änderbarer Verträge basiert, ist immuner, kreativer und anpassungsfähiger als eine Gesellschaft, die einen geschlossenen Kanon geltender Zwangsnormen beschliesst, selbst wenn dieser dem neuesten Stand des sozialwissenschaftlichen Irrtums entspricht und von einer Mehrheit akzeptiert wird. Die Zukunft gehört dem Netzwerk der Privatautonomie und nicht der Hierarchie nationaler und internationaler oder gar globaler Normensysteme. Dieses Netzwerk ist voll von kleinen Irrtümern, aber es vermeidet den grossen kollektiven und möglicherweise tödlichen Irrtum, der doch so gut gemeint war.

Vom Stellenwert non-zentraler Experimente

Die Meinung, Grundwerte wie Freiheit, Recht und Gemeinschaft seien in einer Welt, die sich wandelt, auch immer wieder neu gemeinsam und allgemeinverbindlich zu definieren, ist meines Erachtens verfehlt. Wir stehen weder „am Anfang“ noch „am Ende“, wenn wir aber die Herausforderungen einer Gesellschaft freier und mündiger Menschen vor Augen haben, so steht die Vorstellung, wir befänden uns einer Frühzeit näher als der immer wieder beschworenen Spätzeit-Stimmung, verbunden mit der pessimistischen Voraussage eines Untergangs der abendländischen Zivilisation. Der Fundus an menschheitsgeschichtlichen Erfahrungen bildet auch in den kommenden Jahren und Jahrzehnten die Basis des grundsatztreuen Politisierens. Liberalismus ist seinem Wesen nach wertkonservativ, möchte aber die jeweiligen Strukturen und Institutionen den jeweiligen Erfordernissen der Zeit anpassen und zwar nicht aufgrund objektiver Erkenntnisse, sondern aufgrund von vielfältigen friedlich konkurrierenden Experimenten, bei denen man die Erfolgreichen kopiert und von den Nicht-Erfolgreichen als abschreckende Beispiele lernt. Wir dürfen als Liberale der Empirie vertrauen. Wir sollten nicht dauernd die politisch-moralische Frage stellen: „Is it just?“ sondern die Frage: „Does it work?“. Was nicht funktioniert, kann nämlich auch nicht nützlich, nicht gut, und damit auch nicht gerecht sein. Um herauszufinden, was funktioniert, brauchen wir aber den Mut zu Experimenten, nicht zu grossen, weil sonst das Risiko steigt, nicht zu kleinen, weil sonst die Kosten des Scheiterns von allzu wenigen getragen werden müssen. Die Idee der Non-Zentralität, der vielfältigen Experimente, die sich nach Ort und Zeit unterscheiden, wird für mich immer zentraler. Also soll jeder für sich ein wenig experimentieren? Nein! Das Interessante ist ja gerade der Erfahrungs- und Meinungsaustausch über Experimente. Wir sollten als Liberale nicht versuchen, über alles Inhaltliche, Programmatische einig zu werden. Die Freiheit ist weltweit in verschiedenster Hinsicht, zeitlich und örtlich unterschiedlich gefährdet, aber es ist immer dieselbe Freiheit. Versuchen wir ein Netzwerk des Erfahrungsaustausches zu betreiben, in welchem wir alle von unseren Verschiedenheiten verschiedenes lernen können. Für jeden ist etwas anderes nützlich und wichtig.

Freiheit und Menschenwürde und freiwillig praktizierte Moral unter mündigen Menschen haben in einer Welt, deren ökonomische und soziale Strukturen einem starken Wandel unterworfen sind, einen bleibenden Stellenwert. Sie sind die Kompassnadel, welche die allgemeine Richtung angibt, ohne die Anmassung, gleich alle konkreten Einzelfragen allgemeinverbindlich beantworten zu können. Deregulierung wird sehr häufig mit einer „Entfesselung der Marktkräfte“ gleichgesetzt, welche die Ungleichheit fördere und die sogenannte „Schere zwischen arm und reich“ noch mehr öffne und damit den sozialen Frieden gefährde. Es kann nicht bestritten werden, dass die Deregulierung des Welthandels, die man auch Globalisierung nennt, die Ungleichheiten zwischen reichen und armen Ländern verschärft hat. Nur: Ist eine Rückkehr zur Regulierung, ist eine Reregulierung oder Umregulierung, eine Aufteilung der Welt in Blöcke, ein gangbarer Weg, um das Problem der zunehmenden Ungleichheit zu lösen, und sind die Armen absolut gesehen ärmer geworden, oder nur in Relation zu den Reicheren?

