(NZZ – ZÜRICH UND REGION – Donnerstag, 18. März 2004, Seite 53)
Gespräch mit Robert Nef, Leiter des Liberalen Instituts
Das in Zürich domizilierte Liberale Institut feiert heute sein 25-jähriges Bestehen. Leiter des Instituts ist seit dessen Gründung der St. Galler Jurist Robert Nef. Im folgenden Gespräch äussert er sich zum inflationär verwendeten Begriff «liberal», zum Zustand des Freisinns und zur Zukunft des Liberalen Instituts. Die Fragen stellte Pascal Ihle.
Herr Nef, heute ist das Wort «liberal» fast in jedem Lebensbereich anzutreffen, in Politik und Wirtschaft, in Kultur, Gesellschaft und Sport. Wurde der Begriff verwässert?
Robert Nef: Das Wort «liberal» ist ein positiv besetzter Begriff, der seit Mitte des 19. Jahrhunderts die fortschrittlich denkenden Menschen charakterisiert. Es hat aber im letzten Jahrzehnt tatsächlich eine Verwässerung stattgefunden. Liberal steht generell für Offenheit. Zudem gibt es keine internationale Sprachregelung. In den USA werden die etatistischen Linken als «liberals» bezeichnet. In Europa befürworten Liberale die Marktwirtschaft und die Freiheitsrechte.
«L gleich dreimal M»
Hat der Begriff «liberal» ausgedient?
Ich habe mich öfters gefragt, ob wir den Kampf aufgeben sollen, da der Begriff in die Bedeutungslosigkeit zu entgleiten droht. Dann erinnere ich mich an den Ursprung des Worts: Mit «Liberi» wurden die erbberechtigten Kinder von Freien bezeichnet. Das ist doch eine schöne Wurzel: Kinder weisen in die Zukunft, und mit Erbe drückt man die Bindung an kulturelle Werte aus, die man erhalten möchte. Deshalb bin ich der Meinung, dass wir trotz allen Verwässerungsgefahren am Wort «liberal» festhalten sollen. Der Erklärungsbedarf ist nämlich auch eine Chance für die heterogene liberale Familie. Zwischen den beiden ideengeschichtlichen Stämmen des Liberalismus, etwa jenem von Jeremy Bentham, für den die negativen Freiheitsrechte im Zentrum standen (Freiheit vom Staat), und jenem des späteren John Stuart Mill, der dem Staat eine aktive Rolle bei der Freiheitsvermittlung zugestand (Freiheit durch den Staat), muss ein kontinuierlicher Dialog, ein konstruktiver Austausch stattfinden.
Wie würden Sie den Liberalismus definieren?
Ich selbst gehe von der negativen Freiheit aus und habe eine griffige Formelgefunden: L gleich dreimal M. Das heisst, mit dem Liberalismus untrennbar verbunden sind der Markt, die Mündigkeit und die Menschenwürde. Ohne Menschenwürde verkäme der Markt zu einem reinen Egotrip. Ein Liberaler ist grundsätzlich skeptisch gegenüber dem Staat und seinen Interventionen.
Interessieren solch philosophische Gedankengänge in unserer Zeit überhaupt noch? Schlagworte, pfannenfertige Rezepte und Meinungsumfragen sind gefragter denn je . . .
Das stimmt. Solche Überlegungen interessieren nur wenige Leute. Doch bin ich der Meinung, dass die politische Wirklichkeit auch von Ideen gestaltet wird. Es müssen nicht viele Leute sein, die sich damit befassen. Die Elite sollte aber in der Lage sein, diese Ideen zu erklären und zu kommunizieren.
Kritik am etatistischen Sozialismus
Offenbar hat der dem Liberalismus verpflichtete Freisinn das liberale Gedankengut politisch nicht fruchtbar umsetzen können . . .
Die Politik ist stets eine Mischung aus Ideen und Interessen. Der Appell an die Selbstverantwortung bürdet dem Einzelnen auch Risiken auf, die nicht populär sind. Die Gegenseite, der etatistische Sozialismus, predigt: «Der Wohlfahrtsstaat nimmt dir die Sorgen um das Wohlergehen deiner Mitmenschen ab.» In diesem Sinne hat der Wohlfahrtsstaat etwas finanziell und psychologisch Entlastendes. Wir delegieren die Mitmenschlichkeitskomponenten an den Staat, bezahlen den Preis über die Steuern und verlieren als Gesellschaft die Fähigkeit und Bereitschaft, die echten Bedürfnisse der anderen zu erkennen.
Sie unterstellen also der «Gegenseite», die menschlichen Bedürfnisse nicht mehr zu erkennen?
Ja. Die grösste Leistung des Sozialismus war, dass er den Begriff «sozial» für sich gepachtet und gleichzeitig den Egoismus des Anspruchsdenkens kultiviert hat. Der Sozialismus hat den Individuen den verheissenen Wohlstand nicht gebracht und der Gesellschaft die Solidarität von Mensch zu Mensch abgewöhnt. Ich bin überzeugt, wenn wir die drei M – Markt, Mündigkeit und Menschenwürde – langfristig ins Zentrum der Gesellschaftsordnung stellen, dann werden die Armen und Bedürftigen durch das Sozialkapital, das kollektive Gut, zu dem auch die Instinkte gehören, getragen. Liberalismus ist auf die Dauer sozialer als Sozialismus.
Kommen wir zurück zum Freisinn. Welches sind Ihrer Meinung nach die Gründe für den lamentablen Zustand, in dem sich die FDP derzeit befindet?