Leben die Reichen auf Kosten der Armen?

Das Bild von der Schere ist in zweierlei Hinsicht problematisch. Einmal suggeriert es ein Bild vom Wirtschaftsprozess, das nachweisbar unzutreffend ist. Eine auf Austausch und Arbeitsteilung beruhende Wirtschaft ist kein Nullsummenspiel, bei dem die einen nur das gewinnen können, was die andern verlieren. Das Reichwerden der einen ist nicht notwendigerweise verknüpft mit dem Armwerden der andern. Die Reichen werden zwar reicher – zum Teil viel reicher und schnell reicher – aber die Armen werden auch reicher, möglicherweise zu langsam und zu wenig nachhaltig und mit zu vielen Ausnahmen.

Die Gründe dafür sind zu erforschen und man muss darüber ohne Voreingenommenheit und Vorurteile nachdenken und diskutieren. Irreführende Modelle und Bilder und einseitig interpretierte Statistiken helfen dabei nicht weiter, und es gilt auch hier: „Das gute Herz allein genügt nicht“. Es gibt viele Hinweise darauf, dass die Versuche, „arm“ und „reich“ durch Umverteilung anzugleichen zwar gut gemeint sind, schliesslich aber zum Schaden aller in einer Reduktion und Lähmung der wirtschaftlichen Produktivität enden, unter denen alle, und speziell die Ärmsten, zu leiden haben. Das Gegenteil des Guten ist in der Politik nicht selten das Gut-Gemeinte. Das gilt sowohl im internationalen als auch im nationalen Rahmen. Die Forderung der Deregulierung ist nicht einfach von den Industriestaaten oder von reichen Unternehmern erhoben worden, welche für sich selbst mehr Gewinne wollten, sondern auch von Fachleuten, welche zur Einsicht kamen, dass die Regulierung, vor allem im Bereich der Umverteilung nach dem Prinzip „den Reichen wegnehmen und den Armen geben“ jene Ziele nicht erreicht, welche sie den Ärmeren verspricht. Neid ist auch in der Politik ein schlechter Ratgeber, die Frage nach der „gerechten Verteilung“ lässt sich auch beim besten Willen nie befriedigend beantworten. Wenn man unabhängig vom Leistungs- und Knappheitsprinzip nach politischen Kriterien Mittel verteilt und umverteilt, setzt man nicht nur fragwürdige An- und Abreize, sondern begünstigt die Korruption im Netz zwischen Funktionären und Begünstigten. Insgesamt sinkt die Produktivität, und der „Kuchen“, den es zu verteilen, bzw. umzuverteilen gibt, wird immer kleiner.

Die Deregulierung ist ein politischer Prozess, der sich sowohl innerhalb eines Staates oder einer Staatengemeinschaft als auch zwischen den Staaten und grossen Wirtschaftsregionen der Welt abspielt. Das Problem des Ausgleichs zwischen „arm“ und „reich“ wird innerhalb von Staaten unter dem Stichwort Umverteilung, Ausbau, Abbau oder Umbau des Wohlfahrts- bzw. Sozialstaats abgehandelt, während man auf globaler Ebene eher von Entwicklungspolitik, von Drittweltpolitik oder von „Solidarität mit den Ärmsten der Welt“ spricht. Dahinter stecken zum Teil vergleichbare, zum Teil sehr unterschiedliche Probleme. Der unregulierte Markt bewirkt eine Verstärkung der Ungleichheit indem er den wirtschaftlich Erfolgreichen ihren Anteil am Erfolg belässt und den Nicht-Erfolgreichen grundsätzlich keine Dauerförderung oder Unterstützung durch Staatsmittel in Aussicht stellt, sondern höchstens „Hilfe zur Selbsthilfe“. Um es auf eine einfache Formel zu bringen: Auf offenen Märkten werden die Reichen reicher und die Armen schneller reich.

Wer nur die zunehmende Ungleichheit beobachtet und misst, verkennt nämlich einige wesentliche Zusammenhänge, die sich bei einer Deregulierung auch zugunsten der Ärmeren auswirken. Gerade die Ärmsten haben auf offenen Märkten eine reelle Chance, aus der Armutsspirale auszubrechen und teilzunehmen an der weltweiten durch Technologie und Arbeitsteilung bewirkten Produktivitätssteigerung.

Drei politische Zauberbegriffe werden oft in einem zu positiven Licht gesehen: Das Fördern, das Umverteilen im Hinblick auf einen „sozialen und regionalen Ausgleich“ und das Helfen. Alle drei Aktivitäten haben auch ihre Schattenseiten, vor allem, wenn der Staat oder grössere Staatengemeinschaften durch Regulierungen als „Förderer“, „Umverteiler“ und „Helfer“ auftreten. Im Bereich der Entwicklungspolitik hat man inzwischen die Erfahrung gemacht, dass gut gemeinte Hilfsprogramme alte Abhängigkeiten verschärfen und neue Abhängigkeiten schaffen und nicht selten das Grundproblem der Armut verewigen, statt es zu lösen oder lösbarer zu machen. Darum ist der Grundsatz “Trade not Aid“ d.h. „Offener Handel statt Entwicklungshilfe“ eigentlich im Umfeld der Entwicklungspolitik kaum mehr grundsätzlich umstritten, sondern nur noch in der konkreten Ausgestaltung und schrittweisen „Abfederung“. Im Rahmen der innerstaatlich und innereuropäisch regulierten Wirtschafts- und Sozialpolitik werden die Schattenseiten von Hilfs- und Förderprogrammen noch zu wenig thematisiert. Auch dort ist die interpersonelle und die interregionale Umverteilung zwar oft „gut gemeint“ und politisch populär, aber in ihrer mittel- und langfristigen Auswirkung im wahrsten Sinne des Wortes kontraproduktiv.

Perspektiven liberaler Politik

Es gibt für die liberale Politik der Zukunft keine magische Formel. Die Voraussage, die heute vorhandenen Strukturen würden früher oder später unter dem Druck zunehmender Komplexität, dem immer grösseren Problemstau, dem Schwund der Legitimität, der Schuldenkrise und dem Unbezahlbar-Werden wohlfahrtsstaatlicher Ansprüche zusammenbrechen, und dies sei dann der Moment, um mit einem radikalliberalen Programm eine neue Ära einzuleiten, erinnert allzu sehr an ein apokalyptisches Katastrophenszenario. Das „Warten auf den grossen Umbruch“ entspricht nicht der schweizerischen Mentalität. Aufgrund unserer Geschichte und angesichts des etablierten politischen Systems glaubt man in der Schweiz eher an die Möglichkeit einer schrittweisen Verbesserung und hält wenig von der grossen Hoffnung auf den Anbruch einer „Neuen Zeit“. Der politische Gradualismus lebt von der Inkaufnahme von Kompromissen. Er nährt sich von der Erfahrung, dass man auch in der Politik mit zweit- und drittbesten Lösungen zufrieden sein muss, wenn die beste nicht zu haben ist. Dies bedeutet allerdings nicht, dass man Kompromisse schon in einem frühen Stadium antizipieren müsste.

Es gibt heute aber eine Reihe von Problemen, die mit grosser Wahrscheinlichkeit durch eine Strategie des Ausbesserns und Flickens nicht mehr lösbar sind. Im Zentrum steht dabei die kollektive Altersversorgung, welche aufgrund der demographischen Entwicklung neue Lösungen notwendig macht und ein langfristiges radikales Sanierungsprogramm erfordert. Anstelle einer Lösung, bei der mit stark umverteilenden Mechanismen, grundsätzlich alle an alle zahlen, sollte nach dem Muster der „Ergänzungsleistungen“ ein kollektives Auffangnetz für die 10 bis höchstens 20 Prozent wirklich Bedürftigen geschaffen werden. Für das Gros der Bevölkerung ist die staatliche Bevormundung bei der finanziellen Lebensplanung längerfristig schrittweise aufzuheben, ohne dass dadurch wohlerworbene Rechte verletzt werden.