Ich kann nur Vermutungen anstellen. Erstens entstehen die Parteiprogramme im Widerspruch zwischen den Ideen und dem Marketing. Welche Anliegen lassen sich gut kommunizieren, welche nicht? Und alle vier Jahre ertönt im Hinblick auf die Wahlen der Ruf nach einem Neuanfang, so dass eine inhaltliche Kontinuität nicht immer gewährleistet ist. Zweitens hat die FDP in den neunziger Jahren sozialpolitische und grüne Konzessionen gemacht und damit zur Verwohlfahrtsstaatlichung beigetragen. Dies war stimm- und wahltaktisch wohl richtig, hat die liberalen Ideen aber verwässert.
Welche Möglichkeiten sehen Sie, damit die FDP auf den Pfad des Erfolgs zurückfindet?
Zunächst sollte man sich bewusst sein, dass der Liberalismus nie majoritär sein wird. In unserer Familie sollte ein permanenter Austausch von Ideen stattfinden. Der interne Pluralismus, der der FDP vorgeworfen wird, ist kein Fehler. In Bezug auf die Europapolitik und den EU-Beitritt weiss man noch nicht, welche Lösung für die Schweiz die richtige sein wird. Deshalb ist es wichtig, dass sich der Freisinn intern konstruktiv mit der Frage auseinandersetzt und die Argumente sorgfältig abwägt. Anstelle des Dogmatismus, der in anderen Parteien im Vormarsch ist, sollte ein offener Dialog möglich sein. Ich bin überzeugt, dass diese Einstellung von einer liberal denkenden Wählerschaft gutgeheissen wird, die weiss, dass sich Probleme nicht nur mit Slogans lösen lassen. Die FDP muss hierzu aber eine eigene Terminologie prägen und sich diese nicht von aussen, namentlich von den Medien diktieren lassen wie beispielsweise die grob simplifizierende Unterscheidung in Wirtschafts- und Sozialliberale oder in die unsäglich dumme Bezeichnung «Stahlhelmfraktion».
Unerwartete Bekanntheit
Welches ist der politische und gesellschaftliche Einfluss des Liberalen Instituts?
Ich nehme heute mit Freude zur Kenntnis, dass das Liberale Institut in einer breiteren Öffentlichkeit zunehmend Aufmerksamkeit findet, und zwar im Zusammenhang mit der Annäherung zwischen FDP und SVP und der Rolle Blochers im Bundesrat. Solche personellen Fragen interessieren mich aber nicht in erster Linie. Mir geht es um liberale Ideen, um den Liberalismus. Diesbezüglich hat das Institut gewisse Mentalitäten und Überzeugungen verstärkt. Das Institut hat auch versucht, Liberale auf ihrem Weg zu begleiten und ihnen zu helfen, unpopuläre, unbequeme Tatsachen und Erkenntnisse auszustehen. Stolz bin ich auch auf die Formulierung «Mehr Freiheit, weniger Staat», die ein urliberales Anliegen ist und die ich geprägt habe.
Sie sind seit der Gründung der Leiter und die Seele des Liberalen Instituts. Was passiert nach Ihrer Pensionierung?
Vielleicht war das Liberale Institut zu stark mit meiner Person liiert, so dass es für meine Nachfolge schwierig sein wird, es so weiterzuführen wie bisher. Ich denke, wir müssen das Institut stärker auf das Internet ausrichten, denn ich sehe, wie aktiv die internationale Liberalismus-Gemeinde in den Chatrooms ist, wie meine Artikel sofort auf Resonanz stossen und wie lebhaft und anregend der Austausch dort ist. Als das Institut vor 25 Jahren gegründet wurde, wusste noch niemand, dass der erste liberale Think-Tank der Schweiz entstand. Wir haben uns gewandelt, ohne von unserem Ziel abzurücken, und dieser Wandel wird auch die Zukunft prägen. Neue Personen müssen einen neuen Stil finden, der zu ihnen und zu neuen Kommunikationsformen passt. Ich bin überzeugt, dass das Liberale Institut eine Zukunft hat, aber ich kann und will sie nicht determinieren.
25 Jahre Liberales Institut
pi. In einem knarrenden Dachgeschoss an der Zürcher Vogelsangstrasse 52 ist das Liberale Institut untergebracht. Das mit Büchern voll gestopfte Büro des Leiters Robert Nef erinnert eher an eine Gelehrtenstube als an einen trendigen Think-Tank. Das privat finanzierte Institut wurde vor 25 Jahren von vier jungen Freisinnigen, von Lili Nabholz, Thomas Wagner, Walter Blum und Ulrich Pfister, mit dem Ziel gegründet, die freiheitlichen Ideen weiterzuentwickeln und zu verbreiten. Das Institut, das heute einer der ältesten Think-Tanks der Schweiz ist, hält sich bewusst von der Parteipolitik und ihren Kontroversen fern; es befasst sich mit grundlegenden politischen Fragen der Gegenwart und der Zukunft. Sprachrohr des Instituts ist die Publikation «Reflexion» mit Aufsätzen zu Staat und Liberalismus. Daneben hält Nef, der von zwei Teilzeitangestellten unterstützt wird, im In- wie im Ausland Referate, unterstützt Forschungsprojekte, veranstaltet Podien, ist Mitherausgeber der «Schweizerischen Monatshefte» und ein anregender, die Kontroversen nicht scheuender Gesprächspartner, der immer radikaler werde, wie er lachend bemerkt.