Die gesamte steuerfinanzierte Infrastruktur, insbesondere im Bereich der Erziehung, der Gesundheit und der Kommunikation ist schrittweise in die Benutzerfinanzierung überzuführen, wobei es durchaus möglich ist, dass öffentliche Betriebe als Anbieter mit Privaten konkurrieren. „Benutzerfinanzierung“ ist das präzisere und tauglichere Programm als „Privatisierung“, obwohl die beiden Programme natürlich zusammenhängen und optimal kombinierbar sind. Wer als Benutzer/Bürger lebenswichtige Dienstleistungen nicht selbst finanzieren bzw. nicht selbst versichern kann, ist – gegen Bedürftigkeitsnachweis – durch staatliche Subjekthilfe zu unterstützen. Diese sollte möglichst auf lokaler Ebene organisiert sein. In einer Dienstleistungsgesellschaft entstehen im Bildungswesen, im Gesundheitswesen sowie im Bereich der Erholung, der Kultur und der Unterhaltung eine unabsehbare Fülle von neuen und individuell unterschiedlichen Bedürfnissen und Nachfragen, welche weit über das hinausgehen, was der traditionelle „Service public“ sinnvollerweise bereitstellen und finanzieren kann. Die sogenannte „Kostenexplosion“ in diesen Bereichen signalisiert eigentlich nur, dass es sich sowohl ökonomisch als auch politisch rächt, wenn man in entscheidenden Bereichen des Lebens den Preismechanismus ausschaltet und eine Art von ineffizienter Planwirtschaft betreibt, welche Dienstleistungen und Güter rationieren und plafonieren muss, die aufgrund der Nachfrage eigentlich zu Wachstumsbranchen werden könnten und sollten.

Eine solche langfristige Perspektive des geordneten Rückzugs aus steuerfinanzierten wohlfahrtsstaatlichen Fehlstrukturen und einer schrittweisen, sozial abgefederten Entlassung in den Markt, lässt sich mit dem – nach wie vor zutreffenden, aber zu wenig aussagekräftigen – Slogan „Weniger Staat“ nicht bewältigen. Es müssen auch taugliche Alternativen zur staatlichen Trägerschaft entwickelt werden. Der Hinweis auf das „Laissez-faire“ allein genügt nicht. Es muss auch die Frage beantwortet werden, wer und was denn in welcher Weise und innert welcher Frist an die Stelle des Staates treten soll. Mit andern Worten: Wie verwandelt man den „Service public“ in einen „Service au public“, d.h. in einen Dienst an der Kundschaft, ohne dass dabei unerträgliche soziale Spannungen entstehen und ohne dass in der Folge ein Bevölkerungssegment aus finanziellen Gründen in unzumutbarer Weise unterversorgt bleibt. Für die Strategie des geordneten Rückzugs, die man etwas optimistischer auch als „Aufbruch in die richtige Richtung“ oder – etwas polemischer – als „Entziehungskur“ deuten kann, gibt es kein Patentrezept.

Tatsächlich hängt der Erfolg einer liberalen Politik davon ab, ob es gelingt, drei „Fallen“ zu vermeiden, die alle mit dem Buchstaben P beginnen: Pessimismus, Perfektionismus und Privatismus. Der Pessimismus verleitet zur Vorschusskapitulation und zur Resignation, zwei Reaktionsweisen, die jedes politische Engagement im Keim ersticken. Pessimisten überlassen die politische Bühne jenen Gegnern, die – aus welchen Gründen auch immer – optimistischere Programme propagieren. Der Perfektionismus bindet alle Energien, die man für Sinnvolleres brauchen würde. Er lähmt die unternehmerische Initiative vor allem dann, wenn er sich am Prinzip der Gleichheit und der Gerechtigkeit profiliert. Das erste Ziel ist aus liberaler Sicht gar nicht erwünscht, das zweite bleibt –¬ in Perfektion – stets utopisch und ist seinem Wesen nach in einer pluralistischen Gesellschaft ohnehin nie konsensfähig. Der Privatismus beruht auf einem individuellen Rückzug ins Private (nach dem Motto: ich kümmere mich nur um meine Probleme). Dies ist eine aus liberaler Sicht zulässige Option. Wenn der Privatismus aber zur allgemeinen Maxime wird, verschwindet jener bürgerliche Gemeinsinn, den es zur freiwilligen Übernahme sozialer und kultureller Aufgaben braucht, und ohne den jeder Rückzug aus der staatlich finanzierten Infrastruktur – mindestens temporär – eine Wüste der Unterversorgung entstehen liesse.


*Dieser Beitrag ist für die 100-Jahrfeier der Tessiner Freisinnigen in Zürich (2004) verfasst worden. Der Autor hat darin mehrere Passagen aus früheren Texten integriert.

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